Gestisches Meinen
Eine kurze Widerlegung der Annahme, wir könnten durch Zeigegesten eine Sprache lernen
Ladendiebe im Kaufhaus, sie haben die Identität des Detektivs ausgekundschaftet; der eine reibt sich mit dem Finger am rechten Auge, nachdem er den Detektiv von rechts hat kommen sehen.
Bei dieser gestischen Verständigung entspricht die übermittelte Bedeutung der konventionellen Satzbedeutung: „Achtung, der Detektiv kommt von rechts!“, wobei das Medium der Mitteilung gestisch ist, indem der Komplize verabredungsgemäß sich mit dem rechten Zeigefinger am rechten Auge reibt, wenn er den Detektiv von rechts sich nähern sieht, und mit dem linken Zeigefinger das linke Auge gerieben hätte, wenn der Detektiv von links gekommen wäre.
Die Bedeutung der Geste ist hier der Situation gemäß festgelegt; es herrscht die Übereinkunft: „Je nachdem, aus welcher Richtung ich den Detektiv kommen sehe, reibe ich mein rechtes oder linkes Auge.“
Wenn nun der Komplize trotz der Annäherung des Detektivs keinen Finger krümmt und unbewegt bleibt, während sein Kumpan gerade dabei ist, sich die Hosen- oder Jackentasche mit Diebesgut zu füllen, sodaß der herbeigeeilte Detektiv ihn auf frischer Tat erwischt, würden wir dann sagen, der Komplize habe seinen Kumpel verraten oder auflaufen lassen, weil er ihn nicht wie verabredet durch das gestische Zeichen vor dem Herannahen des Detektivs gewarnt und somit die Unwahrheit über das, was sich zutrug, mitgeteilt hat?
Hieße dies, man könne mittels nonverbaler Gesten die Unwahrheit sagen oder lügen? Um mittels Worten die Unwahrheit zu sagen, müssen wir augenscheinlich in der Lage sein, die Wahrheit zu leugnen oder das Vorliegen eines wahren oder bestehenden Sachverhaltes negieren. Die genaue Frage lautet somit: Können wir mittels Gesten die Unwahrheit sagen oder etwas verneinen?
Wir können in Hinsicht auf den genannten Fall nur soviel sagen: Der wacheschiebende Komplize hat die Warngeste oder den Warnhinweis unterlassen – aus welchen Gründen auch immer. Auch wenn er den Detektiv hat herannahen sehen, könnte er in diesem Moment aufgrund eines Krampfes oder plötzlich auftretenden Schmerzes daran gehindert worden sein, die verabredete Geste auszuführen. Unter diesen Umständen gewähren uns die zur Verfügung stehenden Daten keinen Einblick in die wirkliche Handlungs- oder Unterlassungsabsicht des Mannes. Er könnte physisch an der Ausführung der Geste verhindert gewesen sein oder er könnte die Geste absichtlich unterlassen haben, um seinen Kollegen in die Falle gehen zu lassen.
Dagegen bleibt kein Zweifel oder Rätselraten, wenn wir bei unserer Kenntnis der Vorgeschichte erfahren, daß der Komplize vor Gericht leugnet, den angeklagten Dieb zu kennen oder von dem Vorhaben des Diebstahls gewußt zu haben. Zu behaupten, man kenne eine Person nicht, ist eindeutig, während die Unterlassung einer Geste, die auf die Präsenz einer Person hinwiese, nicht eindeutig ist.
Warst du gestern morgen im Park spazieren und dein Freund, der glaubt, dich gestern nachmittag dort gesehen zu haben, fragt dich: „Warst du nicht gestern im Park spazieren, ich glaube, ich habe dich am Nachmittag gesehen?“ und du schüttelst den Kopf, wird aus der verneinenden Geste nicht klar, welchen Teil der Frage du verneinst. Eindeutigkeit erzielen wir nur mittels präziser Anwendung der verbalen Negation, wie wenn du antwortest: „Ja, ich war gestern im Park spazieren, aber nicht nachmittags, sondern am Morgen.“
Willst du abstreiten, gestern morgen im Park gewesen zu sein (weil du zu dieser Zeit eigentlich mit deinem Freund verabredest warst), und dein Freund fragt dich die genannte Frage und du schüttelst wieder verneinend den Kopf, bleiben wir bei derselben Unklarheit und Zweideutigkeit hängen.
