Horaz verstehen
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Fingerzeige zur Interpretation der horazischen Ode I, 38
Eben sahst du in der Kippfigur der Hasen-Ente die Ente, jetzt siehst du den Hasen. Das Bild sprang um, sagen wir, oder wechselte unvermutet den Aspekt.
Vielleicht, könnten wir vermuten, sind in dem Augenblick des Aspektwechsels etliche Neuronen in deinem Gehirn anders synaptisch verschaltet worden. Doch das, was du siehst, kann auf keine Weise auf das, was in deinem Gehirn geschah, abgebildet werden.
Die Vermutung über den neuronalen Prozess, der statthat, wenn du statt der Ente nunmehr den Hasen erblickst, könnte empirisch unter Zugrundelegung einer Hypothese getestet werden der Art: Immer wenn die Neuronen A, B, C funken, sagt der Proband: „Jetzt sehe ich einen Hasen.“ Wenn die Hypothese durch eine hinreichende Anzahl von Experimenten bestätigt wird, gehen wir davon aus, sie sei vermutlich richtig oder wahr oder sehr wahrscheinlich.
Doch in der Kippfigur jetzt eine Ente und jetzt einen Hasen zu sehen, ist nicht in irgendeinem Sinne richtig oder wahr, unrichtig oder falsch.
Sehen, dass der Mann im Park dein Freund Peter ist, unterscheidet sich grundlegend davon zu glauben, dass der Mann im Park dein Freund Peter ist, auch wenn sich herausstellen sollte, dass der Mann im Park nicht dein Freund Peter war. Denn wenn wir unseren Freund Peter im Park sehen, glauben wir ihn nicht in dem Sinne zu sehen, wie das Elternhaus, das wir nach längerer Abwesenheit wieder aufsuchen und mit einem alten Foto vergleichen, das wir mitgebracht haben, erfreut über die Tatsache, wie eins dem anderen ähnelt, oder missvergnügt ob der eingetretenen baulichen Veränderungen.
Wenn Restauratoren sich der Aufgabe widmen, bei einem antiken Mosaik, das einen Heros oder eine Gottheit darstellt, die Lücken auszufüllen, müssen die Art und Qualität der Tonscherben sowie die Größe und Farbigkeit der genau zurechtgeschnittenen Stücke derart ausfallen, dass wir nach Einsatz der fehlenden Teile den Eindruck eines vollständigen oder gelungenen Kunstwerks gewinnen.
Ähnliches können wir sagen, wenn Philologen eine Lücke im überlieferten Textbestand durch eine sogenannte Konjektur ergänzen. Das ergänzte Bruchstück muss nicht nur dank seiner grammatischen und semantischen Funktion die Lücke derart füllen, dass der gesamte sprachliche Ausdruck nunmehr verständlich wird, sondern die Wahl des Wortes muss gleichsam wie die eingesetzte Tonscherbe des Mosaiks die Farbwerte und Valeurs seiner Umgebung widerspiegeln.
Die ergänzten Teile des Mosaiks und der ergänzte Text fügen sich nahtlos in das Gesamtbild ein. Wir sagen: „Ja, so stimmt es!“
Wenn der Pianist die Bachsche Fuge sowohl getreu nach der Partitur als auch im Geiste Bachs spielt, sagen wir: „Ja, so stimmt es!“
Im Unterschied zu wahr und falsch sind Ausdrücke wie „stimmig“, „angemessen“, „ausgewogen“ und „passend“ Prädikate, mit denen wir den Ausdruckswert einer künstlerischen Aussage bestimmen. Sie sind demnach ästhetische Prädikate zweiter Stufe, die unsere Beschreibungen eines ästhetischen Eindrucks mittels Prädikaten erster Stufe wie „idyllisch“, „unheimlich“, „burlesk“, „komisch“ oder „tragisch“ einordnen und gewichten.
Einem Stück, in dem die Charaktere groteske Züge haben und die Handlung komische Volten schlägt, würden wir die Bezeichnung Tragödie absprechen und sagen, diese Bezeichnung sei unangemessen oder unstimmig.
Dagegen finden wir eine gewisse Harmonie des Heiter-Burlesken und des Unheimlichen in manchen Idyllen wie denen Eduard Mörikes.
In der Rhein-Hymne von Friedrich Hölderlin (und nicht nur in dieser) finden wir gewisse Stimmungen und Tonarten auf die Reihe ihrer Strophen verteilt, so eine Stimmung des naiven Tons, der pathetischen Stimmung oder der tragischen Besinnung. Die gegenfügige, ausgeglichene Verteilung dieser Stimmungen, Anklänge und Tonarten nennen wir passend, angemessen oder ästhetisch ausgewogen.
Dichterische Verschwiegenheit ist eine Form der Diskretion, bei der das Ungesagte das Gesagte wie ein Hauch den Strauch anrührt, bei der das Ungesagte auf dem Gesagten aufruht wie der stumme Schatten auf der Mauer.
Ist der Wind verstrichen, scheinen der Strauch und sein Blattwerk wie erstarrt. Steht die Sonne im Zenit, verblasst der Schatten auf der Mauer.
