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Glocken in der Nacht

15.11.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen zur Sprache und zur Sprache der Dichtung

Wir können uns in der Sprache nicht völlig unverdeckt und entblößt entgegentreten.

Können wir es denn überhaupt? Nicht einmal die nackt im Bett Lippe an Lippe, Herz an Herz einander gehörenden Liebenden sind ganz entblößt – und wenn sie sich ihre Liebe gestehen, ist dies ein Echo aus weiter Ferne und tiefer Vergangenheit.

Durchscheinend klare Worte wie „Ich bin spät dran“ oder „Dort kommt unser Freund Peter“ sind transparent auf ihren Sinn nur dank der Umstände ihrer Äußerung.

Was sollen wir sagen, wenn einer auf der faulen Haut liegt und sagt, er sei spät dran?

Manche Kleidungsstücke kaschieren einen körperlichen Makel wie Flecken oder unreine Haut oder Beulen. Ähnlich gewissen Floskeln, die unter dem Schleier höflicher Gesten Langeweile, Überdruß und Widerwillen verbergen.

Füllsel wie „Ich würde meinen“, „quasi“ oder „gleichsam“ suchen vergebens ein Loch im Gedanken zu stopfen.

Der Mensch der Phrase tut es nicht ohne große Worte und gespreizte Begriffe wie „Fortschritt“, „Menschlichkeit“, „das ganz Andere“ oder „das Fremde“.

Die gedanklichen Lücken, die hier klaffen, sind dunkler als das gähnende Maul eines Nilpferds – und stinken nicht weniger übel.

Wortduft, versprüht, um den Gestank der Verwesung zu betrügen.

Der geistreiche Blender, der zur Verblüffung des Publikums schillernde Luftschlangen aus dem Nebel des Diffusen über die Köpfe wirft.

Worte, die den warmen Stallgeruch des Bekenntnisses verströmen.

Was da stinkt, rinnt aus der Angst, falsch verstanden oder besser: richtig verstanden zu werden.

Gleich schreien sie zwei, drei wohlbekannte Namen daher, um sich auszuweisen und nicht verhaftet zu werden.

Der Wahrheitszeuge, der den Scharfrichter mit einem Witz bei seinem witzlosen Geschäft erheitert.

Wer ständig vom Guten im Menschen faselt, hat etwas auf dem Kerbholz.

Vor der Illusion des Sinnenfälligen im zeitlichen Wandel der Kostüme und Masken ist selbst der nüchternste Historiker nicht gefeit.

Was die Menge oftmals laut schreit, muß, folgert Till Eulenspiegel, wahr sein.

Die größten Geister schrieben die größten Werke unter der Zensur.

Wenn der Sieger dem besiegten Volk seine Regierungsform und Sittlichkeit aufzwingt, erklingen in Bälde die Elogen und Hymnen der feigsten und devotesten Dichterlinge.

Warum sollte die Republik höherwertig und edler sein als die Monarchie oder die Adelsherrschaft, wenn die eine von einem minderen Kometen wie Heine ephemerisch angesprüht, die andere von einem Zentralgestirn wie Goethe überstrahlt wurde?

Die Schüler der Kritischen Theorie, also die nicht gerade hellsten und begnadetsten Köpfe, haben sie mundgerecht verwässert und fabrikmäßig in Flaschen abgefüllt, die heute in den Feuilletonredaktionen als kostenloses Erfrischungsgetränk herumstehen.

Nein, sie lernen nicht mehr Latein, aber Respekt, doch nicht vor der Größe eines Horaz und Vergil, sondern vor der eigenen Gemeinheit.

Bei den vielen erhält der Mund seine Botschaften unmittelbar vom Unterleib. Es ist bei diesem dunklen, doch reibungslosen Austausch verwunderlich, weshalb das zur Stummheit verurteilte Herz so lange weiterschlägt.

Psychoanalyse – der ins Dunkel eines freudlosen Arsches gesteckte Gelehrtenkopf.

So viele Typen von Gemeinschaft in ihrem Tun und Lassen, ihrem Werken und Müßiggang, so viele Arten von Moral. Wie trist und öde und auf Dauer unfruchtbar ist auch auf diesem Felde die Monokultur, vor allem die staatlich verordnete.

