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Grenzen des Begriffs II

05.01.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Die wichtigen Dinge in unserem Leben haben keine Gründe.

Oder keine tieferen Gründe.

Es ist damit wie mit der Vorliebe für Tee oder Kaffee, Bier oder Wein.

Es ist widersinnig zu fragen, warum jemand lieber Bier als Wein trinkt.

Genauso wie zu fragen, warum er Bach den Beatles vorzieht oder umgekehrt.

Wenn wir versuchen, den fröhlichen oder traurigen Ausdruck eines Gesichts zu beschreiben, ohne Worte wie „fröhlich“ oder „traurig“ zu verwenden, scheitern wir.

Eine Maschine könnte in der Lage sein, dem gescannten Bild eines fröhlichen oder traurigen Gesichts die Begriffe oder Etiketten „Freude“ oder „Trauer“ zuzuordnen, indem sie das aktuelle Bild mit stereotypen Bildern eines fröhlichen oder traurigen Gesichts abgleicht. Doch würde der Roboter diese Gesichtsausdrücke nicht in dem Sinne sehen, wie wir sie sehen, nämlich unmittelbar und ohne Vergleich als fröhlich oder traurig.

Wir können uns fragen, ob jemand fröhlich oder traurig, freundlich oder mißmutig, heiter oder streng dreinblickt, ohne die fraglichen Mienen mit einem Standardset von typischen Gesichtsausdrücken zu vergleichen.

Wenn wir versuchen, die anmutige Haltung und Geste des jungen Mannes auf dem Gemälde von Antoine Watteau mit dem Titel L’Indifférent zu beschreiben, ohne Worte wie „anmutig“ oder „graziös“ zu verwenden, werden wir scheitern.

Gewiß haben wir die Verwendung solcher ästhetischen Begriffe und Etiketten wie „anmutig“ und „schwerfällig“, „leichtfüßig“ und „plump“, „verspielt“ und „streng“ auf ähnliche Weise gelernt wie die Verwendung solcher psychologischen Begriffe und Etiketten wie „fröhlich“ und „traurig“, nämlich anhand von Beispielen jener ästhetischen oder psychologischen Phänomene, bei deren Vorkommen wir mit ihrer Benennung vertraut gemacht wurden.

Wir können aber für die Verwendung des ästhetischen Ausdrucks keine tieferen Gründe anführen als für die Verwendung der Farbbegriffe.

Wer die Haltung des Jünglings auf dem Gemälde von Watteau anmutig nennt, reagiert nicht anders als der Passant, der bei Grün über die Straße geht.

Wir könnten unsere Skala von ästhetischen Werten anders einteilen, wie wir es auch mit der Farbskala tun könnten. Dann würden wir jeweils etwas anderes sehen.

Freilich mag es mitunter auch geschehen, daß wir keine Reaktion erkennen. Dann handelt es sich um Fälle von Ausdrucksblindheit, ähnlich der Farbenblindheit.

Wir können den Ausdruck der Freude oder Trauer auf verschiedenen Gesichtern vergleichen. Doch machen wir dies nicht anhand eines gleichsam idealen Bilds, das unseren Begriff dieser Gesichtsmienen auf vollkommene Weise darstellen und exemplifizieren würde.

Wir bemerken die Ähnlichkeit der Gesichtszüge von Mutter und Kind. Doch nicht so, daß wir beide wiederum an einem idealen Bild eines gleichsam vollkommenen Typus dieser familiären Verwandtschaft messen. Sondern wir sehen die Ähnlichkeit unmittelbar.

Es ist widersinnig zu fragen, warum wir die Gesichtszüge von Mutter und Kind ähnlich finden. Wir wüßten keine tieferen Gründe dafür anzugeben.

Wie wir wissen, daß es sich bei einem Paar Schuhen um zwei Schuhe handelt, wissen wir um die Gleichheit der Anzahl von einem Dutzend Äpfeln und von zwölf Äpfeln, weil wir gelernt haben, ein Dutzend als Synonym für die Zahl Zwölf zu verwenden.

Wie wir wissen, daß es sich bei natürlichen Eltern um Mann und Frau handelt, wissen wir um die eheliche Liebe als eine Relation zwischen Mann und Frau und um die elterliche Liebe als eine Relation zwischen Eltern und Kindern.

