Gier und Geduld
Sentenzen und Aphorismen
Das Haus ist die Heimstätte der Kultur. Näher betrachtet, der wichtigste Teil des Hauses, der Keller, der Speicher oder die Vorratskammer. Hier werden die Lebensmittel gehortet, die das Überleben im Winter und in schweren Zeiten ermöglichen.
Den Vorrat für den Hort muß man sich vom Munde absparen. Wenn man alles Genießbare gleich verzehrt, erübrigt man nichts für später, für die Zeit der Not, für die Zeit des Fests.
Wörter wie Haus, Hort, Scheune, Hütte, Obdach und Bedeckung sind wurzelverwandt. Auch das lateinische obscurus gehört in diese Reihe. Denn das Verborgene, heimlich Gehütete, das kostbare Geheimnis gilt es der rohen Handgreiflichkeit gieriger Mäuler und Hände zu entziehen – und mißgünstiger, niederträchtiger Verräter.
Gehemmter Verzehr und aufgeschobenes Begehren machen die aufgesparten Güter und den Reichtum des Hauses allererst kostbar; so werden Schwellen gehäuft, Schlüssel gefertigt und übergeben, Pfosten eingerammt und Grenzen gesteckt. Manen und Penaten sind die Wächter, solange Hestia brennt.
Die Hut des Eigenen und des Eigentums verkörpert sich in aufgepflanzten Symbolen, Bildern, Dämonen, sie reizen zur Feindschaft die Fremden und Nomaden, Kampf und Krieg sind unausbleiblich.
Aber der geduldig gepflegte Garten wird ewig heimgesucht vom Wuchern der Wildnis, der Kampf mit Harke und Rechen, Sense und Schere hat kein Ende.
So ist der tief wurzelnde Baum, der in langer Geduld die Arme ins Licht reckt, ein Bild der wilden Mächte von Wind und Wetter, und der Blitz kann ihn spalten.
Hölderlin erfuhr die heilige Wildnis im Gewitter und der Sehnsucht der Ströme, sich ins Grenzenlose zu stürzen. Der dionysische Drang der Heroen wird aber abgelenkt, und der Rhein bildet fruchtbare Ufer und gründet dauernde Städte, bis auch über diese die anschwellende Flut kommt oder der Feuersturm.
Die tragische Dimension allen Lebens zeigt sich in seiner Todeslust, da es sich als einzigartiges, individuelles Gebilde notwendig bis in die feinsten Verästelungen des Bewußtseins vereinseitigen und dadurch schuldig werden muß, schuldig im heiteren Glanz des schönen Scheins; wie anders trägt es die Schuld ab als in den zärtlichen oder eruptiven Formen der Hingabe und Verschwendung, in denen es sich ausweint oder schrecklich verblutet.
Geduld oder die Zeit des Wartens und der Erwartung ist der Ursprung des sublimen Eros oder der Liebe.
Aus dem irdisch abgewiesenen Warten auf die Geliebte erblühte Dante die paradiesische Rose.
Der Gierige oder Geile denkt nicht an die Geliebte, ja er haßt ihre Abwesenheit. Und haßt er ihre Abwesenheit, haßt er am Ende oder im Grunde sie selbst.
Verlangen und Haß auf das begehrte Objekt sind in der Gier verschmolzen.
So sind die Abtrünnigen der Erde die Unbehausten, wenn sie die Brüste der Mutter von sich stoßen und ihren Schoß zertreten, weil sie in ihnen die Anhänglichkeit an des Lebens mythische Quellen fühlen, die sie in ihrem Stolz und ihrem Dünkel beschämt.
Anders wieder die Unbehausten, die sich vor dem Haupt des alten Vaters abwenden, weil er sie an die Pflicht mahnt, das Erbe zu hüten oder mitzunehmen, und sei es nur die Nuß aus dem alten verlorenen Garten tief in der Tasche zu vergraben, um sie anderswo einzupflanzen.
Die Kinder vertreiben sich die Zeit des Wartens mit Spielen, für deren Gestaltung sie ihre Phantasie einsetzen.
Dichtung ist die Sprache der Liebe in den Rufen und Anrufen, in den Erinnerungen und Beschwörungen, die der fernen, unerreichbaren Geliebten gelten.
Von der Gier getriebene Stämme und Völker sind meist Räuber oder Händler. Was sie rauben und womit sie Schacher treiben, haben andere geduldig ersonnen und hergestellt.
Die edlen Rassen denken ihr Dasein ins Ewige, wie Kinder, die am Ufer des Stroms Blumeninseln mit brennenden Kerzen bestücken und sie in die Nacht zu naher oder ferner, ja ferner Ankunft auf die Wellen setzen. Oder sie wissen ihr Schicksal eingeschrieben in entrückte Sternbilder, die auftauchen und untergehen und wieder erscheinen, bis ein Weltenjahr sich vollendet.
Die sublimste Erfahrung der Geduld und des Wartens ist die Erfahrung der Ferne, ist das Warten bei der Geliebten, und sei sie noch so nah.
Das Unerreichbare, umfassen die Geliebte auch die Arme des Liebenden.
Ein verwegen-pathetischer Ausdruck der sublimen Liebe, die keinen Abschluß in einer letzten Harmonie mehr zu finden scheint, ist die unendliche Melodie Richard Wagners.
