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„ich“ sagen können

16.02.2021

Funktion und Sinn eines seltsamen Pronomens

„ich“ ist das hinweisende oder deiktische Pronomen für die erste Person; als Pronomen steht es für einen Namen, nämlich den Namen dessen, der spricht und handelt. Denn wenn gefragt wird: „Wer kommt mit?“ und als Antwort ertönt „Ich!“, können die anderen sagen: „Freund Peter kommt mit.“

„ich“ steht für einen Namen, kann also keiner sein; Namen haben eine Bedeutung, zum Beispiel hat der Eigenname Peter die Bedeutung, den Träger dieses Namens zu bezeichnen. Da also „ich“ kein Name ist, sondern für einen steht wie für den Namen „Peter“, wenn auf die Frage „Wer kommt mit?“ Peter antwortet „Ich!“, so hat es auch keine Bedeutung.

„ich“ ist nichts als der Hinweis auf den, der es sagt.

Wem sagt er es? Natürlich einem, den er mit „du“ anredet und der von sich wiederum sagt „ich“.

Der philosophische Unfug, der mit der Substantivierung des Personalpronomens „ich“, dem „Ich“, getrieben wurde, füllt Bände und verlieh seinen Urhebern klingende Namen und akademische Würden.

Die Konfusion um das liebe Ich gleicht jener, die aufgrund der Substantivierung des Zeitadverbs „jetzt“ in die Welt gesetzt wurde. Die Jetzt-Sophisterei ähnelt der Ich-Sophisterei nicht zufällig, sind die hinweisenden Zeigewörter „ich“ und „jetzt“ doch insofern verwandt, als wer „ich“ sagt, „jetzt“ redet und handelt.

„ich“ ist kein Name und kein Begriff, hat keine Bedeutung und keine semantische Referenz, sondern eine deiktische Funktion im Zeichenverkehr der Normalsterblichen. Insbesondere hat es nicht die Bedeutung „Bewußtsein“, auch wenn unbestritten ist, daß einer, der „ich“ sagt, im Regelfalle bei Bewußtsein und manchmal sogar bei Sinnen ist.

Wir sollten philosophisch ernüchtert den überschwänglichen Gebrauch des Begriffs Bewußtsein vermeiden und uns mit der Untersuchung des legitimen und korrekten Gebrauchs des Adjektivs und Adverbs „bewußt“ bescheiden.

Hier finden wir zumindest zwei Klassen von Gebrauchsweisen: Wenn einem im hektischen Gedränge des Supermarkts dem Sozius den Einkaufswagen versehentlich in die Kniekehle stößt, mag er, darauf hingewiesen, zur Entschuldigung vorbringen, dessen sei er sich gar nicht bewußt gewesen. Hier steht das Adjektiv „bewußt“ für die Deutlichkeit des Empfindens, Merkens, Spürens, Fühlens, Wahrnehmens; seine Verwendung ist gewöhnlich redundant und kann eingespart werden wie in den Äußerungen: „Ich habe es gar nicht gemerkt“ oder „Ich habe es doch gesehen.“

Wer Sätze äußert wie „Ich merke es“, muß die Tatsache, daß er etwas und was er merkt, spürt oder fühlt, nicht an sich selbst durch Introspektion oder eine mysteriöse Selbstwahrnehmung allererst festgestellt haben; wir fühlen nicht, daß wir etwas und was wir fühlen, sondern haben dieses spezifische Gefühl; wir wissen nicht, daß wir etwas und was wir sehen, hören, wahrnehmen, sondern nehmen etwas ohne Zwischenschritt einer vermittelnden Instanz unmittelbar wahr, sonst könnten wir ja in die Verlegenheit kommen, nicht zu wissen, daß wir etwas und was wir wahrnehmen.