Ebenso töricht wie zu fragen, mit welchem Gewicht der Schatten auf der Mauer lastet, wäre es, das Gesagte nach Dellen oder Einbeulungen zu untersuchen, die das Gewicht des Ungesagten auf ihm hinterlassen haben.
Der „Erlkönig“ von Goethe drückt das Unheimliche aus, aber redet nicht darüber.
Wir können das Unheimliche, das in Goethes Erlkönig Gestalt annimmt, als Liebeswunsch identifizieren, der sich nur durch den Tod erfüllt. Doch um seinen Inhalt zu beschreiben, müssen wir wiederum auf den Inhalt der Gleichnisrede zurückgreifen, mit der jener unheimliche Geist oder das Gespenst seiner dunklen Todessehnsucht das Kind bezaubert und in Bann schlägt.
Dichterische Formen wie die Formen der Ode, der Stanze oder des Sonetts können wir ähnlich wie die Fuge oder den Sonatensatz als bedeutungstragende und bedeutungsstiftende Strukturen betrachten, doch scheinen sie wie Schneekristalle zu tauen und sich in ungreifbare Feuchtigkeit aufzulösen, wenn wir ihnen mit dem Atem einer Neugierde zu nahe kommen, die ihre Bedeutung gleichsam vom Blatt ablesen will.
Wir könnten vermuten, dass die kristallartige Festigkeit der klassischen dichterischen Form das Gesagte gegen die Prozesse der Auflösung und Zersetzung bewahren soll. Oder dass der Kristall der Form das Gesagte für die Erinnerung aufbewahren soll.
Betrachten wir die Verwendung von Blumennamen in einer berühmten kleinen Ode des Horaz (Oden I, 38):
Persicos odi, puer, apparatus,
displicent nexae philyra coronae,
mitte sectari, rosa quo locorum
sera moretur.
Simplici myrto nihil adlabores
sedulus, curo: neque te ministrum
dedecet myrtus neque me sub arta
vite bibentem.
Mich stößt ab Perserprotz und zuwider, Knabe,
sind die Kränze mir, die mit Bast verzwirnten.
Such nicht mehr, wo unter Schatten späte
Rosen verglühen.
Lass die Myrte schlicht, das Gekünstel trübt den
Eindruck. So du dann mir die Schale spendest
und ich leere sie unter Weinlaubs Dämmer,
schmückt uns die Myrte.
Horaz fordert, wir paraphrasieren, seinen jugendlichen Sklaven, der ihn bedient, auf, ihm keine üppig verflochtenen Kränze aufzuhängen, wie es am Hof des persischen Königs Sitte war, auch die prangende Rosenknospe verschmäht er zugunsten der schlichten Myrte und er findet seine Genüge, unter schattigem Rebenlaub seinen Wein zu trinken, ja zum Symposion lädt er den ihm sozial und gewiss vom Bildungsrang her unterlegenen Bediensteten ein.
Hier beleuchtet der Dichter nur einen Aspekt im metaphorischen Bedeutungsfeld des Wortes „Rose“, der sich durch die feinsinnige Kontrastierung mit der Myrte ergibt, nämlich die verschwenderische und gleisnerische Üppigkeit der späten, schon welkenden Blüte, die er mit dem Luxus und Prunk am exotischen Hof des notorisch schwerreichen, sinnlichen Genüssen und ästhetischen Reizen verfallenen Perserkönigs assoziiert. Wie das Bild müder, wollüstiger Trägheit in der haltlos aufgetanen Knospe aufschimmert, deren schwere Blütenblätter sich bereits ablösen und welke Träumen gleich zu Boden sinken!
Was bedeutet das Spiel mit den Namen der Blumen Rose und Myrte bei Horaz? Die späten Rosen verschmäht der Dichter und weist damit diskret auf einen üppig schwellenden und strotzenden Eros, der ihm mit seinem allzu betörenden Glanz den milden Schatten der Altersresignation nicht verscheuchen soll.
Doch ist die Genügsamkeit, die der Dichter unter dem dichten Laub der Reben sucht, nicht von stoischer Härte, nicht wie in ein Dorngestrüpp verschanzt. Vielmehr gemildert durch verfeinerten Genuss, auf den die Myrte weist: Auch sie ist wie die Rose der Göttin Aphrodite zugeeignet, doch bezeugt die Sitte, dass die jungfräuliche Braut einen Kranz aus Myrten zu tragen pflegte, den kulturell durch die Ehe eingehegten Aspekt der Sexualität.
Dass der Sklave (puer), der dem Dichter Myrten statt Rosen bringen und ihm den Wein kredenzen soll, zum Gastmahl eingeladen wird, dieser bemerkenswerte Umstand scheint ein milder Reflex der Freizügigkeit, mit der die Festtage des Dionysos oder Bacchus tierhafte Fratzen und Masken verteilte, hinter denen sich die soziale Herkunft leicht verstecken ließ.