Es hat den Anschein, als stünde uns der Weg, etwas Wahres (mittels Worten) zu sagen, aufgrund der Möglichkeit offen, etwas Unwahres zu sagen, während die Möglichkeit, etwas mittels einer Geste zu zeigen oder etwas gestisch zu meinen, aufgrund der Schwierigkeit begrenzt ist, etwas mittels einer Geste zu verneinen.
Wenn wir nach einer angenehmen Plauderei unseren gewohnten Spaziergang antreten wollen und du zeigst mit einer ausladenden Geste aus dem Fenster, wo ich sehe, wie sich dunkle Wolken zusammenziehen, soll ich dann folgern, daß wir aufgrund der ungünstigen Wetterlage es vorziehen sollten, das Haus nicht zu verlassen? Das ist nicht eindeutig. Du könntest mit deiner Geste auch meinen: „Da braut sich was zusammen, bewaffnen wir uns mit Regenschirmen, bevor wir ausgehen!“
Gestisches Meinen scheint demnach der Klarheit und Eindeutigkeit der Mitteilung zu ermangeln, derer wir bedürfen, wenn wir unsere Absichten, Erwartungen und Handlungen kooperativ aufeinander abstimmen wollen.
Wenn es aber der Fall wäre, daß gestisches Meinen nicht die Eindeutigkeit aufweist, die wir anhand der verbalen Äußerungen unserer alltäglichen Dialoge festmachen können, kommen wir in die Verlegenheit, fragen zu müssen, ob ein klarer Begriff des gestischen Meinens überhaupt aufgewiesen werden kann.
Betrachten wir den Musterfall gestischer Verständigung: Einer zeigt mit der Hand oder besser mit dem Zeigefinger auf den Gegenstand, auf den er die Aufmerksamkeit des anderen lenken will. Wenn der Schmiere stehende Komplize des Diebes mit dem Finger in eine bestimmte Richtung zeigt, um ihn auf das Herannahen des Detektivs aufmerksam zu machen, wäre diesem klar, was die Geste meint: „Achtung, da droht Gefahr in Gestalt des Detektivs!“
Das gestische Meinen erhält hier seine klare Bedeutung aufgrund der Kontextbedingungen, die den Fingerzeig gleichsam nicht ins Leere gehen lassen, sondern den vorab charakterisierten Gegenstand herausheben lassen.
Doch wenn ich dich in einem Garten mit einem Fingerzeig auf eine seltene Orchideenart, deren Exemplare auf der anderen Seite blühen, hinweisen will, wirst du mich nur fragend anschauen. Denn in diesem Falle kann ich nicht klar sagen, was ich mit meiner Geste meine. Die Geste ist nur hilfreich, dir die Richtung zu zeigen, in die ich deine Blicke lenken möchte, doch ohne den Hinweis: „Schau mal, dort blühen Cattleya“, gesetzt den Fall, du weißt, daß damit eine Orchideenart bezeichnet wird, wirst du nicht verstehen, was ich meine.
Zwischen den Orchideen könnte sich auch ein Teichhuhn tummeln und meine hinweisende Geste hätte genauso gut diesem possierlichen Tier gelten können. Dazu hätte ich meinen Fingerzeig mit dem Hinweis versehen müssen: „Schau mal, dort pickt ein Teichhuhn!“
Daraus folgern wir: Um uns gegenseitig auf einen Gegenstand der Umwelt aufmerksam machen zu können, müssen wir denjenigen, dem der Hinweis dienlich sein soll, mit der Information darüber versehen, um welche Art von Gegenstand es sich dabei handelt (um welchen Typus von Gegenstand, der durch das gezeigte Token verkörpert wird).
Jemandem etwas zeigen zu können setzt daher eine Klassifikation der Gegenstände nach Gattungen und Exemplaren voraus, die nur in der Wortsprache entwickelt werden kann. Denn mittels Zeigegesten kann ich nur auf gewisse Exemplare von Gegenständen aufmerksam machen; indes bleibt die Bedeutung der Zeigegeste deshalb notorisch unterbestimmt, weil ein Zeigen auf den gemeinten Gegenstandstyp nicht möglich ist.
Wenn wir aber eine Sprache benötigen, die eine Minimalontologie der Unterscheidung von Gattungen und Exemplaren der Gegenstände zum Ausdruck bringen können muß, um mittels der Zeigegeste überhaupt den relevanten Gegenstand des Zeigeumfelds herausgreifen und identifizieren zu können, ist evident, daß wir nicht umgekehrt mittels Zeigegesten eine Sprache entwickelt oder gelernt haben können.
