Grenzen des Begriffs I
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wir sind verführt zu meinen, der Begriff einer Sache, wie „Mensch“, „Spiel“ oder „Sprache“, enthalte ein wesentliches oder notwendiges Merkmal, das allen Vorkommnissen dessen, was wir so nennen, oder allen Exemplifikationen des Begriffs einheitlich und eindeutig zukomme. Aber dies erweist sich als semantische Fiktion oder als von unserer Art, mit Hauptwörtern um uns zu werfen, inspirierte Illusion.
Wir halten bei allen Begriffen, die wir nicht wie die Eigenschaft des Junggesellen, unverheiratet zu sein, tautologisch definieren, jeweils ein Bündel von Merkmalen in Händen, von denen wir weder annehmen noch wissen können, daß es vollständig ist.
Wir könnten eines Tages vor der Frage stehen, ob wir ein synthetisch hergestelltes Lebewesen unserer Gattung zurechnen, was das uns vertraute Merkmal des Menschen, das natürliche Produkt zweier anderer Menschen zu sein, über Bord würfe. Auf der anderen Seite können wir neuartige Spiele oder grammatische Formen erfinden, ohne gezwungen zu sein, unsere Begriffe von Spiel und Sprache zu erweitern.
Alle tiefsinnig daherkommenden Begründungen für Dinge, an denen uns gelegen ist, erweisen sich als trivial.
Wir meinen wunders einen gewichtigen Unterschied zu machen, wenn wir statt zu sagen, etwas finde unser Gefallen, sagen, es sei schön. Doch weder im einen noch anderen Falle kommen wir auf einen grünen Zweig mit dem Begriff und der Bedeutung dessen, was wir damit meinen.
Wir können nur immer Beispiele nennen, um den Sinn unserer Rede von dem zu erhellen, was uns ästhetisch beeindruckt oder für schön gilt.
Wenn wir behaupten, Gott habe das Morden verboten, können wir damit nicht mehr meinen, als daß wir es für unabdingbar erachten, das Töten aus niedrigen Beweggründen unter schwere Strafe zu stellen.
Was macht einen Satz wahr? Die Tatsache, daß wir dank seiner Behauptung im Leben ein Stück weiterkommen.
Den wahren oder wohlgeformten Satz kann man mit einem Ticket vergleichen, mit dem wir eine Reise antreten. Wie der Fahrschein bei einer Kontrolle unsere Berechtigung legitimiert, das Verkehrsmittel zu benutzen, so der Satz unsere Berechtigung, das Kommunikationsmittel der Sprache zu dem gewählten Ziel und Zweck zu benutzen.
Das Bild, das Rätsel des Lebens sei wie ein Schleier vor einem Gesicht, und höben wir ihn, sähen wir es klar und unverfälscht, ist in mehrfacher Hinsicht trügerisch. Denn es gibt weder einen Schleier noch ein Gesicht dahinter. Gibt es aber keinen Schleier und nichts, was er verschleiert, dann auch kein Rätsel.
Die Angst, daß einem die Grenzen wesentlicher Begriffe verschwimmen und vage werden, gleicht der Angst des Schwimmers, der sich plötzlich der ungeheuren Tiefe des Sees bewußt wird, auf dem er sich über Wasser hält.
Doch für den Schwimmer ist der Umstand, daß das Gewässer seicht oder tief ist, ohne Belang, solange er sich über Wasser hält.
Man kann die Begriffe, die Dichter verwenden, nicht ohne den Ton und die Geste verstehen, mit denen sie daherkommen. Ähnlich wie der Duft und Geschmack einer köstlichen Frucht sind sie nicht definierbar.
Wir können nur sagen: „Probiere es selbst!“
Hölderlin benutzt die Begriffe der platonischen, mythologischen und heilsgeschichtlichen Überlieferung. Aber er spricht noch zu uns, auch wenn wir sie nicht mehr für bare Münze nehmen.
Einer kann ein angemessenes Hörverständnis der Bachschen Kantaten entwickeln, auch wenn die christliche Wahrheit ihrer Textgrundlagen für ihn vergangen und bedeutungslos geworden ist.
Die großen Begriffssysteme, die um den ästhetischen Ausdruck kreisen, schrumpfen am Ende auf die Platitude zusammen, daß man um die persönliche Erfahrung dessen, wofür er ein Ausdruck ist, nicht herumkommt.
Eine falsche Disjunktion: Entweder sind die Begriffe vor uns da und wir entdecken sie wie die Sterne am Himmel oder wir bringen sie mit und ziehen Verbindungslinien zwischen ihnen, wie wir es mit Sternen und Sternbildern tun.