Bach zögert anders, in Zügen auf- und abschwellenden Atems.
Der Orientale hat ewig Zeit, aber nicht weil er lange zu warten vermag, sondern weil er auf nichts wartet.
Die dem gierigen Verzehr abgerungene Verschwendung, so wenn der antike Römer rituell Wein aus dem Becher zur Erde schüttet, öffnet die großen Horizonte, in denen die Götter wohnen.
Der dionysische Efeu ist der Schatten des Künstlers.
Der Reim ist das Echo der vehallenden Lust.
Die Verse aber glänzen wie die Schollen, die der Pflüger unter der erbarmungslosen Sonne aufwirft.
Gott ist den Juden wie das Zelt, das die Bundeslade birgt. Sie selbst wohnen nicht darin, sie tragen es als unverfügbares Obdach durch die Wüste.
Die weibliche Geduld, die in Mustern, Ranken und Flechten schimmert.
Die Geduld der Frauen, die in den Teig das Salz des Schweigens streuen, den Honig der Erinnerung in die Milch träufeln, die süßesten Erdbeeren und glänzendsten Zwetschgen absondern für die Festtagsmarmelade.
Kafkas Geduld ist wie das Warten eines, der in einer Schlange steht, er vertreibt sich die Zeit, indem er das seltsame Gebaren und den Aufzug der Mitwartenden betrachtet. Oder er liest immer wieder den Abholzettel und rätselt über den Absender, dessen Namen er nicht kennt, und über den Inhalt des Pakets, den er nicht errät. Der Schalter schließt, kurz bevor er an die Reihe gekommen wäre.
Er sagt nicht: „Ich habe umsonst gewartet.“ Sondern: „Die scheinbar leere Zeit war die eigentliche Dauer.“
Wir gewahren die Entstehung großer Dichtung in geheimnisvoller Koinzidenz mit der Geduld des Gärtners, der die Knolle in die dunkle Erde steckt, begießt und auf die Gunst des Lichtes hofft.
Die Freude des Wartens übersteigt bisweilen die Freude am endlich Angetroffenen.
Das Angetroffene enttäuscht bisweilen durch einen Makel, den die Phantasie des Wartenden nicht aufwies.
Wenn die Offenbarung die Qual der geprüftesten Geduld auf unerwartete Weise übersteigt. Hiob.
Der allzu Gierige zeigt seine Dummheit darin, daß er den Umweg nicht sieht, der ihm das Erwünschte näherbrächte.
Die Besonnenheit hat ihr Maß in der Geduld, dem hohen Mut, dem gefaßten Staunen wie vor den endlich aufgehenden Blüten, die sich in fernsten Wolken widerspiegeln.
Der dämonisch verhetzte Mann, der die Geliebte töten wird. Woyzeck.
Ein bißchen scheint die Gier des bebrillten, anämischen, an Migräne leidenden Professors, aus dem umrankten Krug des Dionysos den Augenblick der Wahrheit zu trinken, auch lächerlich, wenn sie nicht so erbarmungswürdig wäre. Nietzsche.
Der gierige Trinker, der das kostbare Naß in zitternder Hand verschüttet.
Hölderlin verklärte das leichte Leben des vom olympischen Schnee beglänzten Daseins der Götter. Bis ihm auf den staubigen Pfaden der Entbehrung und des Opfers der Schmerzensmann Ödipus begegnete.
Der verklärte Christus ist nicht ohne Wundenmale.
Gewiß ist der Augenblick Goethes der blauen Stunde nicht unähnlich, in der sich die Mühe des Tages mit den dämmernden Wolken im Goldstaub über den Hügeln verliert.
Die Gier Fausts, die ihn ins Verbrechen und zu den Dämonen der Tiefe führt, wird nicht erlöst, sondern durch den Strahl aus der Höhe eines Besseren belehrt.
Das Kind und seine Ansprüche schenkten ihm die Geduld, die er mit sich selber nicht hatte.
Den Knoten durchhauen oder geduldig aufdröseln. Die rasche Lösung gründet kein Reich, das Dauer verspricht.
Die Drohnen, haben sie ihre Gier gestillt, werden alsbald von den Wächtern des Bienenstocks in die tödliche Verbannung geschickt.
Das edle Herz des Frommen: auf das Unsichtbare harren.
Die sich der Mühe und Geduld der schöpferischen Tat entziehen und sich mit fremden Federn schmücken, werden von der Bühne gebuht, wenn der Mund blechern widerhallt.
Das edle Herz des Frommen: der geliebten Toten gedenken, als gebe es ein Wiedersehen.
Wenn die Gier des Herzens erlischt wie der Tau auf den Trauben unter der südlichen Sonne, bleibt ein reifer Schimmer des Wahren.
Die Gier des Künstlers nach dem vollkommenen Bild weht wie ein rotes Blatt vom Herzen, wenn das im Wind schaukelnde Laub herbstlich erglüht.
Penelope wartet auf die Heimkehr des geliebten Mannes, indem sie am Tage ihr Tuch webt, dessen feines Gespinst die Nacht wieder auflöst, um morgens den verlorenen Faden in der Geduld der Liebe erneut aufzunehmen. Was können wir anderes tun?
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