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Ich, du, wir

31.05.2015

Aus der Grammatik sozialer Institutionen

Wenn wir uns begegnen, weisen wir uns gegenseitig den sozialen Ort zu, den wir jeweils für angemessen oder von der Sache her für geboten halten. Hast du einen Termin mit deinem Vorgesetzten, gebietet es die Sache, ihn dir vor- und dich ihm unterzuordnen. Treffen wir uns als Freunde, stehen uns alle Möglichkeiten offen: Unterordnung des einen unter den anderen oder Gleichordnung. Allerdings müssen wir möglichst bald die Schere der Möglichkeiten schließen, sonst droht uns Verstrickung in kommunikative Paradoxien oder das Siechtum der Handlungsverhinderung.

Betrachten wir dies an einem Beispiel: Wenn du dich mit deinem Vorgesetzten triffst, ist es meist ohne weitere Diskussion ausgemacht, wer wem den Vortritt lässt. Also sagst du höflich: „Nach Ihnen!“, wenn es darum geht, gemeinsam einen Raum zu betreten. Der Konsens über die Gepflogenheiten der Höflichkeit ermöglicht die geordnete Handlung, dass zuerst dein Chef und hernach du den Besprechungsraum betritt und verhindert die kommunikative (und unfreiwillig komisch wirkende) Paradoxie, dass jeder dem anderen den Vortritt lassen möchte und am Ende weder der eine noch der andere den Raum betritt.

Wenn ihr aber dank der sozialen Institution der Höflichkeit oder der Riten des Alltags erfolgreich den Raum betreten habt, kannst du sagen: „Wir haben den Raum betreten“ – und benennst mit „wir“ nicht eine mythische Verschmelzung deiner Person mit der Person des Vorgesetzten, sondern den Sachverhalt, dass du und dein Chef eine koordinierte Handlung vollzogen habt, wobei zuerst dein Chef und hernach du den Raum betreten hat. Tatsächlich bezieht sich „wir“ auf die Identität des intentionalen Gegenstandes, die einer gemeinsamen Handlungsabsicht von mehreren Personen zugrundeliegt: „Wir wollen die Handlung X vollziehen“ bedeutet: Du und ich wollen X in geordneter Weise vollziehen.

Wir bemerken, dass Ordnungen oder Typisierungen von sozialen Positionen und die Ritualisierung von Handlungen zum Erfolg der Verwirklichung von gemeinsamen Absichten und das heißt zum Erfolg des Funktionierens von sozialen Institutionen beitragen.

Unsere Freundschaft begründet nicht die Existenz eines mythischen Wir, sondern bedeutet die Synchronisierung und Koordinierung deiner und meiner Absichten und Handlungen derart, dass wir diese mit Adverbien wie „freundlich“, „aufmerksam“ oder „zuvorkommend“ qualifizieren können. Ich kann mit dir befreundet sein, auch wenn ich deine Überlegenheit in Sachen Literatur oder Gesang oder deine charakterliche Überlegenheit in Bezug auf Intuition oder Ausdauer anerkenne. Wir müssen nur darin übereinkommen, dass wir ein Gleichgewicht unserer Interaktionen auf lange Sicht herzustellen bemüht sind. Wenn nur ich das Gespräch dominiere oder wenn nur du bestimmt, wo es langgeht, kommen neben den verheißungsvollen freundschaftlichen Gefühlen rasch aversive oder feindliche Gefühle auf. Das meinen wir eben mit der Rede von der Qualifizierung unserer Absichten und Handlungen mit den Adverbien „aufmerksam“, „freundlich“ und „zuvorkommend“.

Wenn wir miteinander befreundet sind, hat dies zur unmittelbaren Folge, dass die meisten anderen nicht mit uns befreundet sind, wenn auch meine Freundschaft mit dir nicht ausschließt, dass ich mit jemand anderem befreundet sein kann, von dessen Existenz du nicht einmal Notiz genommen hast – und vice versa. Doch wenn wir uns für morgen zu einer Wanderung verabreden, kannst du davon ausgehen, dass ich nicht wider alle Erwartung mit einer anderen Person an unserem Treffpunkt erscheinen werde, die sich fraglos berechtigt fühlte, an unserer Wanderung teilzunehmen. Wenn ich dir eine Mail schreibe, kann ich getrost davon ausgehen, dass du sie nicht mit einem satirischen Kommentar auf deiner Facebook-Seite zur vergnüglichen Rezeption an deine sogenannten Freunde auf Facebook weiterleitest. Wir sprechen in solchen Fällen rechtens von Vertrauensmissbrauch und Treuebruch.

