Hugo von Hofmannsthal, Gute Stunde
Interpretation
Hier lieg ich, mich dünkt es der Gipfel der Welt,
Hier hab ich kein Haus, und hier hab ich kein Zelt!
Die Wege der Menschen sind um mich her,
Hinauf zu den Bergen und nieder zum Meer:
Sie tragen die Ware, die ihnen gefällt,
Unwissend, daß jede mein Leben enthält.
Sie bringen in Schwingen aus Binsen und Gras
Die Früchte, von denen ich lange nicht aß:
Die Feige erkenn ich, nun spür ich den Ort,
Doch lebte der lange vergessene fort!
Und war mir das Leben, das schöne, entwandt,
Es hielt sich im Meer, und es hielt sich im Land!
Wir sind auf der Suche nach dem logisch-semantischen Sinn lyrischer Sätze wie:
Über allen Gipfeln ist Ruh
oder eben:
Hier lieg ich, mich dünkt es der Gipfel der Welt
Wir kennen den logisch-semantischen Sinn in der funktionalen Bedeutung, wie uns der nichtlyrische Satz, der Bergsteiger habe auf dem Gipfel der Welt gestanden, darüber unterrichtet, daß der Bergsteiger den Mount Everest bestiegen hat, oder der nichtlyrische Satz, der Schreiber des Briefes vom 6. September 1780 an Charlotte von Stein habe im Thüringer Wald bei Ilmenau Ruhe vor dem Lärm und Getriebe der Stadt gefunden, das Erlebnis der Waldesstille und Ruhe bedeutet, auf die Goethe in dem berühmten Gedicht anspielt, das er in der Hütte auf dem Gickelhahn an die Wand geschrieben hat (oder haben soll).
Diese deskriptiven Sätze berichten demnach von einem Ereignis oder Erlebnis. Aber berichtet der lyrische Satz:
Hier lieg ich, mich dünkt es der Gipfel der Welt
von einem Ereignis, und berichtet der lyrische Satz:
Über allen Gipfeln ist Ruh
von einem Erlebnis?
Lassen wir den hiermit berührten logisch-semantischen Fragenkreis vorerst liegen und wenden uns dem Gedicht „Gute Stunde“ von Hugo von Hofmannsthal zu.
Zunächst bemerken wir, daß wir in einen sanft beschwingten und leicht tragenden Rhythmus des singenden Sprechens geraten, der uns wie die angesprochenen Menschen „hinauf zu den Bergen und nieder zum Meer“ durch alle Zeilen ohne banges Zögern und ohne zweifelnden Aufenthalt mitnimmt.
Der daktylisch gedehnte Rhythmus trägt, aber reißt nicht mit, er belebt, aber ohne Leidenschaft. Er kehrt in einer gefälligen und anmutigen Monotonie stets in sich zurück. Diese Rückkehr ist wie ein auf dem Grund der Seele lautlos wogendes Erinnern, das im Paarreim der doppelzeiligen Strophen mit vollem Sinnklang ins Bewußtsein tritt.
Die Größe dieser lyrischen Sprache zeigt sich in der Schlichtheit, Unmittelbarkeit, Direktheit des Ausdrucks. Nichts ist schlichter als der Satz:
Die Wege der Menschen sind um mich her
Nichts von Erlesenheit, Ziererei und symbolistisch verrätselter Metaphorik verdunkelt den klaren und transparenten Spiegel, aus dem das Gesagte wie ein sanft lächelndes Gesicht hervorblickt.
Und doch ist dieses Gesicht nicht ohne eigenes Geheimnis, das sich allerdings nicht in dilettantischer Manier durch wilde Grimassen aufdrängt oder mit falschen Tränen kokettiert. Das Gesicht ruht auf transparentem Spiegelgrund in ungreifbarer Nähe und lebendigen, unverschleierten Blicks.
Schon in den Reimen verspüren wir einen sanft gepaarten Gegensinn, der nicht stört und stachelt, sondern sich ungezwungen fügt. Auf dem Gipfel der Welt findet sich für den Sprechenden kein Zelt, die Wege der Menschen gehen hin und her, von den Bergen zum Meer, sie wissen nicht, daß sein Leben enthält, was ihnen zu tragen gefällt, Früchte, von denen er lange nicht aß, sind umschlungen von Gras, der vergessene Ort lebte wie die Feige fort, und das schöne Leben war ihm entwandt und blieb doch in jenem Land.