Es gibt die Mannigfaltigkeit der Dinge und die Art, wie wir sie sortieren und zählen. So können wir zwölf Äpfel zählen oder ein Dutzend. Aber ein Dutzend sind zwölf, und diese Tautologie ist unbezweifelbar wahr, wenn auch trivial.
Es führt zu einer trügerischen Dialektik zu meinen, man habe mit dem Begriff seine eindeutigen Grenzen abgesteckt und mit den Grenzen sei man schon zum nächsten, umfassenderen und „tieferen“ Begriff vorgedrungen. Denn wir können uns geometrisch oder geodätisch auf der Kugeloberfläche orientieren und sie vermessen, ohne die dritte Dimension des geometrischen oder planetarischen Körpers der Kugel wahrzunehmen oder zu berücksichtigen.
Das Erlebnis des gegenwärtigen Augenblicks ist vage und unbestimmt, der Augenblick kann sich dehnen oder er kann uns wie die feine Naht eines kaum fühlbaren, flüchtigen Übergangs widerfahren, aber wir leben nie auch nur ein winziges Stück in der Vergangenheit oder der Zukunft.
Wenn man die Theologie von der Bürde der platonischen und aristotelischen Begriffe erlöst, wird sie zur Hermeneutik religiöser Erzählungen.
Man muß die Erzählung von der Auferstehung ablösen von der platonischen Idee der unsterblichen Seele.
Die Rede vom Tode Gottes erschließt sich im Lichte der Einsicht in die Sinnlosigkeit der Rede vom Wesen oder dem ontologischen Begriff Gottes.
Wenn man von der Irrealität oder Fiktionalität der Zeit ausgeht, löst sich die Vergangenheit in eine Reihe von Geschichten auf, an die man sich erinnert. Oder die man nach und nach vergißt.
Daß der platonische Mythos des Begriffs sich gegen die religiöse Einstellung neutral verhält, erkennt man daran, daß auf der einen Seite der Atheist Russell den Begriff der Zahl durch ihre Fiktion ersetzte, während auf der anderen Seite sein religiös gestimmter Schüler Wittgenstein sogar die logische Form in die Trivialität der Tautologie auflöste.
Wenn es keinen klar abgegrenzten, einhelligen Begriff des Menschen gibt, so a fortiori keinen eindeutigen Begriff eines einzelnen Menschen oder einer Person. Wir können uns einem anderen und das heißt auch uns selbst nur gleichsam auf Taubenfüßen nähern. Wir tun einen Schritt in seine Richtung, in unsere Richtung, wenn wir Geschichten anhören, die man sich über ihn oder die wir von uns selbst erzählen. Wir tun einen anderen Schritt, wenn wir die Ansichten und Äußerungen im Lichte der Bilder (Fotos etc.) dieser Person betrachten, die wir vielleicht von Kindern beschreiben lassen, und diese Beschreibungen mit ihren Ansichten und Äußerungen vergleichen. Hier können etliche weitere Schritte folgen. Wir kommen nicht zu einer eindeutigen Grenze, die das Wesen der Persönlichkeit umgriffe, ohne daß diese uns deswegen im Dunst des Unbestimmten verschwömme.
Das Leben, das eigene und fremde, verstehen heißt nicht, eine Sammlung oder ein Archiv von Fakten anlegen, die man auf den begrifflichen Faden beispielsweise von Ursache und Folge aufreiht. Das Verstehen ähnelt vielmehr einer Serie von Portraits oder Selbstportraits, die uns nicht wie Fotos eine objektive Wahrnehmung vorgaukeln, sondern das eine Gesicht in eine Reihe von Gesichtern zerlegen, die aus dem Spiegel einer je verschiedenen Beleuchtung und Stimmung emportauchen.
Wir sehen ein Gesicht (ein Portrait), es mutet uns traurig an, wir gewahren, daß hier einer in trauriger Stimmung in die Welt und auf das Leben blickt. Doch an welchen Zügen des Gesichts erkennen wir Traurigkeit? Am Ton der aufgetragenen Farben? An den Linien der Augen oder Mundwinkel? Wir sehen es, wenn wir Augen im Kopf haben. Der Kunstkenner sieht noch mehr, vielleicht eine Traurigkeit mit der Spur von Enttäuschung oder Verbitterung, einem Ingredienz von Weichheit oder Sehnsucht. Der Kenner vermag sogar zu einem ästhetischen Urteil über die Güte, das Raffinement oder die Meisterschaft der Darstellung vorzudringen. Doch wenn wir ihn nach seinen Gründen für sein Urteil fragen, wird er uns mit vagen Begriffen kommen und am Ende auf das imponderable Etwas seiner ästhetischen Erfahrung ausweichen.
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