Ich glaube, mich zu erinnern
Alles, was wir erleben, findet in der Zeit statt, hat also gleichsam einen zeitlichen Index. Was du mir gerade sagst, höre ich wohl: Doch höre ich zuerst den Beginn deines Satzes, sodann seine Fortsetzung und schließlich sein Ende. Sollen wir sagen, zumindest der Beginn des gehörten Satzes trage einen zeitlichen Index, den wir der Vergangenheit zuordnen? Würden wir so weit gehen, müssten wir annehmen, dass ich zumindest gewisse akustische Phänomene sowohl höre als auch mich an sie erinnere. Das wäre seltsam.
Wir müssen also feststellen, dass wir spezifische Momente der sinnlichen Wahrnehmung wie eine an uns gerichtete Frage, eine kleine Melodie oder eine Zeile oder einen Satz eines Textes aus dem Zeitablauf gleichsam ausschneiden und als Gesamtphänomen gleichzeitig wahrnehmen. Alles, was über diese vage Grenze hinausreicht, ordnen wir dem Funktionskreis der Erinnerung oder Erwartung zu.
Erinnern gehört wie Wahrnehmen zu den Formen unserer spontanen Selbsttätigkeit, deren interner Bezug zu unserem bewussten Leben durch den intentionalen Urmodus des Glaubens (Mir-als-etwas-Erscheinens oder Annehmens oder Fürwahrhaltens) hergestellt wird. Erinnern hat die Glaubensform: „Ich glaube (oder ich nehme an oder mir scheint), dass ich mich daran erinnere, dass p“, wobei der Satz p den Inhalt einer Erinnerung oder vergangenen Wahrnehmung wiedergibt. Da alles, was mir als etwas erscheint, mir auch evident ist, können wir auch sagen, die Glaubensform des Erinnerns habe die Form: „Es erscheint mir evident, dass ich mich daran erinnere, dass p.“
Der Satz „Ich erinnere mich, dass p“ hat vollständig analysiert demnach die eben genannte Form: „Es erscheint mir evident, dass ich mich daran erinnere, dass p.“ Wenn du dich daran erinnerst, mich gestern im Park gesehen zu haben, kann ich die Tatsache deiner Erinnerung nicht bestreiten, indes dass die Erinnerung sich auf eine Tatsache bezieht, kann ich sehr wohl bestreiten, indem ich dich darauf hinweise, dass ich gestern gar nicht in besagtem Park gewesen bin.
Deine Erinnerung hat sich als trügerisch erwiesen: Du hast gestern vielleicht einen Menschen im Park spazieren sehen, der mir sehr ähnlich sieht, und mich aufgrund dieser Ähnlichkeit mit ihm verwechselt. Du hast dich bei der Anwendung der Kategorien der Identität und Ähnlichkeit geirrt. Oder du bildest dir heute ein, mich gestern gesehen zu haben, und dein Erinnerungsvermögen spielt dir einen nicht ungewöhnlichen Streich, weil das Gedächtnis zum Gebiet des Phantasielebens offenkundig eine undichte Grenze hat. Denn vieles, was wir zu erinnern glauben, identifizieren wir wohl spontan als Erinnerung, obwohl es sich dabei um reine Phantasie handelt.
Können wir den qualitativen Sprung vom Glauben, sich an etwas zu erinnern, zum Wissen, dass die Erinnerung nicht trügt, sondern sich auf etwas Wahres, tatsächlich Gesehenes oder tatsächlich Vorgefallenes bezieht, aus eigener Kraft bewältigen oder sollten wir uns vor einem solchen Salto mortale hüten? Könntest du aus eigener Kraft darauf kommen, dass deine vorgebliche Erinnerung daran, mich gestern im Park gesehen zu haben, entweder auf einer Verwechslung oder auf purer Einbildung beruht, ohne dass ich dazukomme und dich auf die Unrichtigkeit deiner Erinnerung hinweise?
Wir bemerken, dass das Vermögen sich zu erinnern mit dem Wissen, sich richtig zu erinnern, nicht Hand in Hand geht oder dass Erinnerungen kein Merkmal oder kein Kriterium der Wahrheit, keinen indicem veri et falsi, auf der Stirn tragen.
Du kannst deine Erinnerung, mich gestern im Park gesehen zu haben, nicht dadurch überprüfen und verifizieren oder falsifizieren, dass du mich heute aufsuchst und anhand des aktuellen visuellen Bilds das Vorstellungsbild, das du von mir gestern erhalten zu haben glaubst, in Abgleich bringst. Das wäre so, als würdest du dich von der Wahrheit der Aussagen eines Berichts dadurch überzeugen lassen, dass du dir ihn von mir zweimal vortragen lässt.
