Gut gemeint oder klar gedacht
„Der Augenblick ist die Ewigkeit.“
Gut gemeint ist meist das Gegenteil von klar gedacht.
Wie könnte man unklares Denken besser definieren als durch den glänzenden Widerspruch, nämlich etwas zu behaupten und zugleich die Möglichkeit der Wahrheit der Behauptung zu leugnen?
„Das ist deine Meinung!“ – „Als Christ kann man schließlich nichts anderes sagen!“ – „Jeder nach seiner Fasson!“
Die ästhetische Auffassung, jedes Phänomen aus seiner Mitte und dem Puls seines Daseins zu betrachten, kommt der Wahrheit am nächsten.
Wäre uns das Gehirn zum Zweck der Planerfüllung unseres Erdenwallens gegeben, wären wir elend dran. Und es so zu treiben, führt evidentermaßen ins Elend. Aber Hirn und Geist und Vernunft gedeihen und blühen um ihrer selbst willen, wenn sie gedeihen und blühen!
Die Utilitaristen füllen die Leistungsbilanz des Lebens mit den Pluszeichen unter der Rubrik „Vergnügen“ und den Minuszeichen unter der Rubrik „Leiden“. Leider fehlen die entscheidenden Rubriken „Laster oder Verbrechen“ und „Tugenden oder gute Werke“. Denn sie durchkreuzen die Bilanz, wenn sich das fette Quantum an Lustgewinn dem Laster und der Häufung von bösen Taten verdankt oder das Leiden kompensiert wird durch die Zahl der guten Werke.
Die Blume ist ein ganzes Dasein in der Zwiebel oder in der Blüte. Sie verliert nichts, wenn sie die Samen streut und die Blütenblätter abfallen.
Tatsachen sind keine Argumente. Die Tatsache des Sterbens ist kein Argument gegen die Tatsache der Geburt.
Für die Komplexität der Lebensphänomene verfügen wir nicht über ein einheitliches Kriterium der Bewertung – schon gar kein moralisches.
Wir wissen nicht, ob ein ganz und gar leidvolles Dasein besser nicht gezeugt und geboren worden wäre – denn es gibt stellvertretendes Leiden, es gibt die Aufopferung im Dienst, es gibt das Martyrium.
Manchmal paart sich physisches Leid mit metaphysischem Glück.
Die Möglichkeiten des Unglücks wachsen proportional zu den Möglichkeiten des Glücks.
Würden wir ewig leben, steigerte diese Aussicht nicht unser Behagen am Dasein, im Gegenteil, jeder Augenblick würde durch die graue Unendlichkeit der folgenden Augenblicke entwertet.
Die Einmaligkeit unseres Daseins ist die Quelle der Verzückung wie der Bedrückung. Wir können nicht eines ohne das andere haben.
Der Märtyrer, der in der Folter mit sich oder seinem Gott einig bleibt, ist nicht unglücklich.
Größer als die Lust ist die Freude über ein gelungenes Werk oder eine gute Tat. Sie krönt die verdienstvolle Mühe. Die Lust ist geschenkt, aus ihr folgt nichts und sie bewirkt nichts.
Die Schwester der Freude ist nicht das Leid, sondern die Sorge. Die Sorge, die Lebenshemmnisse – für sich, für den Geliebten, den Freund, das Kind – ausräumt, freut sich an der freien Sicht, dem geklärten Horizont.
Freude überragt Lust in dem Maße wie Sorge die Unlust.
Die um Liebe leiden widerlegen den Pöbelmaßstab der Maximierung des physischen Vergnügens.
Je feiner und feinnerviger die Organisation des Lebens, umso köstlicher tasten seine Fühler nach den Nuancen des Glücks, umso schmerzlicher sind die Verletzungen an den Stacheln des Unglücks.
Wer die größere Lust mit dem größeren Verbrechen bezahlt, kann der als glücklicher und glückseliger Mensch gepriesen werden?
Lippen, die von Blut triefen, grölen, sie finden keinen Reim für den Lobgesang auf das Leben.
