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Kitsch und Wahrheit

06.04.2014

Kleine deutsche Stilübungen VI

1

Obwohl seine Hinterhauswohnung von postmoderner Leere starrte, obwohl er seinen mageren Körper nur mit dürftig geflickten Second-Hand-Fetzen verhüllte, ging ein Raunen durch die Reihen, wenn er mit seinem imposanten Kopf aus der Menge herausragte.

Er war arm, doch unbescheiden.

2

Er galt als unterhaltsamer Plauderer, wenn er auf Leute seines seltenen Schlages traf, doch im gemeinen Stimmengewirr barbarischer Zungen klappte der Hochbetagte den Kragen einer vornehmen Verschwiegenheit hoch.

Er war ein geschwätziger, misstrauischer, hochfahrender Greis.

3

Gelehrte Gespreiztheit ohne die Würze weltläufiger Ironie begegnete er mit höflicher Aufmerksamkeit, dann und wann durch ein süffisantes Lächeln gelockert, zum Zeichen, als könne er sich selbst am besten verstehen und sich selbst am ehesten verzeihen.

Obwohl ihn langwierige gelehrte Ausführungen bald ermüdeten – er war damals den Weibern nachgestiegen, als die anderen unter dem Nachtlicht der Bibliotheken brüteten –, gab er sich den Anschein faszinierten Interesses.

4

Schwer traumatisiert durch die unvorbereitet auf ihn einstürzende Entdeckung, dass sein von ihm einstmals so hoch verehrter Vater als Mitarbeiter der Führungsebene in den Ostkrieg und die Vernichtungspolitik der Nazis verstrickt war … schwer traumatisiert durch die mittels psychotherapeutischer Tiefenschürfung mühsam ausgegrabene Erinnerung an den Missbrauch durch seinen Lehrer, seinen Pfarrer, seinen Fußballtrainer … musste er, ohne je in einer bürgerlich saturierten Existenz innere und äußere Ruhe finden zu können, fortan zeit seines Lebens nicht nur mit pathologischen Antriebs- und soziopathischen Kommunikationsstörungen kämpfen, sondern sich auch einer feindseligen Umwelt erwehren, die sein beständiges Bohren und quälendes Fragen nach den Ursachen als Ruhestörung und Belästigung auslegte und mit Abwehr und Verständnislosigkeit quittierte.

Der verwöhnte Spross betuchter Akademiker war ein Artist, wenn es galt, dem alten Vater und den Geschwistern auf der Nase herumzutanzen, sie für dies und jenes, vor allem für die Vermeidung lästiger Hürden bei Schulen und Ämtern einzuspannen oder um Geld anzugehen. Denn er war von Natur wohl empfindsam, hellhörig und gedächtnisstark, doch faul, wehleidig und ein wenig beschränkt. So vermochte er die nötige Disziplin und Willenskraft nicht aufzubringen und musste das begonnene Studium, die eingeschlagene Fachausbildung abbrechen. Es war ihm fast wie eine Erleichterung, als er seine düsteren Ahnungen bestätigt fand und auf die Entdeckung stieß, dass der Vater in einer preußischen Verwaltung während der Nazizeit als untergebener Beamter beschäftigt war. Ein Mitläufer wohl, aber immerhin! Von Stund an behelligte er Tag und Nacht die ganze Familie und alle Welt mit seiner traumatisierenden Entdeckung, und keinen nahm es wunder, dass die Geschwister am Ende diese immer brummende und stechende Fliege aus der guten Stube verscheuchten. So konnte er fortan als der große Missverstandene und Märtyrer der Wahrheit ein ungezügeltes, ungeordnetes und aufregendes Leben auf Kosten der anderen führen, ganz so, wie es ihm im Sinne lag.

5

Er wagte sie nur von ferne anzuhimmeln und wie ein Falter im Dunkeln leise, leise die Lampe umschwirrt, irrte er spät abends in den Gärten umher, von denen aus er in angstvoller Nähe die erleuchteten Fenster ihrer Wohnung beäugte – wie zuckte er zusammen, und sein Herz wollte schier zerspringen, wenn unversehens ein schmaler Schatten über die Gardine huschte.

Er wusste, hässlich wie er war, konnte er vor ihren wählerischen Augen nicht bestehen. So verlegte er sich, gequält von Begehren und panischer Eifersucht, darauf, im Dunkeln zu lauern und nach ihr zu spähen.