Es genügt auch nicht eine zusätzliche Instanz anzurufen, um die Erinnerung zu verifizieren. Im schlimmsten Falle könnte ich, von dir befragt, ob deine Erinnerung zutreffe, mich darin irren, gestern im Park gewesen zu sein (während es doch vorgestern war). So wird der Zeuge vor Gericht, der deine Auskunft, mich gestern im Park gesehen zu haben, bestätigt hat, auf großes Misstrauen stoßen und seine Aussage wird in Zweifel gezogen, und daraufhin und deswegen deine Aussage nicht für bare Münze genommen, wenn sich herausstellt, dass er an dem Tag wegen Trunkenheit am Steuer auf der Polizeiwache saß oder ein notorischer Lügner ist.
Besonderes Misstrauen gegenüber vorgeblich korrekten Erinnerungsaussagen ist angebracht in allen Fällen, in denen die Zeugen mit ihren Aussagen ein starkes Interesse oder einen wichtigen Zweck verbinden. Der Täter, die drohende Strafe vor Augen, gibt vor oder scheint sich entweder gar nicht daran zu erinnern, am Tatort gewesen zu sein, oder sich daran zu erinnern, wie er aus Notwehr habe handeln müssen, da ihn das angebliche Opfer angegriffen oder provoziert habe. Das Opfer, die baldige Vergeltung oder lockende Entschädigung vor Augen, gibt vor oder scheint sich genau an die besondere Heimtücke und Grausamkeit zu erinnern, mit der der Täter zu Werke gegangen sei. Wenn der Staatsanwalt oder Richter zum Kreis der Täter gehört, ist ein genauso großes Misstrauen angesagt, wie wenn der Staatsanwalt oder Richter dem Kreis der Opfer angehört.
Wir bemerken, dass die Erinnerung, geschweige denn ihre Korrektheit, nicht an ein Erinnerungsbild geknüpft sein muss. Du könntest richtig behaupten, du habest mich gestern im Park gesehen, wenn ich gestern im Park war, ohne dass du mit dieser Erinnerung irgendeine Vorstellung verknüpfst.
Du kannst deine PIN-Nummer oder den Namen einer Ortschaft, in der du vor etlichen Jahren weiltest, vergessen haben, auch der Name eines Freundes, der dir auf der Zunge liegt, mag dir gerade nicht einfallen. Doch sollen wir sagen, du habest, vor Gericht nach deinen Personalien befragt, deinen Namen auf der Zunge gehabt, er wollte dir aber gerade nicht einfallen?
Wir bemerken, dass wir auf elementare Gegebenheiten treffen, die aufgezählt nichts weiter als eine Liste von Trivialitäten ergeben, wie der eigene Name, die Tatsache, ein Kind seiner Eltern zu sein, an seinem Wohnort so und so viele Jahre gelebt zu haben oder ein menschliches Wesen zu sein oder von Kindesbeinen an als ein lebendiger Organismus unter anderen Lebewesen und Dingen im Raum und in der Zeit existiert zu haben, Gegebenheiten, an die sich nicht mehr zu erinnern kein Zeichen eines schlechten Gedächtnisses, sondern von Verrücktheit und Wahnsinn wäre.
Die elementaren Gegebenheiten bilden das Netz oder die Struktur unseres kontingenten apriorischen Wissens, auf das wir alle Wahrnehmungen und Erinnerungen auftragen. Die Struktur ist der Basso continuo, die Erlebnisse sind die wechselnden Themen und Variationen.
Wir bemerken weiterhin, dass der Urmodus des Glaubens, der alle selbsttätigen Bewusstseinsprozesse wie Meinen, Wahrnehmen und Erinnern kennzeichnet, ein identitätsstiftendes Merkmal von Personen darstellt, die ein ihrer Zustände bewusstes Leben führen. Etwas zu glauben heißt, der Meinung zu sein, dass p, und nicht der Meinung zu sein, dass nicht-p, heißt, mehr oder weniger starke Evidenzen dafür zu haben, etwas wahrgenommen oder sich an etwas erinnert zu haben. Der Urmodus des Glaubens selbst ist zeitlos, doch alles, was er intentional auffasst, versieht er mit zeitlichen Indizes.
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