In dem kleinen Gedicht, das so leicht beschwingt ohne große Worte, ohne Namen und abstrakte Begriffe daherkommt, geht es doch um eine grundsätzliche sittliche Entscheidung. Denn hinter der Alternative von Rose und Myrte, Luxus und Bescheidenheit, Überfluss und Maß, steht die große historische Entscheidung zwischen Orient und Okzident. Horaz hat sie als Mann der Besonnenheit und Repräsentant römischer Virtus gefällt. Seine Wahl orientierte sich am Sieg des Augustus über Marcus Antonius und Kleopatra in der Seeschlacht bei Actium am 2. September 31 vor Christus, durch den die Gefahr der Orientalisierung des römischen Reiches abgewandt worden war und die Bewahrung und Erneuerung altrömischer Tugenden im Reformwerk des ersten Kaisers auf den Weg gebracht wurde. Ohne Augustus kein Imperium Romanum, ohne Imperium Romanum keine Kultur des Christentums, ohne christliche Kultur kein Bach und kein Mozart, kein Dante und kein Goethe.
Klassische Gedichte, können wir sagen, enthalten entscheidende Augenblicke der historischen Besinnung und Aufforderungen an den Leser, die nahegelegte Entscheidung nachzuvollziehen.
Vergleichen wir das Gesagte mit den Bildmotiven gotischer Fenster und das Ungesagte mit dem Licht, das in sie je nach Tageszeit gedämpft oder leuchtend einfällt. Das durchscheinende Licht macht die Bilder allererst sichtbar, wenn wir auch auf den Augenblick verwiesen bleiben, in dem sie uns der Strahl, mehr oder weniger luzid, mehr oder weniger getrübt, zur Anschauung freigibt.
Vergleichen wir das Gesagte mit dem angeschlagenen Ton und das Ungesagte mit den immer mitschwingenden, obwohl kaum oder nur halbbewusst vernommenen, in harmonischer Reihe aufsteigenden Obertönen.
„Rose“ ist der von Horaz angeschlagene Ton, „Luxus“, „Unmaß“, „hinwelkende Pracht“, „Orient“ sind mitschwingende Obertöne, „Myrte“ ist der von Horaz angeschlagene Ton, „Maß“, „Bescheidenheit“, „Virtus“, „Okzident“ sind mitschwingende Obertöne.
Können der afrikanische oder australische Buschmann, der schwarze Slumbewohner von Detroit oder der weiße Lehrer an der Gesamtschule in Kassel oder Berlin das Gedicht des Horaz verstehen? Nein. Ihnen fehlen entweder die kulturellen Voraussetzungen, denn weder Rose, Myrte, Rebe und Wein noch ihre tradierte Symbolik sind im afrikanischen oder australischen Busch heimisch. Oder die Bildungsvoraussetzungen, in diesem Falle das an der Tradition klassischer Dichtkunst verfeinerte Gehör, das sie in die Lage versetzte, die Obertöne der von Horaz verwendeten Blumennamen mitschwingen zu hören.
Dichtung ist demnach ebensowenig wie Musik eine universale Sprache, die angeblich mit keinen lokalen kulturellen Kontexten unauflöslich verknüpft wäre. Die Idee der Universalität von Sprachen der Kunst ist entweder ein Zeichen der Dummheit einer ins Grenzenlose verfließenden pseudoromantisch-dekadenten Empfindung und Gefühlsduselei oder Zeichen der Arroganz einer sich allen anderen moralisch überlegen dünkenden Pastoren- und Gesamtschullehrerkaste, die wähnt, ihr einfältiger Singsang vom letzten Menschen sei Weltmusik. In deutschen Landen ist sie allerdings beides.
Wir mögen im Morgenlicht die Bildmotive auf dem gotischen Fenster anders sehen als im Abendlicht. Oder wir mögen im Morgenlicht andere Bildmotive sehen als im Abendlicht.
Das Gedicht legt uns keine Beschreibung von wirklichen oder möglichen Sachverhalten vor, die wir glauben oder nicht glauben, wie ich deiner Aussage, du habest gestern deinen Freund Peter im Park gesehen, glauben oder nicht glauben kann. Ich kann daran zweifeln, dass der Sachverhalt zutrifft, oder ich kann versuchen, unabhängige Zeugen ausfindig zu machen, die deine Aussage bekräftigen oder widerlegen.
Die dichterische Aussage ist nicht von dieser Art. Ich könnte daran zweifeln, dass der vom Kaiser gleichsam nobilitierte Horaz sich mit seinem Laufburschen gemein gemacht hat. Ich könnte einen scheinbar tiefschürfenden psychologischen Verdacht hegen, Horaz habe mit der Verklärung des Gewöhnlichen seinen Neid auf extravaganten Luxus und erotische Fülle verdeckt.
Doch führen uns weder biographisch-historische Studien noch psychologische Spekulationen ins Zentrum des Gedichts. Es ist damit wie mit dem Sehen: Entweder du siehst nur die Ente in der Kippfigur, oder dein Seh-Aspekt schlägt um, und jetzt siehst du den Hasen.
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