Im verwilderten Garten deutscher Mädchen-Lyrik
Eine Polemik
Im Feuilleton des allgemeinen deutschen Intelligenzblattes werden wir ausgerechnet an Heiligabend von der Überschrift „Atmest du noch?“ aufgeschreckt oder sollen wir sagen fast nicht einmal mehr nur metaphorisch gewürgt. Wer so gefragt wird, ist als geistig Scheintoter ja der Höflichkeit einer wahrheitsgemäßen Antwort eigentlich enthoben. So aber wird sage und schreibe (nein, entsage und schweige!) in einem Gedichtbüchelchen gefragt, dem die Redaktion des Blattes in einem Anfall spiritueller Narkolepsie eine Besprechung durch einen Hagiographen eingeräumt hat, der der Dichterin mit Haut und Haar und ist zu befürchten anderen Körperteilen verfallen ist (das Großhirn hat ja länger schon in den rauchgeschwärzten Grotten der aus dem Sumpf neudeutscher Frömmigkeit aufgetauchten Sibyllen abgedankt).
Hier wird dem um Atem ringenden Leser das Werkchen eines hübschen, wenn auch ungebildeten Mädchens, das in den düsteren Wald der deutschen Sprache (und Grammatik) verschlagen gar schief vor sich hin pfeift, zugleich liebedienerisch und marktschreierisch als epochaler Durchbruch in neue Ausdruckszonen angepriesen.
Leider hat sich die Literaturwissenschaft des allseits irrlichternden Phänomens der Phraseologie von Lyrik-Rezensionen noch nicht angenommen; hier könnte sie fündig werden, bei Formulierungen wie jener, die sogenannten Verse der Autorin eröffneten „ungeheure, nicht selten unmittelbar ergreifende Räume im Gestern, Heute und Morgen.“ Man spüre dem, wie man mädchenlyrisch zu sagen pflegt, nach: Räume, die ergreifen, Räume aus Zeit (gestern, heute, morgen), Räume ungeheuer … ja, nicht ganz geheuer, weil einem von dort Gespenster und bleiche Wiedergänger aus Talmi, Bombast und verquaster Bildsprache entgegentaumeln.
Eines dieser Wort-Gespenster, die wohl grammatisch-semantische Ungetüme sein mögen, aber unter dem Stethoskop des Kritikers nur ein anämisches Glucksen und Fiepen kundtun, simuliert dennoch ein starkes Pulsieren:
das pulsierende Unten und Oben/in dem etwas überdauert, älter als Ahnen, als Adressen/als deine alarmbereiten Adern und die Angst, du oder/die Anderen wären nun nicht mehr fassbar.
Wir bemerken zunächst die epidemisch verbreitete Falschmünzerei, mittels des Schriftbildes aus mehr oder weniger willkürlich umbrochenen Zeilen das Dasein echter Verse vorzugaukeln. Dies ist das leider verhängnisvolle Erbe des Vers libre, der nur in der anmutig-zügelnden Hand großer Meister sich nicht über den Rand der Zeilen in den Abgrund der Leere, des Unsäglichen, des Nichtssagenden hinabstürzt. – Der Umbruch „du oder/die Anderen“: als müsse man baß erstaunen, wenn nach einem Du von anderen die Rede ist.
Wir konstatieren die beckmesserische Verbohrtheit, durch die Monotonie der Alliteration (Ahnen, Adressen, Alarm, Angst, Anderen) dem in der sauerstoffarmen Luft flatternden Gedanken einen vagen Halt zu verleihen. – „älter als Ahnen, als Adressen“, welch mißliche Begegnung, welch forcierte Bedeutungshuberei.
Und welcher Gedanke kommt hier zutage? Ein Unten, ein Oben, die pulsieren. Ist es die Unterwelt, in der es rumst, ist es der Himmel, wo es rumort? Wir wissen es nicht, es ist nicht faßbar – ein sibyllinisches Mädchengeheimnis. Kann ein Unten, ein Oben pulsieren? Oder wenn schon etwas pulsiert, dann nach unten, nach oben? Was hat älter als unsere Ahnen überdauert? Etwas. Basta. Eine mystische Bouffonnerie. Ein Mädchengeheimnis. Oder lyrischer Nonsense wie jene „alarmbereiten Adern“, denn Adern melden keine drohende Gefahr, sondern Nerven.
