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Herrschaft der Zeichen

07.04.2015

Wenn dir evident ist, dass es hier grün ist, ist dir ebenfalls augenscheinlich, dass es hier nicht blau und nicht rot ist. Wenn mir evident ist, dass es hier grün ist und nicht schwarz und nicht weiß, liegt die Vermutung nahe, dass aus dem apriorischen Wissen von dem, was uns erscheint, ein tatsächliches Wissen von dem, was ist, folgt, nämlich, dass es hier grün ist und weder blau noch rot noch weiß noch schwarz.

Eine schwarze Tischplatte ist gänzlich von einem weißen Tuch bedeckt, das an einer Stelle ein kleines Loch hat, durch das die Tischplatte durchscheint. Du kannst nun behaupten, dass die Tischplatte an der Stelle, die das Loch freilässt, schwarz ist und nicht blau oder rot. Aber ob die Farben Blau und Rot an anderen Örtern zum Beispiel in einem farbigen Muster auf der Platte nicht doch auftreten, weißt du nicht. Wenn du nun weitere Löcher in die Tischdecke schneidest und dort weiterhin ausschließlich auf die Farbe Schwarz triffst, liegt die Vermutung nahe, die du in einer Form der induktiven Verallgemeinerung äußerst, dass die ganze Platte schwarz ist oder alle Örter auf der Platte die Farbe Schwarz aufweisen. Aber wenn du die Tischdecke wegziehst, entdeckst du, dass am Rand ein verdeckt gebliebener Fleck rot ist.

Wir bemerken, dass unser korrekter Gebrauch der Zeichen durch die Grenzen dessen, was sie bezeichnen, positiv und negativ bestimmt ist.

Wenn die positive Verwendung eines Zeichens hier und jetzt die positive Verwendung beliebig vieler anderer Zeichen implizieren würde, würde die Eindeutigkeit und Klarheit des verwendeten Zeichens oder die Eindeutigkeit und Distinktion der Verwendung dieses Zeichens immer weiter eingeschränkt bis zu einer Grenze, jenseits deren weitere Implikationen anderer Zeichen die Lesbarkeit und Bedeutung des verwendeten Zeichens gänzlich verwischen oder auslöschen würden.

Wir nennen die unkontrollierte Überlagerung und Überdeckung eines Zeichens durch beliebig viele Zeichen, die zu dem ersten Zeichen in der Relation der Ähnlichkeit stehen, Assoziationen oder freies Spiel der Einbildungskraft. Assoziationen über ein Zeichen sind wie freie Improvisationen über ein musikalisches Thema: Wie dieses sich mittels überraschender Einfälle oder Stimmungs- und Dur-Moll-Wechsel vom Ausgangspunkt weit entfernen und erst zu guter Letzt zum Ausgangsthema zurückkehren mag, so verlieren frei assoziierte Zeichen das Ausgangszeichen oft nach wenigen Schritten oder Sprüngen bereits aus dem Auge, und nichts garantiert, dass sie zum Ausgangspunkt zurückfinden. Eine solche Art der Darstellung mag geistreich sein und den Anschein von Tiefsinn vermitteln, sie mag und darf auch bloß unterhaltsam sein – und das meiste, was uns von den hohen Regalen der Philosophie, der Geisteswissenschaften oder der Psychoanalyse entgegenblickt, hat die lockere Substanz dieser intellektuellen Baisers –, nur eins ist all das nicht: redliches, schweißtreibendes, ernsthaftes Bemühen um Wahrheit, sondern das gleichsam verliebte Herumstreunen oder trunkene Hin- und Herwanken im gepflegten Park oder dem wilden Dickicht der Metaphern.

Das elementarste Beispiel für die Gefahr, die der Verwendung der Zeichen durch ihren Missbrauch droht, zeigen uns die Elementarzeichen für die Position und die Negation. Wenn „ja“ gleichzeitig „nein“ bedeutete, implizierte jeder Satz seinen Gegensatz und nichts mehr wäre klar oder überhaupt bedeutungsvoll.