Die Schlichtheit des Gesagten rankt sich um einen leicht geschwungenen Spannungsbogen, den der Dichter mittels der Verwendung von Negationen (1), gegenläufigen Wendungen (2) und gegensinnigen Begriffen (3) andeutet (von denen wir den nicht ausdrücklich genannten Gegenbegriff leicht erschließen können):
1.1 Die gute Stunde, die ihn auf dem Gipfel der Welt findet, gewährt ihm kein Bleiben und keine bleibende Stätte (kein Haus, kein Zelt).
1.2 Die Bauern und Händler, die Früchte tragen, wissen nicht, daß diese das verborgene und vergessene schöne Leben des Sprechenden enthalten.
1.3 Der Sprechende hat schon lange keine der Früchte gegessen, die ihm jetzt vor Augen sind.
1.4 Den Ort (den Gipfel der Welt), an dem er jetzt die exemplarische Frucht des Südens, die Feige, erblickt, hatte der Sprechende lange vergessen und doch lebte er fort.
1.5 Das schöne Leben, das der Sprechende vergessen hatte oder das ihm unter dem Schleier des alltäglichen Daseins verborgen blieb, hielt sich unversehrt (im Meer, im Land).
2.1 Der Sprechende liegt, doch auf einem ragenden Gipfel.
2.2 Folgende gegenläufigen Wendungen sind selber gegenläufig oder chiastisch gebaut:
Hinauf zu den Bergen und nieder zum Meer (2. Strophe)
Es hielt sich im Meer, und es hielt sich im Land! (6. Strophe)
3.1 Vom Dasein der guten Stunde, die wir mit dem Kairos oder dem günstigen und beglückenden Augenblick mythischen Vorstellens vergleichen, schließen wir auf all die gleichgültigen Augenblicke einer leeren Zeit.
3.2 Das ephemere Verweilen auf dem Gipfel der Welt, des Lebens, der Zeit kontrastiert mit der Einhausung des Daseins auf der Ebene seiner Alltäglichkeit, die südliche Insel des hellen Glücks mit dem nordischen Kontinent trüben Geschicks.
3.3 Hier lieg ich. Wir liegen aber krank danieder, zur Liebe oder zum Tode. Den Sprechenden dünkt es aber nicht Ohnmacht, nicht der Jubel der Erhöhung, sondern ein dritter Zustand, denn liegend-erhaben schaut er rings des Lebens seltsame Spiele und verschlungene Wege.
3.5 Wenn das schöne Leben sinnlich greifbar wird in den Früchten des Südens und insbesondere in der Feige, schließen wir auf die Unfruchtbarkeit und Sterilität eines Lebens, das den Kairos nicht kennt, der solche Früchte gewährt.
3.6 Das schöne Leben geht im Kairos auf wie die Erinnerung an den süßen Geschmack der Feige. Die Erinnerung kann ganz ins Dunkel des gelebten Augenblicks abtauchen, doch wird sie gleichsam dinglich vor dem Vergessen bewahrt in eben den Früchten und Bildern südlichen Lebens, der Feige, dem Meer, und der blauen Luft Griechenlands oder Italiens.
3.7 Das schöne Leben kann dem Sprechenden zwar entrissen werden und ist somit nicht seiner Verfügung und autonomen Machenschaft anheimgestellt, aber es lebt im Meer und im Land fort.
Was aber ist dieses Meer, dieses Land anderes als das Gedicht selbst? Das Meer, das Land, die gute Stunde, das schöne Leben sind eine Evokation des dichterischen Worts, sie hätten ohne dieses nicht das ephemere Dasein, das ihnen der Augenblick des Gedichts verleiht, sie blieben vergessen, wenn das dichterische Wort mit seiner beschwörenden Erinnerung an den Kairos an ihnen nicht festhielte.
Gewiß, das Meer des Gedichts rauscht nicht, aber seine Bläue leuchtet zwischen den zarten Schatten der Zeilen; die Feige des Gedichts ist nicht eßbar, und doch vergönnen die duftigen Laute des Gedichts einen Nachgeschmack ihrer Süße; gewiß, die frühen Bilder der Italiensehnsucht sind durch die massenhaft durchorganisierte Freizeitindustrie verschandelt und im Hochglanz verkitschter Trivialität erloschen, und dennoch berührt der Dichter uns einen fast ertaubten Nerv, der für das Gefühl der Schönheit des Lebens am Meer und in südlichen Hainen in einem kurzen Moment, dem Augenblick des Gedichts, in seiner ganzen Süße und Fülle erwacht.
