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Jemand sein

20.05.2015

Jemand zu sein ist die ontologische Urtatsache unserer Art zu sein.

Wem könntest du etwas sagen, wenn nicht jemandem? Jemandem, der so ist wie du und an den du dich mit deiner Rede wenden kannst. Jemand zu sein ist demnach die ontologische Voraussetzung dafür, angesprochen zu werden, und wenn angesprochen, dann dazu aufgefordert und disponiert, antwortend zu reagieren oder zu sprechen. Jemand zu sein ist die ontologische Voraussetzung der Sprache, unserer Sprache.

Um sprechen zu können, musst du jemand sein. Also kannst du nicht mittels des Erlernens der Sprache lernen, jemand zu sein. Jemand zu sein heißt nicht, gelernt zu haben, „ich“ zu sagen. Um wirklich „ich“ sagen zu können, musst du jemand sein, der versteht, was es heißt, von sich zu reden oder das von anderen Gesagte auf sich zu beziehen.

Jemand zu sein heißt, nicht ein anderer zu sein und nicht ein anderer sein zu können. Du kannst dich nicht mit jemand anderem verwechseln, wie du auf der Straße dich darin täuschen kannst, mich gesehen zu haben, und mich dabei mit einem anderen verwechselt hast. Freilich kannst du in einem Spiegelglas eine Person zu erkennen meinen, ohne sogleich zu erkennen, dass du es selbst bist, der sich in dem Glas spiegelt. Aber du bist in der Lage, diesen Irrtum zu beheben, ganz einfach, indem du näher hinschaust, und plötzlich identifizierst du deine Gestalt. Dagegen kannst du ohne Weiteres in dem Irrtum verharren, mich auf der Straße gesehen zu haben, auch wenn du lange der Person nachgeschaut hast, die du für mich gehalten hast.

Jemand zu sein ist nicht durch die kontingente oder kausal wirksame Tatsache bedingt, dass du diesen bestimmten Namen trägst und diesen bestimmten Körper hast. Du kannst deinen Namen ändern, und dein Körper verändert täglich und stündlich gewisse Komplexe seiner chemischen Zusammensetzung. Aber diese kontingenten Veränderungen ändern nichts an der notwendigen Tatsache, dass du jemand bist, wenn du überhaupt existierst.

Jemand zu sein ist auch nicht eindeutig definiert durch den Grad und die Qualität des Bewusstseins: Du durchlebst eine fein abgestufte Skala von mentalen Zuständen, die dir mehr oder weniger bewusst sind. Es gibt nicht eine bestimmte Markierung auf dieser Skala, von der wir sagen würden, wenn sie erreicht ist, hast du den ontologisch ausgezeichneten Status erlangt, jemand zu sein. Auch wenn du schläfst oder ohnmächtig bist, verlierst du diesen Status nicht. Allererst mit dem Tod erlischt er.

Aus der ontologischen Tatsache, jemand zu sein, folgt unmittelbar die ontologische Tatsache, der je eigene Mittelpunkt einer Welt zu sein und sich der erlebbaren Inhalte dieser Welt als je eigene Inhalte mehr oder weniger bewusst werden zu können. Was du siehst, sehe ich nicht so, wie du es siehst, auch wenn wir denselben Gegenstand betrachten. Die Objekte der physikalischen Umwelt, in der du jemand bist, haben in diesem Sinne keine Welt, sie sind weltlos: Für dich gibt es dort die Landschaft mit ihren Hügeln und gärtnerisch gepflegten Tälern, dem fernen Glitzern des Flusses und dem ernsten Mahnen der Glocken, das dich mit Erinnerungen ins Verweilen bannt. In der Wahrheit der physikalischen Realität gibt es dort weder Hügel noch Täler, weder Glanz noch Klang, sondern physikalische Objekte, die in einer Weise zusammenhängen, die das, was du Landschaft nennst, nicht im Mindesten repräsentieren.

Wir beschreiben die ontologische Tatsache, dass dir unmittelbar eine Welt gegeben ist, so, dass wir sagen: Alles, was Inhalt deiner Welt ist, ist für dich gegeben und anwesend oder ein intentionaler Gegenstand deines Daseins.

Du bist jemand, dessen Erlebnisinhalte vollständig durch Wahrnehmung oder Erinnerung und Erwartung spezifiziert werden. Als lebender Organismus bist du jemand, der sieht, sich an etwas erinnert, etwas erwartet. Aber du bist nicht ein Organismus, der sieht, sondern als Organismus bist du jemand, der sieht.