Wenn wir unsere Absichten und Handlungen im Sinne der Freundschaft synchronisieren und koordinieren, verständigen wir uns über die Identität intentionaler Gegenstände wie eine gemeinsame Wanderung, indem ich meine Wanderschuhe anziehe und meinen Rucksack packe und mit der U-Bahn zum vereinbarten Startpunkt fahre und du deine Wanderschuhe anziehst und deinen Rucksack packst und zu demselben Startpunkt fährst. Alles geschieht so, wie es auch geschähe, wenn du oder ich jeweils allein und auf eigene Faust eine Wanderung unternehmen wollten. Der Unterschied besteht darin, dass wir unsere Handlungen synchronisieren und koordinieren. Doch dann wandern wir gemeinsam, betrachten gemeinsam die Gegend, setzen uns gemeinsam auf eine Bank und verköstigen unsere Wegzehrung, angeregt plaudernd.

Wenn wir ein jeder für sich ermüdet von unserer Wanderung nach Hause zurückgekehrt sind, ist das Wir dieser freundschaftlichen Handlung, der Wanderung, vergangen, jedoch nicht das Wir unserer Freundschaft, insofern jeder für sich auf die eine oder andere Weise Erinnerungen an unsere gemeinsame Wanderung nachhängen oder jeder sich von angenehmen Träumereien davon beflügeln lassen mag, wie wir demnächst erneut einen gemeinsam Ausflug unternehmen werden.

Wenn wir uns als Freunde auf weite Strecken verstehen, müssen wir leider in Kauf nehmen, dass wir uns zumindest auf kurzen Strecken missverstehen. Du bist von unserem Ausflug enttäuscht, denn er entsprach nicht deinen Erwartungen an eine ausgedehnte Wanderung, sondern war nur ein längerer Sonntagspaziergang. Ich bin über unseren Ausflug enttäuscht, denn er entsprach nicht meinen Erwartungen an eine erholsame Wanderung, denn er war eine strapaziöse Krakselei über Berg und Tal. Wir haben uns über die Identität unseres gemeinsamen intentionalen Gegenstands nicht richtig verständigt: Zumindest einer von uns hatte das Nachsehen.

Wir können, was wir über die Ordnung und Typisierung der sozialen Position bei der Freundschaft, über die Synchronisierung und Koordinierung von Absichten und Handlungen in Hinsicht auf ein Wir, die Inklusion und Exklusion, die Stabilität und Fragilität des Wir und die Probleme der Individuierung und Identifizierung eines gemeinsamen intentionalen Gegenstandes sagten, auf die Struktur und Funktionsweise der sozialen Institution überhaupt übertragen und anwenden.

Wir bemerken, dass soziale Institutionen wie Freundschaft, Ehe und Familie, Unternehmen, Vereine, Armeen, Rechtsinstitute wie Bündnisse, Verträge und Staaten, Spiele oder das Geld weder konkrete Objekte wie Stühle, Tiere oder Menschen noch Massen wie Blut, Meere oder Wolken sind, sondern einen ontologisch ausgezeichneten Status innehaben, weil sie durch die Absichten und Handlungen von Personen und deren Synchronisierung und Koordinierung konstituiert werden. Wie dauerhaft und stabil die Absichten, so dauerhaft und stabil die Institutionen, und vice versa: Wie kurzatmig und fragil die Absichten, so kurzatmig und fragil die Institutionen. Das darf nicht Wunder nehmen, betreten wir mit dem Konzept der sozialen Institution doch das wandlungsreiche Feld der menschlichen Geschichte.

Das ontologisch auszeichnende Merkmal sozialer Institutionen ist die Isomorphie von Handlung und Sprache oder einfach gesagt, die Tatsache, dass Sprechhandlungen den Aufbau und die Funktionsweise von Institutionen bedingen und tragen, aber auch in Frage stellen und zerstören können.

Wenn ich deinen Vorschlag, morgen einen gemeinsamen Ausflug zu unternehmen, mit „Ja“ beantwortet habe, stelle ich mit meiner Handlung, am darauffolgenden Tag am Startpunkt erschienen zu sein, unter Beweis, dass ich deinen Vorschlag verstanden und akzeptiert habe. Wenn ich trotz der Zusage nicht am Treffpunkt erschienen bin, zeige ich damit, dass ich entweder deinen Vorschlag nicht verstanden oder missverstanden oder dass ich ihn verworfen habe. Wenn sich durch Nachfrage herausstellen sollte, dass meine Zusage nicht ernst gemeint oder eine Lüge war, habe ich durch diesen Affront, dich orientierungslos am Treffpunkt warten gelassen zu haben, den ersten Stein des Anstoßes für die Zerstörung unserer Freundschaft ins Rollen gebracht.