Nicht Lust und Unlust sind auf der Waage des Lebens verteilt, sondern in der einen Waagschale sind Lust und Unlust, in der anderen Gut und Böse. Tendierten einmal die Faktoren Lust und Böse gegen null, Unlust und Gut aber wären gleich bemessen oder tendierten zum anderen Male die Faktoren Unlust und Gut gegen null, Lust und Böse aber wären gleich bemessen, erschiene beide Male die Waage der Lebensbilanz trotz gegensätzlicher Ergebnisse vollkommen ausgeglichen, die Lebensbilanz wäre im Gleichgewicht und Lot. Das demonstriert die Unsachgemäßheit der utilitaristischen Rechnung.
Das Laster ist kein Einwand gegen die Tugend, das Unrecht kein Einwand gegen das Recht, die Dummheit kein Einwand gegen die Vernunft. Im Gegenteil: Das Laster wälzt sich unbewusst um sich selber, das Unrecht weiß nicht, was es tut, die Dummheit strotzt vor Selbstbewusstsein. Nur die Vernunft kennt sich und ihren Widerpart.
Über die Nicht-Existenz können wir nicht urteilen.
Es ist unsinnig, sich zu fragen, wie es wäre, ein Exemplar des anderen Geschlechts zu sein, es ist noch unsinniger, sich zu fragen, wie es wäre, nicht geboren zu sein, und es ist um noch eine Stufe unsinniger, sich zu fragen wie es wäre, wenn die Welt nicht existieren würde.
Unsere Existenz und die Existenz der Welt sind absolute Grenzen des Denkbaren.
Wir wissen nicht, was es bedeutet sich vorzustellen, die Erde, das Weltall, das Leben, wir selbst würden nicht existieren.
Uns vorzustellen, wir wären uns nicht begegnet, hat keine Relevanz für die Tatsache, dass wir uns begegnet sind.
Vergleichen wir das Dasein hienieden mit einem Theaterspiel, bei dem auch die Zuschauer Akteure sind und während dessen Verlauf nicht nur die Dramaturgie, sondern auch die Spielregeln peu à peu geändert und abgewandelt werden können. Dann steht derjenige, der sich scheinbar dem Mitvollzug des Spiels verweigert, nicht außerhalb des Spiels, er übernimmt vielmehr die Rolle des Narren.
Die Subjektivität oder die Möglichkeit, sich selbst zu fühlen und um sich selbst zu wissen, ist das Welten-Ei. Dummheit fragt, wer es gelegt hat.
Die Möglichkeit und Wirklichkeit der Selbsterfahrung ist kein Welträtsel, das da der Lösung durch die Wissenschaft – ob Physik, Evolutionstheorie oder Neurobiologie – harrt. Denn alles wissenschaftliche Tun setzt die Möglichkeit und Wirklichkeit der Selbsterfahrung voraus.
Wenn man mit der Annahme daherkommt, das Dasein des Selbst mit dem biologischen oder evolutionären Zweck erklären zu wollen und zu können, den es in den Strategien des Lebens und Überlebens der Organismen erfüllt, düpiert man nicht nur das Publikum und sich selbst durch einen wissenschaftlichen Scheinbegriff teleologischer Provenienz, sondern schleicht um die Tatsache herum, dass Subjektivität gleichsam um ihrer selbst willen oder als Selbstzweck existiert.
Die Annahme, Gott sei der Schöpfer der Welt und der Ursprung des Lebens, ist sinnvoller als die Annahme, alles sei einem fluktuierenden Vakuum entsprungen, in dem die Möglichkeit der Selbstgegebenheit weniger wahrscheinlich war als das Überwiegen der Materie über die Anti-Materie.
An uns haben wir alles, auch wenn wir uns stündlich entgleiten und verfehlen. Im Augenblick, in dem wir von den Augen die Schleier der allzu drängenden Sehnsucht, der allzu beklemmenden Angst heben, blicken wir in die Ewigkeit.
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