Die verhängnisvollsten nächtlichen Chimären des Immanuel Kant: die im Schnürkorsett des kategorischen Imperativs schwer atmende Kokotte und der aufgrund der Amputation beider Beine auf der Stammtischeckbank angewurzelte und sich um sein Gedächtnis saufende Anstand des Biedermannes.

Philosophen, die nur eine fixe Idee im Kopf haben und sich damit Beulen an der Mauer des Realen holen, verdienen Mitleid oder Gelächter.

Warum sollte die Menschheit sich entwickeln, womöglich zu höherer Moral oder mit samtpfotig hochgemendelter Hand an Paradiesespforten klopfen? Ist sie ein Rosenstock, der eifrig und sorgsam begossen und gestutzt werden muß? Ist sie ein Hündchen, das nach guter Dressur artig Männchen macht?

Von diesem falschen Sprachbild der Pflanze und des organischen Wachstums datiert eine abstruse Geschichtsphilosophie und Legendenindustrie von Rousseau bis Kant, von Herder bis Hegel (und leider weit darüber hinaus), ja am Ende der verfehlte Begriff der Menschheit selbst.

Und jene Gärtner und Dresseure, wo kommen sie her? Es müssen Ausnahmemenschen sein, Propheten und Messiasse, ob mit Weihrauchschwengel oder Maschinengewehr, einerlei, Hauptsache sie vernebeln den nüchternen Alltagsverstand oder ziehen Stacheldraht um die unbelehrbar Renitenten, die nicht an das Erlösungswerk glauben und von den Erregungswellen der Massenpsychose ans öde Ufer ihres geschichtsphilosophischen Ennui ausgespien wurden.

Sollen die Zwerge und Kinder der sentimentalen Lüge das ewig brausende Meer der Wahrheit mit Nußschalen und Eimerchen ausschöpfen!

Freilich, die Geschichte, wenn sie nicht die Maus der Historiographie ist, die sich durch den Staub der Akten und Archive wühlt, ist Legende, und eine Gemeinschaft, ein Volk, eine Nation ist frei, wenn sie denn frei und ihre Sprachbildner souverän sind, sich seine eigene zu bilden und immer neu zu erzählen.

Die bedeutendste und geistreichste Metapher, die Dichtergeist sich fand, ist das schlichte Bild von Tag und Nacht mit ihren Übergängen von Morgen und Abend, mit der schattenlos-panischen Stille unter dem Zenit der Sonne und dem langsamen Gleiten des Nachmittags in Wassern und Wolken, unerschöpflich ist die Sinnfülle von Morgen und Abend mit den erwachenden Geräuschen der Frühe und den dämmernden Schatten, die wie eine Laube sich um die blaue Stunde wölben. Unerschöpflich ist die Sinntiefe der Nacht und der in ihr mit dem Tode ringenden Hoffnung, der es manchmal vergönnt ist, am Rande des dunklen Horizonts die leise bebende Lippe eines neuen Sagens zu erblicken.

Die abendländische Poesie ist darum so reich, weil sie von Theokrit bis Goethe und Mörike, von Pindar bis Hölderlin und Trakl, und von Sappho bis Novalis und Hofmannsthal das schlichte Bild vom Leben und Sterben des Tags in ihre individuelle Landschaft und ihre Jahreszeiten einzuweben vermochte, vom Tropfen des Schweigens an mediterranen Rosen über die Lerche und die Nachtigall im Tagelied bis zu den Rosen des Schnees auf fernen Gipfeln der Alpen.

Narren, die ihre Kleider wegwerfen und sich nackt dünken.

Der Duft der sapphischen Verse spricht noch aus unseren Rosen.

Was der Styx dem erschrockenen Ohr des Äneas flüsterte, singt noch in unserem Blut.

Sehende Finger der Metapher, die an der Schläfe der schlummernden Geliebten das leise Klopfen des Pulses ertasten.

Den Staub, den sie für Pollen halten, streuen sie dir mutwillig und schamlos ins Gesicht.

Expressionismus – der sterbenden Geliebten Mohn in den Mund stopfen.

In der tiefsten Nacht fern ein Glockenläuten, und nicht wissen, ist es für einen Toten, gilt es neu erwachtem Leben.

 

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