Das institutionelle Gleichgewicht der wechselseitigen Erwartungen und Ansprüche, das wir durch aufeinander abgestimmte Kommunikationen regeln, kann aus den Fugen geraten und sich in eine nicht mehr kontrollierbare Dynamik von Paradoxien und Handlungsstaus verstricken – so wie im komischen Beispiel der beiden Personen, die sich nicht einigen können, wer nun wem den Vortritt beim Betreten des Zimmers lässt. Deine Freundin, schon seit jeher dominanten Wesens, zeigte sich zunehmend übergriffig und bedrängte dich am Telefon mehr und mehr mit ihren Fragen, ungebetenen Ratschlägen und Aufforderungen. Du, eine stille und zurückhaltende Natur, wurdest immer einsilbiger und verstummtest mehr und mehr. Dann warst du erschöpft und hast den Hörer nicht mehr abgenommen, sobald du ihre Nummer auf dem Display erkannt hattest. Deine Freundin geriet außer sich und hat dich über Wochen mit Telefonanrufen terrorisiert. Dann wurde es still. Die Freundschaft war gestorben.

Wir können die oszillierenden Ausschläge des institutionellen Gleichgewichts der Erwartungen abfedern und ausgleichen, wenn wir selbstreferentielle Schleifen in unsere Kommunikation einbauen: Du bemerkst an meiner müde geheuchelten Begeisterung auf deinen Vorschlag, morgen eine große Wanderung zu unternehmen, dass ich einem solch anstrengenden Unternehmen aufgrund von Erschöpfung mehr als skeptisch gegenüberstehe, aber aus Angst, dich zu enttäuschen, nicht mit der Wahrheit herausrücke. Du kannst deinen Vorschlag daraufhin modifizieren und vorgeben, dass dir einfalle, morgen sei vielleicht nicht der richtige Tag, da du selbst übermorgen einen anstrengenden Arbeitstag vor dir habest. Du nimmst dich also zurück, indem du meine Zurückhaltung spiegelst. So können wir weiterkommen. Wenn du allerdings konstatieren musst, dass meine ablehnende Haltung deinen Vorschlägen gegenüber renitent und zur Methode wird, hat bald eine andere Stunde geschlagen und die Zurückhaltung hat ein Ende.

Als Christus gemeinsam mit den Aposteln das Abendmahl feierte und die Einsetzungsworte mit der Aufforderung besiegelte, sie sollten dies zu seinem Gedächtnis in Form einer eucharistischen Feier weiterhin tun, gründete er mit diesem Sprechakt eine Institution, die dem Anspruch nach die Pforten der Hölle nicht überwinden sollen. Und sie ist ja trotz heftigster Oszillationen ihrer Geschichte lebendig. Aus welcher Quelle speist sich das Leben dieser Institution?

Sie ist vergleichbar dem gemeinsamen Gedächtnis von Freunden, die mit einer Gedenkfeier regelmäßig des Gründers ihres Freundschaftsbundes gedenken. Ja, dadurch dass sie die Gaben verteilen, die er damals zu seinem Gedächtnis gereicht hat, ist es, als wäre er in ihnen anwesend, auch wenn die Hoffnung, die Erwartung, dereinst seiner lebendigen Gegenwart teilhaftig zu werden und ihm selbst einmal ins Antlitz zu schauen, dadurch nicht gemildert, im Gegenteil sogar genährt wird.

Wir bemerken, dass die Kirche als soziale Institution sich nicht auf die Offenbarung eines Gesetzes oder eines moralischen Kodex gründet und daher keine Buchreligion genannt werden kann. Sie gründet sich auf das Gedächtnis einer Person und deren Leben und Sterben in ihrer Bedeutung für den Einzelnen.

Die Freunde sagen: „Ich denke an dich“ oder: „Ich habe an dich gedacht“, wenn sie vom anderen fern waren und er ihnen gefehlt hat. Die Freundschaft trägt das Leben der Freunde als Institution gleichsam auch über Zeiten äußerlicher Entfernung und Abwesenheit hinweg. Das Gedächtnis aneinander wird beflügelt durch die Hoffnung und Erwartung, sich bald, sich morgen wiederzusehen. Die soziale Institution, möchten wir sagen, trägt das Leben, wie eine Brücke Menschen über einen Abgrund führt, über die Abgründe der Ungewissheit und Fragwürdigkeit in die Zukunft: „Morgen sehen wir uns wieder.“

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