Der verzückte Rezensent kommentiert diese Stelle auf dem grammatischen Niveau seiner Angebeteten so: „Diese Durchdringung hin zum Anderen ist es, die Ms. Gedichten den Charakter einer ungeahnten Überbrückung verleiht.“ Aber etwas kann nur etwas durchdringen, es kann höchstens etwas zu etwas oder einer zu einem anderen durchdringen. – Hier werden wieder einmal wie in der vollmundigen und also heuchlerischen Sonntagspredigt Brücken gebaut, natürlich ungeahnte, um nicht zu sagen ungeheure; daß Dichtung ihren Atem für jene Einsamen aufspart, die an der Grenze des Sagbaren, des Unzugänglichen, des Totenflusses stehen, solch schmerzliches Besinnen ist aus dem dünnblütigen Pulsieren dieser lyrisch behübschten Gedankenwelt verbannt. Wäre diese Art zu denken nicht allzu viril und toxisch? So schwadroniert die Autorin, horribile dictu, in einem Gedicht auch gendergerecht von einer „Käferin“, um nur ja keinen männlichen Käfer auf ihrem Blumenkissen krabbeln und sich gar erleichtern zu lassen.
Noch ein kleines Wort-Gespenst:
Ist es/dein Erleben oder das Sehen von/dir selbst mit inneren Augen?//Dringen diese Poren in offene/Wunden, durchsiebt dich durch/die Ohren ein Sirren von Verlorenem? Ist das Jetzt jetzt?
Kein noch so großherziger Leser, dessen Gefühl für die Harmonie von Rhythmus und Sinn nicht gänzlich ertaubt und abgestorben ist, wird in einem kurzatmigen „Ist es“ einen Vers erkennen und anerkennen wollen. – Ein trockener und prosaischer Begriff wie „Erleben“ aber ragt wie ein abgenagter Knochen aus dem Gras eines jeden Gedichts, wenn es nicht das bittere Kraut eines Totenangers ist. – „dein Erleben“, „das Sehen“, Ausdrücke dieser Art sind tote Brocken eines Nominalstils, der sich für Formulare oder psychologische Testprotokolle schickt, nicht für das Gedicht.
„das Sehen/von dir selbst“ – ein Umbruch reiner Willkür; und nein, das von einem Verbalsubstantiv abhängige Objekt wird im Deutschen mit dem Genitiv konstruiert (das Sehen deiner selbst); aus dem zerfledderten Handbuch deutscher Mystik ohne Rettung des einstigen Gehalts abgekupfert: „inneres Auge“. Und dieser Gehalt ist nach dem Untergang der platonischen Vorstellung der Seele und des kartesischen Modells von Denken und Bewußtsein auch nicht zu retten; wir sehen uns nicht in einem inneren Spiegel mit einem inneren Auge, und täten wir es, wüßten wir die Identität dessen, den wir sehen, nicht auszumachen, sondern im Spiegel der Reaktionen unserer Umwelt: Wenn der Freund lächelt, weil ich ihn freundlich begrüßt oder mit einem Geschenk überrascht habe, erfahre ich, was es heißt, jemand zu sein, der freundlich oder großzügig ist.
„Dringen diese Poren in offene/Wunden …“ – Ach nein, Poren dringen nirgendhin, sie pflegen nichts zu unternehmen, sondern etwas aufzunehmen; „offene/Wunden“ – wieder der wichtigtuerische, aber eitel-nichtssagende Umbruch; „Wunden“ hätte genügt, von offenen Wunden prahlt nur der Kriminalreport in der Tageszeitung. „Poren“ – „Ohren“, „Verlorenem“: an den Strand des Niemandsmeeres geschwemmte vertrocknete Reim-Quallen. – Kann sich das Verlorene durch Sirren bemerkbar machen? Was hier noch sirrt, ist ja dorthin nicht verlorengegangen. Kann ein Sirren die Ohren durchsieben? Ist nicht eher das Ohr bisweilen ein Sieb für den Klang, den nicht gehörten? Hat nicht die sich aufdrängende Assonanz (Sirren – sieben) zum Ungedanken verleitet? Fragen über Fragen, aufgewirbelter Staub, der sich rasch, als wäre nichts geschehen, wieder legt, artig aufgereiht an der Leine im lauen Fühl-Wind hübsch flatternde Mädchenwäsche. – Und nein, das Jetzt ist nicht jetzt; sondern: Ich bin es jetzt leid, solche Texte zu lesen; denn „jetzt“ ist kein Nomen, sondern ein Adverb. Ach weh, wenn zarte Mädchenhände sich an den Disteln und Kakteen in der Steppe männlichen Philosophierens ritzen.
All das will die Mitteilung tiefer, bedeutungsschwerer Botschaften suggerieren; doch ist es seichtes Gewässer, das in der Sonne der Einfalt und der Eitelkeit blinkt und leichten Schrittes durchwatet werden kann. Es repräsentiert jene Zeitgeist-Ideologie, nach der sich Hinz und Kunz die Hände reichen, weil sie das zur sentimentalen Sottise plattgewalzte Wort Rimbauds, ich sei ein anderer, auf die Fahne der neuen Heilsarmee geschrieben haben, mit der sie jene ominöse Brücke überqueren, die auf den dünnen Stelzen des gut Gemeinten, aber schlecht Durchdachten bedrohlich schwankt.