Man kann so weit gehen und die Grenze der Vernunft und des Wahnsinns mit der Beherrschung der Bedeutungen von „ja“ und „nein“, der Position und der Negation, definieren.

Wir nennen ja einen Menschen, der nicht nein sagen kann, auch willensschwach. Aber einen Menschen, dem sich die Grenze zwischen dem, was er bejaht, und dem, was er verneint, verwischt, müssen wir mehr als willensschwach, nämlich geistesschwach nennen. Jemandem, dem die Grenze der Position und Negation verschwimmt, ist an der Haut seines Ich gleichsam porös und löchrig. Was durch die Löcher eintritt, weiß er nicht korrekt zu bezeichnen: Die anderen fallen ihm gleichsam ins Wort oder beschatten und umgeistern den Claim der Zeichen, den er sich abgesteckt zu haben glaubt. Wer spricht, wenn er mit sich spricht oder in sich hineinhört?

Wir nennen die Form der Abwehr des seelisch Kranken, dem die Grenzen zwischen der Position und der Negation verschwimmen oder der die Herrschaft über die Zeichen für das Innen und das Außen verloren hat, gegen diesen psychischen Zustand der Ohnmacht oder Anarchie Verfolgungsangst.

Wir bemerken, dass wir Wahrnehmungsurteile wie die Behauptung, das hier sei jetzt grün, gewinnen können, indem wir uns auf die Position beschränken; denn die Negationen wie die, dass hier und jetzt nichts blau oder rot ist, sind evidente logische Implikationen. Anders steht es um Begriffe wie Vater, Freund, Arbeitgeber. Hier gelangen wir zur Position eines Urteiles nicht durch Wahrnehmung eines spezifischen Phänomens – nichts an der Wahrnehmung eines Mannes weist ihn unmittelbar als Vater aus –, sondern durch die Information über eine Relation: Von allen Männern, die Kinder haben oder keine Kinder haben, nennen wir Väter diejenigen, die Kinder haben. Wir schließen aus der Menge aller Männer diejenige Menge der Männer aus, die keine Kinder haben. Die Negation ist also ein echter Bestandteil des Urteils, wen wir als Väter bezeichnen.

Das Kind ist Kind des Vaters, der Vater nicht Kind des Kinds. Die Relation ist asymmetrisch. Wer eine Person in seinem Unternehmen angestellt hat, ist Arbeitgeber, der Angestellte hat niemanden angestellt und kann niemanden anstellen. Die Relation ist ebenfalls asymmetrisch. Wer mit jemandem befreundet ist, weiß und kann davon ausgehen, dass jemand mit ihm befreundet ist. Die Relation ist symmetrisch.

Der Sohn einer jüdischen Mutter, der den Einweihungsritus der Synagoge, die Bar Mizwa, absolviert hat, ist ein Mensch jüdischen Glaubens. Die jüdische Glaubenszugehörigkeit ist wie die meisten religiösen Zugehörigkeiten oder Identitäten eine Position, die eine gewisse Menge von Negationen impliziert. Ein bekennender Jude kann nicht gleichzeitig Christ, Moslem oder Atheist sein. Die jüdische Position schließt andere Positionen nicht aus, so kann ein Jude Deutscher, Amerikaner, Pole oder Israelit sein. Die religiöse Identität oder Position ist zugleich eine kulturelle Identität oder soziale Praxis. Die Praxis manifestiert hinreichend eindeutige Zeichen der religiösen Identität, zum Beispiel die Tatsache, dass der fromme Jude sich an die mosaischen und talmudischen Speisevorschriften der koscheren Küche hält. Ein Mensch, der vorgibt Jude in diesem Sinne zu sein, aber in Wahrheit nicht koscher lebt, ist entweder ein Schwindler oder willensschwach oder geistesschwach in dem oben definierten Sinne.