Die andere Klasse von Verwendungen des Wortes „bewußt“ entnehmen wir Äußerungen wie der folgenden: „Ich bin mir bewußt, daß meine Meinung auf keine breite Zustimmung stößt“ sagt jemand, der sich der Gewagtheit oder Unvertrautheit seiner Meinungskundgabe aufgrund der skeptischen oder ablehnenden Reaktionen der Hörer vergewissert hat, weshalb er auch sagen könnte: „Meine Meinung wird gewiß auf keine große Zustimmung stoßen.“ Dagegen hat der Kriminelle, der vor Gericht vorgibt, er sei sich der schädlichen Folgen seiner Tat nicht bewußt gewesen, kein Argument zur Milderung des Strafmaßes vorgebracht, auch wenn wir davon ausgehen, daß es immer auch unbeabsichtigte Wirkungen unserer Handlungen gibt, derer wir uns nicht bewußt sind. Die sprachliche Wendung, sich der Folgen des eigenen Tuns bewußt zu sein, ist nur ein anderer Ausdruck dafür, sie gleichsam in einem gedanklichen Modell vorausgesehen, antizipiert oder in Rechnung gestellt zu haben.

Die Bedeutung solcher Normalverwendungen des Wortes „bewußt“ bedarf keines Rückgriffs auf eine Instanz namens Bewußtsein.

Um die Funktion des Gebrauchs des Personalpronomens der ersten Person Singular zu verstehen, muß man nicht verstehen, was Bewußtsein heißt, sondern was es mit dem deiktischen System auf sich hat, zu dem Wörter wie „ich“, „du“, „der da“, „jetzt“ und „hier“ gehören.

„ich“ ist das Signal des Handelnden an die Aufmerksamkeit des anwesenden Sozius, ihm etwas zu geben, ihm zuzuhören, mit ihm die anstehende Handlung zu vollziehen. Deshalb sind die grammatischen Formen des Dativs und Akkusativs für das elementare Sprechereignis wesentlich und unentbehrlich, beispielsweise wenn ich sage: „Reich mir doch die Kanne“ oder „Laß mich doch in Ruhe!“

Daß die pronominalen Formen „ich“, „mich“ und „mir“ von verschiedenen Wortstämmen gebildet sind (anders als die Ableitungen des Pronomens der zweiten Person: du, dir, dich), deutet bereits darauf hin, daß es sich beim Indexwort „ich“ um einen grammatischen Sonderling handelt.

Der aktuelle Gebrauch von „ich“ ist immer situativ auf die mit dem realen oder auch wie im Tagtraum imaginären Gegenpart, dem Angesprochenen, geteilte Wahrnehmungssituation bezogen; während die Pronomina der dritten Person (er, sie, es) sich vom deiktischen Nahfeld gleichsam emanzipieren und frei in den Lebensräumen und Lebenszeiten herumvagabundieren dürfen.

Wenn ich sage: „Ich ging gestern mit Peter im Park spazieren“, ist evident, daß ich dies hier und jetzt (und zwar zu einer anderen Person als Peter) äußere. Der Satz: „N. N. ging dann und dann in dem und dem Park spazieren“ kann überall nach dem Ereignis, von dem er spricht, geäußert, niedergeschrieben, dokumentiert werden.

Die epistemische Asymmetrie solcher Sätze wie „Ich ging gestern mit Peter im Park spazieren“ und „N. N. ging dann und dann in dem und dem Park spazieren“ ist offenkundig, denn meine Aussage mag glaubwürdig und plausibel klingen, kann aber unwahr sein, entweder weil ich lüge oder weil ich mich irre; während die Wahrheitsbedingung des zweiten Satzes schlicht das Wahrsein oder Falschsein des von ihm ausgesagten Sachverhaltes darstellt.

Die Äußerung „Ich habe Schmerzen“ kann sowohl ein Ausdruck meines subjektiven Zustandes, eben meiner Schmerzen, als auch ein Appell an den Angesprochen sein, beispielsweise darauf Rücksicht zu nehmen und sich leise zu verhalten.

