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Kleine philosophische Lektionen VII

14.09.2014

Reductio ad absurdum (2), Menschenfeindschaft, ethischer Grund der Wahrheit, Lüge

Du setzt dich ans Lenkrad des Autos, das dein Freund dir geliehen hat; ohne Zögern betätigst du den Anlasser und gibst Gas, auch wähnst du dich nicht in der Gefahr, die Bremsen könnten versagen. Du vertraust darauf, dass dich dein Freund nicht einer Maschine überlässt, die voll gefährlicher Mucken und Tücken steckt; du zählst auf die Zuverlässigkeit des anderen. Wenn du alle Eventualitäten bei dem Gebrauch einer dir anvertrauten Maschine oder eines aus dem Markt erstandenen Werkzeugs durch minutiöseste und skrupulöseste Prüfungen auszuschalten für nötig erachtetest, würdest du keinen Meter vorankommen und schließlich unverrichteter Dinge vor dich hinstarren.

Du setzt beherzt den Fuß auf den Zebrastreifen, auch wenn in einiger Entfernung ein Wagen oder ein Fahrradfahrer sich der Kreuzung nähert; du zählst auf die Rücksichtnahme und rücksichtsvolle Aufmerksamkeit von Autofahrer und Fahrradfahrer. Wenn du alle Unwägbarkeiten deines nächsten Schrittes in Betracht zu ziehen dich genötigt fändest, würdest du keinen Schritt weiterkommen und auf dem Fleck erstarren.

Du vertraust auf die Echtheit des Geldes, das man dir herausgibt. Wärest du von unheilbarem Misstrauen hinsichtlich der Echtheit aller dir dargebotenen Scheine und Münzen vergiftet, müsstest du aus dem Markt der Güter und des Verbrauches ausscheiden und am Ende körperlich zugrundegehen.

Du zählst auf das Wort, das der andere dir gibt. Wärest du von unheilbarem Misstrauen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit und Redlichkeit all deiner Mitmenschen vergiftet und sähest in jedem nur den Lügner, Betrüger und Aufschneider, müsstest du aus der Gemeinschaft der Rede ausscheiden und am Ende seelisch zugrundegehen.

Der Menschenfeind ist sowohl unvernünftig wie bösartig: Er verweigert aus Hass oder Trotz, aus Wut oder Verzweiflung die Teilnahme am menschlich-allzumenschlichen Sein, in dem uns die gemeinsamen Maßstäbe der Metrik und der Ethik bereitliegen – und durch treuhänderisch gepflegte Traditionen von Generation zu Generation übermittel werden. Sicher finden wir zu neuen Ländern neue Wege; indes müssen auch die neuen Maße zu den neu zu vermessenden Sachen passen wie der richtige Handschuh zur richtigen Hand.

Weil der Misanthrop aus missverstandener Ehre nicht alles selbstherrlich dekretieren kann und sich durch Maßgaben und Gebote gedemütigt fühlt, die er nicht selbst erschaffen hat, verwirft er alles menschliche Maß und den ethischen Grund der Wahrheit, er versteigt sich ins Dämonische und Übermenschliche – von wo man ihn am Ende als hilfloses Bündel voller Ängste und Wahnvorstellungen ärztlicher Fürsorge übergeben muss.

Wer lügt, muss vorgeben, die Wahrheit zu sagen. Darin zeigt sich der ethische Grund der Wahrheit.

Wer lügt und den Sprechakt der Lüge mit den Worten „Was ich jetzt sage, ist eine Lüge“ einleitete, würde die Absicht zu lügen zunichtemachen – denn ihm würde nicht geglaubt. Darin erweist es sich, dass das genuine Ziel der Rede darin besteht, den Hörer dahin zu bringen, das Mitgeteilte zu glauben – das Gehörte zu glauben aber setzt voraus, es als wahr anzunehmen.

Prämisse 1:
„Was ich im Folgenden sage, ist eine Lüge.“

Prämisse 2:
„Ich kenne das todsichere Rezept für ein Glück ohne Reue.“

Folgerung:
„Ich behaupte, das todsichere Rezept für ein Glück ohne Reue zu kennen, kenne es aber nicht.“

Wenn Prämisse 2 aufgrund von Prämisse 1 unwahr ist, folgt daraus, dass der Sprecher im Gegensatz zu seiner Behauptung das, was er zu wissen vorgibt, in Wahrheit nicht weiß.

Lügen beruht demgemäß auf der absichtsvollen und also tückischen Verschleierung der Inkonsistenz der Annahmen des Lügners. Die Lüge ist moralisch verwerflich, weil sie das genuine Ziel der menschlichen Rede verwirft und verfehlt und den Hörer absichtsvoll in die Irre führt – dabei und dadurch kann er in vielfachem Sinne vom Wege abkommen.

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