Besonders charakteristisch wirkt sich die Herrschaft der Zeichen in Gruppen aus, die sich aus dem sozialen Umfeld der dominanten Gruppen ausgrenzen und etwa sogenannte Geheimgesellschaften, revolutionäre Vereinigungen oder Verbrecherbanden wie die Mafia bilden. In ihnen finden wir neben der allgemein gepflegten Umgangssprache Geheimsprachen oder Geheimcodes, an denen sich die Mitglieder erkennen oder in denen sie ihre konspirativen Absprachen treffen. Wer es wagt, den Geheimcode unbefugten Dritten zu entschlüsseln, gilt als Verräter und wird vor das Femegericht gestellt.

Wir bemerken, dass sich Willensschwäche und Geistesschwäche in der Unfähigkeit darstellen, die Zeichen zu beherrschen, die zu beherrschen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Identität erfordert. Der Zusammenbruch des Willens zur Herrschaft über die sprachlichen Zeichen manifestiert sich in der Schizophasie genannten Krankheit in der Unfähigkeit, die sozial erwarteten und geforderten Sprechakte korrekt oder angemessen zu identifizieren und zu vollziehen. Der Kranke hört die an ihn gerichtete Frage, kann sie aber entweder als solche nicht identifizieren oder nicht angemessen beantworten. Statt einer Antwort wiederholt er beispielsweise die Frage als Behauptung.

Die Anarchie der Zeichen ist also ein Symptom der Unfähigkeit zur Kommunikation, nicht ist umgekehrt die Verzerrung der Kommunikation, wie angeblich durch böse Mütter oder fatale Liebhaber, die Ursache der Anarchie der Zeichen. Der Kranke verweigert sich nicht der ihm unerträglich gewordenen Kommunikation mit der Mitwelt und Umwelt, er verkapselt und verirrt sich nicht aus bösem Willen in seine Krankheitseinsamkeit oder um seine Unbotmäßigkeit zu bekunden, sondern aus Willens- und Geistesschwäche erliegt er dem Chaos der Zeichen.

Die Erklärung des devianten Verhaltens des Kranken leidet oft an dem logischen Fehler einer Verwechslung der Korrelation mit der Kausalität: cum post hoc ergo propter hoc. Infolge der Krankheit verzerren sich die kommunikativen Bahnen, es hat aber den Anschein, als reagiere der Patient mit seinen Symptomen auf die verzerrte oder wie man gern romantisch sagte entfremdete oder entfremdende (schizophrenogene) Situation. Aufgrund der zunehmenden Willens- und Geistesschwäche, mag diese nun hirnpathologische oder chemisch-neuronale Ursachen haben, verliert der Kranke beispielsweise die Fähigkeit der Elementarunterscheidung von „ja“ und „nein“, von Position und Negation. Er verweigert dem Angehörigen, dem Freund oder dem behandelnden Psychiater die Antwort auf eine an ihn gerichtete schlichte Frage nach seinem Befinden oder nach irgendeinem ihm im früheren Leben einmal interessanten Gegenstand. Er leugnet vielleicht sogar ein solches Interesse je gehabt zu haben oder scheint den Fragenden mit einer unzusammenhängenden Suada in die Irre und an der Nase herumführen zu wollen. Oder es scheint so, als wolle der Kranke mit mystifizierenden Reden seine mentale Haut vor solchen Frage-Zudringlichkeiten schützen.

Da ist leicht spekulieren und sinnieren, ob denn dieses Verhalten nicht seinen geheimen Sinn vor dem Hintergrund eines beeinträchtigenden oder traumatisierenden Verhältnisses des Patienten zu diesem Angehörigen oder Freund oder Arzt gewinne und offenbare. Wenn aber der Kranke beispielsweise einem paranoischen Wahn erlegen ist, wird er selbst den Freund, der sich immer von seiner besten Seite gezeigt und auch in der Not sich aufopferungsbereit zur Verfügung gestellt hat, des Verrats, der Intrige oder giftmörderischer Absichten verdächtigen oder bezichtigen. Der Kranke hat die Herrschaft über die Zeichen bereits verloren: Weil ihm deshalb alle Mitteilungen und Wahrnehmungen schief und verzerrt vorkommen, verdächtigt er die anderen, ihm die geistige Souveränität durch verwirrende Botschaften oder raffinierte Beeinflussungen oder Suggestionen bizzarester Art streitig machen zu wollen.

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