Ausdruckskundgaben aus der Ich-Perspektive setzen keine epistemische oder kognitive Beziehung des Subjekts zu sich selbst und seinen jeweiligen mentalen Zuständen voraus; denn zu sagen: „Ich weiß (oder ich vermute oder ich bezweifle), daß ich Schmerzen habe“ ist schlicht Unsinn.

Dagegen implizieren kognitive Aussagen wie „Ich weiß, daß Wasser H2O ist“ die üblichen Wahrheitsbedingungen, denn Sätze dieser Form sind nur wahr, wenn der mitgeteilte Inhalt oder das vorgeblich Gewußte wahr ist.

Aber auch Ich-Aussagen kognitiven Gehalts setzen nicht voraus, daß ich etwas von mir weiß außer der Tatsache, derjenige zu sein, der spricht. Gegebenenfalls könnte der Sprecher wissen, warum und aus welchem Motiv er sagt, was er sagt, beispielsweise, weil er sich einer Prüfungssituation im Physikunterricht ausgesetzt sieht, oder er könnte wissen, zu welchem Zweck und Behufe er sagt, was er sagt, beispielsweise, um die Prüfung zu bestehen.

Ich-Äußerungen sind Handlungen und wie alle Handlungen mehr oder weniger gut begründet, mehr oder weniger gut motiviert. Wir verfügen über Kriterien zur Beurteilung und Überprüfung der Aussagekraft und Glaubwürdigkeit solcher Äußerungen, zum Beispiel bei Aussagen von Angeklagten oder Zeugen vor Gericht. Wir benötigen keine Theorie über das Ich-Bewußtsein und seine subjektiven Zustände, um zu verstehen, aus welchem Grund und zu welchem Zweck sich der Angeklagte in Widersprüche verstrickt, nämlich, um ein Lügengebäude zur Stützung seines falschen Alibis aufzutischen.

Wir können das Indexwort „ich“ freilich als Leerstelle für einen Eigennamen auffassen und nach den Kriterien der ontologischen Identität fragen, die sein Träger erfüllen muß. Diese aber sind gleichsam öffentlich zu besichtigen, denn es handelt sich beispielsweise um die DNA, den Stammbaum, den Fingerabdruck, die Identifikationsnummer des Ausweises, die Adresse, die geographische Karte, auf der wir die Aufenthaltsorte des Betreffenden markieren; doch wenn wir in den Wirrwarr seiner Gedanken und Erinnerungen eintauchen, bleibt uns nur der abgerissene Faden von Assoziationen in den Händen, die für die Kenntnis der Identität, um die es hier und eigentlich geht, diejenige dessen, der „ich“ sagt, nichts hergeben.

Es ist klar, daß einer, der an die Tür geklopft hat und auf die Anfrage von innen „Wer da?“ (denn er vertraut auf die Wohlbekanntheit seiner Stimme) mit „Ich!“ geantwortet hat, kein Geist, sondern ein leibhaftiger Mensch ist. Es scheint eine Trivialität, daß wir nur als leibliche Wesen „ich“ sagen und damit auf uns aufmerksam machen können; doch wird sie von Philosophen, die unsere Fähigkeit, mit „ich“ auf uns zu verweisen, in den dunklen Labyrinthen des Geistes suchen, gerne ignoriert.

Die logisch scharfsinnigen Stoiker hatten keine schlechte Intuition, auch Gott, dessen Stimme ihnen ins Gewissen sprach, eine, wenn auch ätherisch-feinstoffliche, leibliche Präsenz zu attestieren.

Die seltsame Stimme des jüdischen Gottes scheint aus den Wolken zu kommen, doch die seiner Inkarnation im Kind der Krippe und dem am Kreuz Erhöhten ist menschlich-leibhaftig. Hier tut sich sprachlogisch eine noch nicht ausgelotete theologische Kluft auf.