Kehren wir abschließend zu unserer Ausgangsfrage nach dem logisch-semantischen Status und Sinn der Sätze des Gedichts zurück. Fragen wir, wer solche Sätze sagt, wenn es heißt:
Hier lieg ich, mich dünkt es der Gipfel der Welt
Gewiß nicht jener Hugo von Hofmannsthal, der sich an eine seiner Reisen und Aufenthalte in Italien oder Griechenland erinnerte, auch wenn das Gedicht nicht ohne Realien wie das Meer, die Früchte und die Feigen denkbar sein mag, deren Bilder der Heimkehrende mit sich trug. Wenn nicht der biographisch faßbare Dichter, wen meint das sprechende Subjekt?
Es ist das inspirierte, von der Gunst der Stunde bezauberte Leben selbst, das spricht. Das Leben, das seiner verborgenen und vergessenen Schönheit eingedenk ist. Es ist das Wesen, welches die Antike die Muse des Gedichts genannt hat. Sie spricht stellvertretend für den Leser, sie sagt, was zu denken er vergessen hat, sagt, was sich seiner Erinnerung im Dunst der leeren Zeit entzogen und verflüchtigt hat.
Die Sätze des Gedichts sind demnach keine deskriptiven Sätze, die uns über ein Ereignis unterrichten oder vom Erlebnis eines empirischen Subjekts in Kenntnis setzen. Ihr logisch-semantischer Status ähnelt den Phänomenen Husserls, die ungeachtet ihrer empirischen Geltung am Horizont des reinen Bewußtseins aufscheinen.
Doch kann uns dieser Hinweis nicht wirklich befriedigen. Sind die Sätze der Dichtung auch nicht im trivialen Sinne wahrheitsfähig, so sind sie doch mehr als Bilder eines L’art pour l’art. Das Gedicht Hugo von Hofmannsthals folgt nicht den blendenden Spuren der symbolistischen Dichtung eines Mallarmé, die schwanenhaft aus dem Nichts auftaucht und wie eine geisterhafte Epiphanie wieder ins Nichts entschwindet. Vielmehr ist in dieser Dichtung eine an Goethe gemahnende Fruchtbarkeit oder lebendige Fülle bewahrt, die wie die Frucht des Südens in das offene Fenster des stiller Lektüre Hingegebenen überhängt.
Wir können die Frucht nicht jederzeit und an allen Orten lesen und pflücken. Auch wir Lesende bedürfen der günstigen Stunde, um uns für das Bild der verborgenen Schönheit des Lebens empfänglich zu machen. Der Kairos des Gedichts muß mit dem Kairos der gelingenden Lektüre koinzidieren.
Wir können es auch so sagen: Wie sich das schöne Leben, scheinbar entschwunden und von dem Sprechenden abgewandt, im Meer und im Land des Gedichts gehalten und bewahrt hat, so vermag uns die Frucht des dichterischen Worts an seinen verhüllten Glanz zu erinnern.
Wir ahnen etwas vom Sinn des dichterischen Worts, wenn wir es mit dem Duft vergleichen, der uns aus verborgenen oder schon vergessenen Gärten in Augenblicken unwillkürlichen Verweilens zwischen dem Hin und Her des Daseins unverhofft anweht und an den Sommertag der Kindheit erinnert, doch wissen wir nicht wem und von wannen, als wären nicht wir das Kind gewesen, sondern ein Kind, das wir hätten gewesen sein können.
Das Gedicht, das von der Ruhe über den Gipfeln spricht, berichtet weder von einem ihm äußerlichen Sein noch läßt es uns an der Empfindung des Sprechenden teilhaben, die wir wie es uns beliebte nachfühlen oder ignorieren könnten. Das Gedicht evoziert die Ruhe, von der es spricht, es stellt die Einkehr der Stille über den Gipfeln und in den Wipfeln bis hinab zum kreatürlichen Dasein nicht dar, sondern vollzieht sie.
Das Gedicht, das vom Kairos der Erfahrung und Erinnerung des schönen Lebens spricht, ist der Mund dieses Lebens selbst, das wie die süße Frucht, die unter südlicher Sonne heranreift, in der heiteren Luft zwischen Bergen und Meer, den uralten Bergen des Sinns und den wogenden Rhythmen des Meers, verborgen keimte und im Altertum des Fruchtbaums der Feige und Olive, dem Wurzelstock und den Knospen des Gedichts, standhielt.
