Kleine philosophische Lektionen IX
Konsistenz
Manche meinen, die Forderung der Nicht-Widersprüchlichkeit unserer Annahmen, danach, dass wir nicht etwas glauben und gleichzeitig sein Gegenteil annehmen sollen, sei der Auswuchs trockener Seelen oder seelenloser Pedanten. Diese Auffassung ist das Gegenteil der Wahrheit. Denn Konsistenz in unserem Denken, Wollen und Tun ist der Humus des Lebens, ohne den wir nicht aufwachsen und nicht Blüten treiben können.
Wenn du, aufmerksam geworden durch sein verdächtiges Tun und Treiben, aus bestimmten Beobachtungen zu dem richtigen Schluss gekommen bist, deinem Nachbarn sei nicht zu trauen und er führe etwas gegen dich im Schilde, du aber andererseits diese wahre Annahme wie ein Atoll der Südsee vom Festland deines Alltags fernhältst, des Alltags, der geprägt ist vom alteingewachsenen Zutrauen zu deinem Nachbarn, den du dir einmal in frühen Jahren zum Freund gewonnen hattest, wenn auch über die Zeit die Bande zwischen euch schwächer wurden – läufst du aufgrund dieser Inkonsistenz deiner Annahmen über den wahren Charakter deines Nachbarn Gefahr, in die Falle zu tappen und dermaleinst von ihm übel behandelt zu werden.
Ein rechtes Leben „lebt aus der Wahrheit“, wenn es bisweilen auch wehtut, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Leute, die, der Anstrengung des Wissens überdrüssig, sich in naturmagische Kulte der Magna Mater oder des Dionysos stürzten und stürzen, brachten und bringen sich um den Verstand, denn sie können das wahre Wissen, dass die Früchte der Erde und des Weinstocks nicht von sich aus Leben haben, sondern von Menschen kultiviert worden sind, nicht auf Dauer vom Festland des alltäglichen Lebens auf ein fernes Lügenatoll verbannen.
Wenn wir in unseren Absichten, Entscheidungen, Forderungen und Aufträgen nicht auf die Konsistenz und logische Verträglichkeit der ihnen zugrundeliegenden Annahmen achten, sondern sich widersprechende Voraussetzungen nebeneinander stehen lassen, laufen wir Gefahr, dass unsere Pläne vereitelt werden, unsere Vorhaben scheitern, unsere Bitten kein Gehör finden und unsere Aufträge unausführbar bleiben.
Du bist frei, mir eine Aufgabe zu stellen. Du drückst mir einen Zettel in die Hand, auf dem eine schwierige mathematische Gleichung notiert ist. Du forderst mich auf, mich in mein Stammlokal zu setzen, zügig hintereinander acht Gläser Wodka zu trinken und dabei die mathematische Gleichung zu lösen. Dass ich kläglich scheitern werde, ist absehbar, denn die beiden Forderungen sind miteinander unverträglich und können nicht gleichzeitig erfüllt werden. Die schwierige Gleichung lösen zu können, impliziert die Forderung, nüchtern zu bleiben. Soll ich aber deine andere Forderung erfüllen, kann ich nicht nüchtern bleiben.
Natürlich können wir uns eine Geschichte ausdenken, in der ein sonderbarer Kerl sich in eine Kneipe hockt, sich mit Wodka abfüllt und dabei eine schwierige mathematische Gleichung zu lösen versucht – vielleicht aus irregeleitetem Ehrgeiz oder intellektuellem Wagemut. An dieser Beschreibung ist nichts inkonsistent, denn warum sollte ein sonderbarer Mensch nicht dergleichen tun – und wir nicht uns eine Geschichte ausdenken, in der eben dies berichtet wird.
Hier bemerken wir die unterschiedliche Relevanz der Forderung nach Konsistenz und Widerspruchsfreiheit in der Welt der Fiktion oder der fiktiven Welt der Literatur, der Phantasie oder des Traums und der realen Welt. Ja, wir haben an diesem Unterschied ein Kriterium unter vielen anderen an der Hand, um fiktionale Darstellung von wirklichkeitsgetreuer Darstellung unterscheiden zu können.
Nach all unseren Erfahrungen und unsern ausgefuchsten physikalischen Kenntnissen wissen wir, dass ein mythisches, aber menschenähnliches Wesen wie der Götterbote Hermes mittels seiner winzigen Flügel an den Schuhen nicht wirklich hätte fliegen können. Und dennoch stören wir uns nicht im Geringsten daran, ihn sich auf Geheiß seines Herrn Vaters vom Olymp stürzen zu sehen, um gleich danach stante pede seinen Auftrag unter den Sterblichen zu erfüllen, sondern bewundern die poetische Lizenz, die sich der homerische Dichter von der Forderung nahm, dass die Annahme, menschenähnliche Wesen könnten nicht ohne weiteres fliegen, mit der Annahme kollidiert, dass Hermes fliegen könne, obwohl er ein menschenähnliches Wesen ist.
Dass die Forderung nach Konsistenz unserer Annahmen einzig für unsere Theorien Relevanz habe und nur im luftigen Raum der Diskurse ihre Missachtung zu schlimmen Konsequenzen führe, für unser alltägliches Tun und Treiben aber der Karneval der Inkonsistenzen geradezu erwünscht sei, ist eine unbegründete und törichte Annahme. Wer unter dem Einfluss sogenannter bewusstseinserweiternder, in Wahrheit aber Inkonsistenzen generierender Drogen wähnt, mir nichts, dir nichts sich in die Lüfte schwingen und fliegen zu können, und sich aufgrund dieser falschen Prämisse aus dem Fenster stürzt, obwohl er eigentlich längst aus den wahren Prämissen, dass menschenähnliche Wesen nicht ohne weiteres fliegen können und er nun einmal ein solches Wesen ist, den wahren Schluss gezogen hatte, würde nunmehr die Missachtung dieser Inkonsistenz mit dem Leben büßen.