„ich“ sagen zu können ist darüber hinaus, wenn wir uns vornehm wie in besserer Gesellschaft ausdrücken müßten, die transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Sprache überhaupt, insofern sie nicht nur Signal- und Appellfunktion besitzt, sondern auch das, was Karl Bühler ihre symbolische oder darstellende Leistung nennt.

Die Signal- und Appellfunktion hat unser Sprechen mit den Kommunikationssystemen der Tiere (teilweise sogar mit dem chemischen „Dialog“ der Pflanzen) gemein. Das Murmeltier warnt mit schrillen Pfiffen die Artgenossen vor dem sich nähernden Greifvogel, die Sozii flüchten auf der Stelle in den Bau und der kommunikative Kreis von Signal, Appell und reflexhaftem Verhalten ist geschlossen. Doch mangels symbolischer Sprachfunktion vermöchte das Murmeltier nicht zu sagen, um welche Art von Beutegreifer es sich handelt oder gehandelt hat, Bussard oder Adler.

Genausowenig, wie wir über die mentalen Zustände des seine Warnpfiffe verbreitenden Murmeltiers grübeln müssen (es genügt die offensichtliche Annahme, daß der herannahende Feind es in Angst und Schrecken versetzt und den drängenden Impuls des Warnens ausgelöst hat), genausowenig müssen wir dem Ich, dem Bewußtsein, der Selbstidentität oder dergleichen philosophischen Götzen und Ungetümen Hirnschmalz opfern, wenn wir Äußerungen aus der Ich-Perspektive im lebensweltlichen Zeigefeld verstehen wollen.

Mit der Benennung (und ihrer Erweiterung oder thematischen Durchführung mittels Prädikation im Satz) finden wir uns in der spezifisch menschlichen Welt wieder, in der wir nicht nur wie die Bienen die Artgenossen mit rituellen Tänzen und verlockenden Duftspuren zum Ausflug nach neuen Nahrungsquellen stimulieren oder wie der Autofahrer dem Hintermann mit dem Blinker seine Absicht abzubiegen kundtun, also Signale verwenden, um ein zweckdienlichen Verhalten auszulösen.

Die Benennung und der darstellende Satz bilden den Einstieg in die verkehrsberuhigten Zonen oder den Aufstieg auf die Hochebene des Berichts, der historischen und autobiographischen Aufzeichnung, der Erzählung, der Dichtung und der Wissenschaft.

Auch die Erinnerung wäre nur ein flüchtiger bunter Nebel ohne die Funktion und semantische Kraft von Benennungen der erinnerten Gegenstände und Ereignisse, die wir mit Merkzeichen wie den Namen von Personen, Orten, Flüssen, Bergen versehen.

Hier treffen wir unser liebes Ich wieder, wenn auch still geworden und ohne das wilde Gestikulieren unter seinesgleichen, so beim Schreiben eines Briefes, der sich an einen abwesenden Adressaten richtet, oder beim Verfassen eines Romans, wobei es seine Fähigkeit, „ich“ zu sagen, fiktiven Protagonisten in den Mund zu legen vermag.

Der Soziologe, der seine Statistiken aufstellt, der Richter, der sein Urteil verfaßt, der Mathematiker, der seine Gleichungen kritzelt, der Physiker, der an der Weltformel herumzackert, sie scheinen fernab vom kommunikativen Trubel in symbolische Welten entrückt, deren treffenden Darstellungen wir das Prädikat objektiv nicht vorenthalten wollen. Und dennoch ist auch die von ihnen aufgebotene Objektivität nicht denkbar ohne den tieferen Quellpunkt der Fähigkeit, „ich“ zu sagen.

Es kann keine Sprache und kein grammatisch geordnetes System von Zeichen geben, ohne die faktische, logische und ontologische Dimension, in der jemand sie spricht und versteht. Und dies ist kein anonymes Bewußtsein, sondern einer, der sagen können muß: „Ich habe es gesagt, ich habe es verstanden.“

 

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