Nun siehst du mich auf der Straße und siehst nicht einen beliebigen körperlichen Gegenstand, sondern du siehst jemanden, mich, der ein menschliches Lebewesen ist. Ja, würdest du, der mich schon lange vom persönlichen Umgang her kennt, nicht jemanden, mich, in dem Lebewesen sehen, das dir auf der Straße begegnet, sondern bloß einen körperlichen Gegenstand, würden wir von dir sagen, dass du unter einer schweren seelischen Erkrankung leidest, in deren Folge du des Vermögens, deine Aufmerksamkeit intentional auszurichten und bedeutungsvoll zu orientieren, verlustig gegangen bist. Die Psychose hat als formale Struktur die Schwächung der intentionalen Kraft oder den Mangel an Bedeutungssehen.

Wenn wir gemeinsam die Straße entlanggehen und uns begegnet ein Freund, machst du mich vielleicht darauf aufmerksam, dass dort ja unser gemeinsamer Freund geht. Wir bemerken hier, dass in diesem wie in tausend anderen Fällen unsere je eigene Wahrnehmung und unsere je eigene Aufmerksamkeit intentional mit der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit unserer Gesprächsteilnehmer synchronisiert sind: Unsere je eigenen Welten sind für einander offen und harmonisieren, wenn auch vielleicht nur stückweise, vielleicht probeweise, immer dem Irrtum, der Täuschung und dem schnellen Zerfall ausgesetzt.

Wenn ich dich bitte, mir morgen das ausgeliehene Buch wiederzubringen, und du versprichst mir, eben dies zu tun, sind unsere je eigenen Welten durch die Ausführung von Handlungen synchronisiert und harmonisiert. Unsere jeweiligen intentionalen Einstellungen sind aufeinander abgestimmt und korrespondieren: Du erinnerst dich hoffentlich rechtzeitig an das Buch, das du mir zurückbringen willst, und ich erwarte, dass du genau dies tust, nämlich dich an das Buch zu erinnern und es mir zurückzubringen. Die als Körperbewegungen ausgeführten Handlungen sind in diesem wie in tausend anderen Fällen abhängig davon, dass ihnen vorausgehende oder sie begleitende intentionale Zustände, wie die Erinnerung und Erwartung, sowie willentliche Sprechhandlungen, wie die Bitte und das Versprechen, funktionieren und gelingen.

Jemand zu sein heißt, mit anderen jemand zu sein. Wir leben in je eigenen Welten nur, insofern wir unsere je eigenen Welten mittels Handlungen, und unter diesen mittels passender und zweckdienlicher Sprechhandlungen, synchronisieren und harmonisieren, auch wenn diese Formen des Miteinanders vorläufig, fragil, irritabel und der Gefahr des Misslingens ausgeliefert sind.

Um die Gefahren des Misslingens zu bannen und das Miteinander wie provisorisch auch immer auf eine gewisse Dauer zu stellen oder zumindest vor raschem Zerfall zu bewahren, stellen wir die Gemeinsamkeit des Handelns und die Abstimmung des Sprechens, kurz Kooperation und Kommunikation, unter mehr oder weniger willkürlich gesetzte oder gewählte Zeichen, kurz: eine Kultur. Wir entscheiden mit formalen und informellen Verfahren der Einschließung und Ausschließung, wer unserer Kultur zugehört und wer nicht. Denn jemand zu sein unterscheidet sich eben darin von der Natur objektiven Seins, dass keine Mechanik und kein Chemismus uns wie Moleküle oder Zellen assoziiert: Wir bilden Zeichen und Muster, unter deren freiwilliger Ägide und selbstgewähltem Regime wir entscheiden, mit welchen anderen wir sind, die wir sein wollen. Den naturwüchsigen Banden der Primärgruppe entwachsen oder entronnen, genießen wir die Freiheit der Entscheidung zur uns nächstens vertrauten und auf Halt und Haltungen verpflichtenden Sekundärgruppe: der Gruppe der Freunde, Partner und Verbündeten. Natürlich ist es eine simple logische Wahrheit, dass die Pflicht zur Freundschaft als Spiegelbild und Kehrsinn das Recht auf Feindschaft im Gefolge hat.

Jemand zu sein heißt, sich unter die Herrschaft oder die kulturelle Lebensform und Lebenshülle mehr oder weniger willkürlich gesetzter oder gewählter Zeichen zu begeben und sich in Bindungen und Verpflichtungen zu verankern oder zu verstricken, die dem Zweck dienen, Gemeinschaften des Überlebens und der Lebensintensivierung zu gründen und auf Dauer zu stellen, ohne dass die Gefahr ein für allemal gebannt werden könnte, dass sich die gewünschten Zwecke verkehren und Lebenssteigerung in Lebensverkümmerung übergeht oder die als Schutz intendierte kulturelle Hülle das Leben erstickt.

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