Um zu verstehen, was mit ehelicher Liebe oder mit elterlicher Liebe gemeint ist, müssen wir uns demnach nur darauf verstehen, eine spezielle Relation zwischen Gatten oder Eltern und Kindern korrekt zu benennen.

Wenn wir sagen, Walter sei in Helga verliebt, wissen wir alles, was damit gemeint ist. Wir könnten nicht Walters seltsames Betragen, sein Erröten, wenn die Rede auf Helga kommt, oder seine Aufregung, wenn er sich zu einem Rendezvous mit Helga auf den Weg macht, verstehen, wenn wir nicht annehmen, er sei in Helga verliebt.

Wir könnten das Verhalten eines Verliebten nicht sinnvoll beschreiben, ohne Worte wie „Verliebtheit“ oder „verliebtes Lampenfieber“ zu verwenden.

Wenn wir nach Gründen suchen, die Walters Verhalten erklären, können wir nicht auf irgendwelche chemischen und neuronalen Ereignisse in seinem Gehirn verweisen. Denn wenn wir auch wüßten, daß sich solche chemischen und neuronalen Ereignisse in Walters Gehirn abspielen, wenn er errötet oder Lampenfieber hat, verstehen wir sein Erröten und sein Lampenfieber nur, wenn wir davon ausgehen, daß er verliebt ist.

Wie mit der Liebe und dem Verliebtsein verhält es sich mit allen anderen Gemütsbewegungen wie Freude, Trauer, Zorn, Haß, Eifersucht oder Neid und den sprachlichen Ausdrücken, mit denen wir sie benennen.

Wenn wir wissen, daß Peter traurig ist, weil sein Vater kürzlich verstorben ist oder seine Frau ihn verlassen hat, haben wir wichtige Gründe für seinen Zustand vorgebracht. Sie machen alles Suchen nach weiteren Gründen überflüssig.

Wenn Karl eifersüchtig auf seine Freundin ist, weil sie ihn mit Walter betrogen hat, wissen wir zugleich, daß er auf Walter neidisch ist, weil dieser die Zuneigung seiner Freundin erlangt hat.

Es ist widersinnig zu fragen, warum Peter traurig ist, wenn wir wissen, daß sein Vater verstorben ist oder seine Frau ihn verlassen hat, wie es widersinnig ist zu fragen, warum Karl eifersüchtig ist, wenn wir wissen, daß ihn seine Freundin betrogen hat.

Wenn es um die Anwendung der basalen sprachlichen Ausdrücke auf unsere Gemütsbewegungen und all der aus ihnen entspringenden Verwicklungen und Lebensgeschichten geht, finden wir uns gleichsam in einer abgeschlossenen Welt des Sinns und des Verstehens wieder.

Wir können auch sagen, in den Geschichten, bei denen es um Liebe und Haß, Freude und Trauer, Eifersucht und Neid geht, sind wir zu Hause. Wir benötigen keine weiteren und keine anderen Begriffe als beispielsweise die Begriffe Trauer, Eifersucht und Neid, um die Geschichte von Peter und Karl zu erzählen und zu verstehen.

Wenn wir erfahren, daß Walter sich verliebt hat, ist es widersinnig zu fragen, warum. Wenn Peter wegen des Todes seines Vaters traurig ist, ist es widersinnig zu fragen, warum.

Wir können an einer gewissen Grenze der Anwendung unserer grundlegenden oder einfachen Begriffe nicht weiter nach Gründen ihrer Anwendung fragen.

Die wichtigen Dinge, um die es uns geht, oder die Lebensgeschichten, in die wir verwickelt sind und in denen wir einander begegnen, haben keine tieferen Gründe als die, die wir für die Trauer des Sohnes um seinen Vater oder die Eifersucht des Mannes auf seine Frau anführen. Gründe, die mehr erklären würden als beispielsweise das Verliebtsein das Erröten und das Lampenfieber des Verliebten, sind redundant. Sie gleichen rhetorischen Schnörkeln aus nichtssagenden Worten.

Würde man nach anderen und tieferen Gründen für die Geschichten, um die unser Leben spielt, Ausschau halten, wäre ihr Erklärungswert etwa so groß, wie wenn man jemandem, der nicht weiß, was der Begriff „Junggeselle“ bedeutet, erklärte, das sei ein unverheirateter Mann.

 

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