Der vom Mädchentum solch windiger Botschaften berauschte Rezensent zitiert aus dem Vorwort zu diesem epochalen Werk, aus der Feder eines nicht minder Berückten: „Wo an den Rändern ein Zusammenleben aller Kreaturen – wie es so schön heißt, auf du und du – möglich wäre, dorthin changieren diese Gedichte …“ Ach nein: Etwas kann changieren, wie eine Farbe zwischen Purpur und Violett, aber nichts kann dorthin changieren, wo es nicht schon ist. Der FAZ-Leser darf sich auf diesem Sprachniveau zu Hause und sicher fühlen, da es so niedrig ist, daß er mit dem ersten kleinen Schritt nicht aus schwindelnder Höhe zu fallen droht, sondern in der Kleinbürgerküche des Nachbarn landet, wo der Kanarienvogel zwitschert und lauwarmes Geschwätz den wachen Sinn benebelt. Und: Welche Verlogenheit und Heuchelei, die eschatologische Formel vom Einklang aller Kreatur aus dem Mund von Leuten zu vernehmen, denen jedweder Glaube an eine göttlich-erlösende Macht oder die Wiederkehr des Messias in den Wüsten des Zeitgeistes vom Sand der religiösen Indifferenz zugeweht worden ist. – Doch Gott hin, Messias her; saget es dem Löwen, der die Antilope reißt, saget es der Eule mit der Maus in den Krallen; saget es dem Fanatiker, der die Bombe am Altar der Ungläubigen zündet.
Der Titel des Lyrikbandes zeigt ein emblematisches Bild der neuen deutschen Naturfrömmigkeit, die sich wohl unangekränkelt von der Einsicht, daß der Mensch beides, ein natürliches und kultürliches Lebewesen ist, wessen man durch genauere Betrachtung des Begriffs „natürliche Sprache“ innewird, im wilden unrhythmischen Pulsieren der Gedichte wiederfinden soll: Eine Art von innen grell angestrahltes Gewächshaus schwebt auf einem „ungeheuer“ vergrößerten grünen Ahornblatt. Dazu in sirrendem Tonfall der Rezensent: „Gemäß dieses Bildes von einem dennoch möglichen Einklang …“ Ach nein, die Präposition „gemäß“ wird auf gut Deutsch nicht mit dem Genitiv, sondern dem Dativ konstruiert. Und nein: Einklang ist ein sublimes Ideal der Kunst, das Gedicht evoziert ihn durch die Harmonie von Sinn und lautlicher und rhythmischer Gestalt, es sollte vor dem Mißbrauch für utopisch-politische Ziele durch Leute bewahrt werden, die jedem, der ihren frömmelnden, aber gefährlichen Umtrieben und bigott-perversen Umzügen unter Grotesk-Masken von Mischwesen vom Straßen- und Daseinsrand aus ungerührt-skeptisch zusieht oder sich spöttische Bemerkungen erlaubt, den Mund verbieten oder als Tier-, Frauen- und Menschenfeind beim Amt für moralische Korrektheit anschwärzen.
Das Ethos des freien Mannes aber hat zur Maxime: Sei stets der Wächter deiner Schwelle und wehre jenen, die von bösen Absichten geleitet dir und den Deinen aufs Fell rücken und am Zeug flicken wollen; laß sie nur übertreten von jenen, die du für wert befindest, mit dir auf Augenhöhe zu verweilen; suche nicht, wen du höher achtest als Freund und Kumpan, mit sentimentalen Gesten und weibischer Anempfindelei auf das zerschlissene Sofa wertblinder Gemütlichkeit herabzuziehen oder den großen Ahnen mit dem Stern am Revers in schwülstigen Tagträumen zu duzen; und willst du ein Werk vollbringen, das über den Tag hinaus Bestand hat, laß auf einsamer Tenne den kalten Wind der Selbstprüfung und des künstlerischen Gewissens die Spreu vom goldenen Korne fegen.
Der verwilderte Garten der Mädchen-Lyrik, er mag uns als Zeugnis dafür dienen, was geschieht, wenn die Bildungstraditionen und Sprachkulturen, in denen Leuchtfeuer wie Pindar, Sophokles, Vergil, Horaz, Dante oder Goethe, Hofmannsthal und George ganzen Generationen Orientierung gaben, untergegangen sind.
Zu diesen Sprachkulturen gehörte auch, wenn wir an Namen wie die Droste, die Günderode, Gertrud Kolmar oder Christine Lavant denken, der gehegte Garten der Dame Dichterin; ihr wuchs die Blume des Wortes zu, weil sie den Grund von den Schatten des wuchernden Unkrauts freihielt und sie wässerte, nicht mit dem Brackwasser anempfundener Gefühle und ausgeliehener Ideen, sondern mit ihren selbsteigenen Tränen.
Comments are closed.