6

Wie hatte er sich redlich bemüht, sich in dem Irrgarten dieser fremden Lebensweise zurechtzufinden! Doch tat er nicht recht daran, die von ihm eingeforderten schulischen Leistungen angesichts all der obszönen Witze und fremdenfeindlichen Anspielungen seiner Mitschüler als unerträgliche Zumutungen zurückzuweisen? War es weiterhin angesichts der einzigartigen xenophoben Exzesse, durch die dieses Land unabgeltbare Schuld auf sich geladen hatte, nicht ein allzu geringfügiger Ausgleich, wenn er und seine Familie die ihnen rechtens zufließenden staatlichen Fördermittel und Gelder für ihre bescheidenen Lebensbedürfnisse verbrauchten, ja sogar einen schönen Anteil einer religiösen Stiftung spendeten, die das Kulturgut der Heimat in der Fremde lebendig zu erhalten bemüht war?

Mathematik: mangelhaft
Physik: mangelhaft
Deutsch: ungenügend
Sport: gut
Islamische Religionskunde: sehr gut

7

Der alte Rebell und sensitive Freigeist rechnete es sich als großes Verdienst an, das in den Annalen der Befreiung der Menschheit von lebensengenden Zwängen und lebensvergiftenden Repressionen nicht unerwähnt bleiben sollte, die hohen moralischen Ansprüche des revolutionären Programms, nach dem er und seine Genossen angetreten, auch in der von Grund auf erneuerten Pädagogik und im praktischen spielerisch-fördernden, liebevollen Umgang mit den Kleinen und Kleinsten in die Tat umgesetzt zu haben.

Unangefochten von einer durch schöne Phrasen geblendeten Öffentlichkeit und unter dem Deckmäntelchen eines lasziven Zeitgeistes konnte er ungestört und ungestraft seinen pädophilen Neigungen frönen.

8

Sie gehören zu der Avantgarde der Menschheit, die der Menge durch tiefere Einsicht, feineres Empfinden, edlere Ansprüche in die Zukunft vorauseilt. Ihr kreatürliches Mitgefühl lässt sie tierische Nahrung verabscheuen, ihre weltoffene Gesinnung lädt zu Gast ein, wer immer an die Türe ihres Landes, ihrer Nation, ihrer Kultur klopfen mag. Menschen ihres Schlages sind es, die uns vorausgehen, die Welt umzugestalten zu einem besseren Ort.

Sie haben nichts, sie sind seelisch nackt, sie haben sich aller Traditionen beraubt, die Kerzen auf den alten Altären, die einst Orientierung wiesen, haben sie ausgeblasen. Um ein Superioritätsgefühl über die dumpfe Masse, die verachteten Väter und den stupiden Rest der Welt, zu erschwindeln, verweigern sie, die neuen After-Juden eines heillosen Zion, das gemeinsame Mahl und öffnen Krethi und Plethi die Türen, bis die verhasste Herkunft zur Unkenntlichkeit entstellt ist.

9

Das Leben lebt nicht. – Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

Er genoss es, eine üppige Blondine, gegen sein beredtes Embonpoint gepresst, auf seinem Schoß zu schaukeln, eine aus der lustigen Schar gläubiger Mädchen, vor deren Existenz seine Gattin schicksalsergeben die Augen zu verschließen hatte. – Oft rangen der Genuss eines Sahnetörtchens und der Kitzel einer dialektischen Pointe um den Vorrang auf seiner Zunge. – Wohlig ausgestreckt in dem mit Samt ausgeschlagenen Futteral einer unbeschwerten, materiell gesicherten Existenz, für die er keinen Finger krümmen musste, verdankte er doch das meiste dem kapitalistischen Erbe des Vaters und der Großzügigkeit der Unternehmer-Freunde, konnte keine Scham ihn davon zurückhalten, die größte von allen Intellektuellen heruntergebetete antisemitische Gossen-Dummheit, alles Übel komme vom Geld und denen, die zu viel davon haben, als tiefe Weisheit eines dem Martyrium gerade noch entronnenen jüdischen Migranten zu vermarkten. – Nur ausgesucht hübsche Studentinnen hatten die Ehre, nach seinem Diktat zu tippen, nur sie vermochten ihn mit ihrem erotisierenden Schreibmaschinengeklapper über den Suizid seiner Sätze, die sich in negativistischer Zuspitzung selbst erdrosselten, hinwegzutrösten.

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