Wer die Stille über dem Lärm der Welt sich erbitten und beschwören läßt, dem klebt gewiß nicht unablöslich eine der grellen oder trüben Fratzen einer dämonischen Vulgarität medial gefilterten Brüllens, Emporkreischens und Niedergrölens an, oder kann er wie wir alle ihr kaum entrinnen, so will er für sich doch mit der Einkehr der Stille eine Umkehr des Begehrens und eine erneuerte Hellsicht des Träumens.
Wer des schönen Lebens im Verweilen auf dem Gipfel der inneren Welt inmitten des auf- und niedergehenden Lebens gedenkt, mag sich ohne eitle Vermessenheit der Nietzscheanischen kleinen Schar der Freunde des Sublimen zugesellen wollen, und wenn er wie wir alle die Verrohung und Verhäßlichung des Lebens der großen Städte an der eigenen seelischen und geistigen Physiognomie über sich ergehen läßt und daran Schaden nimmt, widerfährt ihm doch bisweilen die Erinnerung des Gedichts an die köstliche Reinheit seines Ursprungs wie dem waidwunden Reh der frische Trunk aus der unverhofft unter seinem Tritt aufgesprungenen Quelle.
Zuletzt enthüllt sich uns ein neuer, alter Sinn lyrischer Sätze. Die Ruhe über allen Gipfeln gilt uns als Anmutung und Zumutung, es mit dieser Form des Fühlens und Sinnens zu wagen. Wir selber mögen auf dem Gipfel der Welt ein ruhendes und weithin schauendes Verweilen finden. Im Kern der scheinbar deskriptiven Sätze der Gedichte Goethes und Hofmannsthals erschließen sich eine Inspiration und Evokation mit sittlichem Aufforderungscharakter, eine Forderung freilich, die sich nur im Atmen der seelischen Luft des dichterischen Worts, also auf eine ästhetische oder im Hofmannsthalschen Sinne schöne Weise des Lebensvollzugs erfüllen läßt.
Da sind nur Worte, und fast alltägliche und nicht sehr weither gesuchte, Haus und Zelt, Menschen, Berge und Meer, Binsen und Gras und Früchte, und wieder Meer und Land, Land und Meer, über allem aber wie ein Hauch der blauen Luft das schöne Leben. Gewiß gibt uns ihre Stellung wie Haupt und Glieder, parallel und über Kreuz, als gereimtes Paar oder als gegensinnige Begriffe das Maß an Rhythmus und Wohllaut. Aber die Quelle, aus der alles tönt, das sprechende Ich, bleibt seltsam verhüllt. Es ist wie die Grenze der Sprache, die selbst ohne Bild und sprachlos bleibt.
Doch ist das Naheliegende zu sagen, es sind deutsche Worte, Worte eines deutschen Gedichts. Sie werden aber in fast fremder Umgebung, am Meer des Südens, gesagt. Wir treffen auf das eigentümliche Phänomen, wie sich das Gesicht deutscher Dichtung an der mediterranen Sonne bräunt oder Lichtreflexe der Lagune sich flackernd und irrlichternd auf ihm spiegeln.
Die Flucht des deutschen Dichterworts aus der stickigen Atmosphäre des Fin de Siècle in das frische Wehen adriatischer Böen wiederholt in gewissem Sinne paradigmatische Fluchten wie die Hölderlins aus der Dürftigkeit der Herkunft zum blauen Funkeln hippokrenischen Quells.
Noch ist das schöne Leben des Gedichts ein fremdartiges Luft- und Schaumgebilde, ist die Frucht, die seine Intensität spürbar und schmeckbar macht, die exotische Feige. Noch ist sein zarter Schaum nicht am Leib der Liebe herabgeronnen, der Sprechende einsam auf dem Gipfel des innigen Selbstgefühls.
Wenn erst die Anmutung und Zumutung, dem Leben in der Kultur der deutschen Sprache schönen und sublimen Ausdruck zu verleihen, auf den Dichter mit der Wucht erneuerter sittlicher Anforderung anprallen, wird der Sprechende aus der Verborgenheit des Gedichts auftauchen. Doch dann läßt er die transparente Schale des lyrischen Ausdrucks wie zerbrochen hinter sich, und Hugo von Hofmannsthal wird sich dem sozialen Gehalt des Lebens in der poetischen Form des Dramas zuwenden. Der Sinn der dramatischen Sprache ist aber insofern ein anderer als der Sinn der frühen Lyrik Hofmannsthals, als der aus der Innigkeit des verborgenen Lebens Sprechende sich in der Spannung der sprachlichen Gemeinschaft nationaler Kultur komödiantisch behaupten oder tragisch untergehen muß.
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