Skip to content

Kleine philosophische Lektionen III

07.09.2014

Intentionale Zustände: Glauben (1)

Wir können sagen, dass wir von dem und durch das leben, was wir glauben. Wer von einer schweren Psychose heimgesucht glaubt, dass die anderen Menschen ihm feindlich gesonnen sind, wird seines Lebens nicht mehr froh, und wer glaubt, die ihm dargebotene Nahrung sei vergiftet, wird nicht mehr lange leben.

Du schaust aus dem Fenster und hüllst dich in dein Regencape. Du hast gesehen, dass es regnet und bist aufgrund dieser Wahrnehmung zu der Überzeugung gelangt, dass es regnet. Weil es nun tatsächlich regnet – ich kann es bezeugen –, bist du zu der wahren Überzeugung gelangt, dass es regnet.

Ich glaube aufgrund deines Verhaltens, dass du die Überzeugung hast, dass es regnet. Ich glaube demnach, dass du glaubst, es regne.

Wir nennen mentale Zustände, die auf ein Objekt oder einen Sachverhalt Bezug nehmen, intentionale Zustände und die korrespondierenden Objekte oder Sachverhalte intentionale Objekte oder intentionale Sachverhalte. Wenn du glaubst, es regne, ist dein Akt des Glaubens ein intentionaler Zustand und der Sachverhalt, dass es regnet, der intentionale Sachverhalt, auf den sich deine Annahme bezieht.

Wie gesagt, kann ich und jeder beliebige andere sich mittels seiner intentionalen Zustände auf deine intentionalen Zustände beziehen. Ich könnte beispielsweise befürchten, dass du annimmst, ich sei ein unzuverlässiger Mensch. Oder ich könnte hoffen, dass du nicht annimmst, ich sei ein unzuverlässiger Mensch. Oder ich könnte vermuten, dass du eher annimmst, ich sei ein zuverlässiger Mensch, als dass du annimmst, ich sei es nicht.

Es gibt viele mentale Zustände, mittels derer wir uns auf Objekte und Ereignisse der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beziehen. Wir erinnern uns an die letzte Geburtstagsfeier, sind vom Anblick eines Gemäldes bezaubert, sehnen uns nach dem Wiedersehen mit einem geliebten Menschen.

Wie viele mentale Zustände dieser Art mag es geben? Vielleicht so viele, wie wir mittels einfacher Sprechakte zum Ausdruck bringen können, Sprechakte, die den Inhalt des intentionalen Zustands in einem Verb explizit machen und dem Ausdruck für den Sachverhalt oder das Ereignis in der Oratio obliqua, der indirekten Rede, voranstellen: „Ich glaube, hoffe, wünsche, fürchte, dass p“.

Mit dem Anspruch des Wissens behaupten wir das Bestehen oder die Wahrheit des in der indirekten Rede ausgedrückten Sachverhalts. „Ich weiß, dass Wasser H2O ist“ ist eine wahrer Satz, denn der ausgedrückte Sachverhalt, dass Wasser H2O ist, ist wahr. Immer wenn der in der indirekten Rede ausgedrückte Sachverhalt existiert, können wir davon ausgehen, dass der im Hauptsatz erhobene Wissensanspruch zurecht besteht.

Dies gilt nicht für die intentionalen Zustände des Glaubens, denn ich kann jederzeit etwas annehmen, was nicht besteht. Ich kann glauben, Wasser bestehe aus XYZ, während es in Wahrheit aus H2O besteht. Der Inhalt des Glaubens, der geglaubte Sachverhalt, ist hier kein Inhalt des Wissens, denn er ist falsch. Auch wenn ich felsenfest davon überzeugt bin, dass Wasser XYZ oder der Mond aus Käse besteht, werden diese meine Überzeugungen unwahr bleiben – denn die hier relevanten Wahrheiten sind unabhängig von meiner Meinung.

Wenn alle über Nacht zur Überzeugung gelangt wären, dass die Euroscheine und -münzen in ihrem Portemonnaie oder die Euros auf ihren Konten kein echtes Geld, sondern Falschgeld sind, würde die Währung zusammenbrechen, denn keiner würde Falschgeld vom anderen annehmen wollen. Die Annahme nach dem Zusammenbruch der Währung, dieser Euroschein sei kein Geld, wäre wahr. Daraus schließen wir: Glaubensüberzeugungen über institutionelle Sachverhalte konstituieren die Wahrheit der in ihnen ausgedrückten Sachverhalte. Diese bestehen nicht unabhängig von unseren Meinungen über sie.

Demgemäß existiert das Rechtsinstitut der Ehe und Familie auf der Basis einer Mehrheit der Mitglieder einer Gemeinschaft, die bei der Eheschließung bereit sind, sich einem das Paar bindenden und verpflichtenden Treuegelöbnis und Vermählungsritual zu unterziehen. Solange der das Eheinstitut konstituierende Sprechakt unter Zeugen „Ja, ich will“ unter der Mehrheit der Gemeinschaft Usus bleibt, besteht das Institut. Wenn nicht, dann nicht mehr lange.

Alle unsere Annahmen sind durch die logischen Junktoren „und“ und „oder“ und den Negator „nicht“ verknüpft. Diese logischen Verknüpfungen sollten ein sinnvolles Ganzes bilden, das einigermaßen standfeste und regendichte Gebäude oder Korpus unserer Annahmen über die Welt. Wir können nicht gleichzeitig glauben, dass Berlin die Hauptstadt Deutschlands ist und dass es keine Stadt des Namens Berlin gibt. Wir sind demnach darauf verwiesen, zwischen den logischen Verbindungen unserer Glaubenssätze Ordnung zu halten. Unser oberstes Ordnungsprinzip heißt Konsistenz. Es gebietet, dass wir von zwei sich widersprechenden Sätzen einen aus dem Korpus unserer Annahmen verbannen oder einen falschen Satz durch Negation wahr machen müssen: von den genannten Sätzen also den Satz über die Nichtexistenz Berlins.

Wir müssen im Kern unseres logisch-semantischen Systems gewisse Annahmen als unverbrüchlich zugrundelegen, während wir unsere Überzeugungen, je mehr wir an seine Ränder gelangen, wie die Kleider zu wechseln imstande sind. So stoße ich am Systemgrund auf den Felsen des Glaubens, dass ich es bin, der jetzt hier dieses schreibt. Oder dass ich durch die Negation eines falschen Satzes einen wahren erhalte. Aber die Annahme, dass der Morgen graue, wenn ich in der Nacht von einem Vogelzwitschern erwacht bin, während ich in Wahrheit das Zwitschern geträumt habe, kann ich, ohne dass im Korpus meiner Überzeugungen gleich alles drunter und drüber geht, ebenso problemlos verwerfen wie die scheinbar gewichtigere Überzeugung, die Menschheit werde sich, wie sie sich im Maße der Zunahme an Konsistenz ihrer allgemeinen Annahmen und Überzeugungen logisch zu vervollkommnen scheint, im Maße der Zunahme an Konsistenz ihrer ethischen Annahmen und Überzeugungen auch moralisch vervollkommnen.

 

Kommentar hinterlassen

Note: XHTML is allowed. Your email address will never be published.

Subscribe to this comment feed via RSS

Top