Wenn das Kind aufgrund der Zeigegesten der Erwachsenen und ihrer wiederholten Nennung des Begriffs zu äußern lernt: „Hund!“, dann hat es die Anwendung des Gattungsbegriffs oder des generellen Terminus „Hund“ auf das vorbeilaufende Exemplar nicht durch diese Zeigegeste gelernt; denn in der Tat meint das Kind mit dem Ausruf „Hund!“ „Da, ein Hund!“ oder „Das ist ein Hund!“ Und das Kind ergötzt sich bald daran, nachdem es den Begriff erfaßt hat, nicht nur diesen, sondern alle mögliche Hunde Hund zu rufen, ja sogar Katzen und womöglich Kühe und sogar andere Kleinkinder, auf die es nunmehr mit Eifer selbst seinen Finger ausstreckt.
Wir würden sicher richtig sagen, das Kind mache hier Fehler bei der Anwendung des neu gelernten Begriffs; es macht aber keinen Fehler bei der ontologischen oder klassifikatorischen Einordnung des Begriffs, den es richtig als Begriff für einen Typus von Gegenstand auffaßt und verwendet. Wie und wann hat das Kind diese Form der begrifflichen Einordnung gelernt? Wie uns scheint, hat es dies überhaupt nicht gelernt: Die klassifikatorische Grundordnung der sprachlichen Begriffe muß angeboren sein.
Auch wenn das Kind spontan alle möglichen Hunde und hundeähnlichen Gegenstände seiner Umgebung „Wauwau!“ ruft, meint es damit: „Da, ein Wauwau!“ oder „Das ist ein Wauwau!“ Semantisch abgekürzt sagt es damit nichts geringeres als: „Das ist ein Gegenstand mit der wesentlichen Eigenschaft F“ oder formelhaft „Fa“.
Die Semantik der einfachen oder elementaren Aussageform Fa ist die Grundlage unserer Art, etwas von etwas auszusagen, also der Sprache überhaupt. Es gibt keine Zeigegeste, mit der auf die semantische Form Fa gezeigt werden könnte. Ja, wie wir gesehen haben, können wir nicht einmal mit Sicherheit und Eindeutigkeit auf den Gegenstand a hinweisen, denn um dies zu tun, müssen wir darüber im Bilde sein, um welche Art von Gegenstand es sich dabei handelt, also schon wissen, daß gilt: Fa.
Evolutionsbiologen und Evolutionspsychologen setzen seit geraumer Zeit viel Energie in das Unterfangen, die Sprachentwicklung aus den vorsprachlichen Wurzeln des gestischen Zeigens ableiten zu wollen. Wenn gilt, daß die semantische Struktur Fa nicht gelernt werden kann, sondern angeboren ist, geschweige daß sie mittels Zeigefunktionen gelernt werden könnte, erweisen sich alle Bemühungen dieser Art als sinnlos.
Was für die Anwendung genereller Termini oder Gattungsbegriffe gilt, scheint von der Anwendung von singulären Ausdrücken oder Eigennamen a fortiori zu gelten: Wie sollte das Kind die Anwendung des Eigennamens Peter auf Peter (wenn sein Freund so heißt) lernen, ohne zuvor die Anwendung des Namens Petra (wenn das Kind Petra heißt) auf sich selbst vorgenommen zu haben?
Wie geht das vor sich? Petra hat die bestürzende, erregende oder faszinierende Erfahrung gemacht, daß alle Gedanken, Gefühle und Vorstellungen, die da um sie herumgeistern oder spuken oder sich einstellen, ihre eigenen Gedanken, ihre eigenen Gefühle und ihre eigenen Vorstellungen sind. Wenn sie etwa sagt: „Petra aua“, dann hat Petra schon gedacht und gefühlt: „Ich habe Schmerzen.“
Die Anwendung des Eigennamens kann daher nicht aufgrund von Zeigegesten gelernt werden, als müßte das Kind auf sich selbst zeigen und dabei den Namen „Petra“ einüben. Vielmehr setzt der Gebrauch des eigenen Namens das Wissen um die eigene Existenz voraus. Dieses Wissen aber ist die Voraussetzung dafür, andere Personen als solche zu erkennen und mit ihrem Namen zu rufen.
Wenn Petra ihren Freund Peter „Peter“ ruft oder sich an ihren Freund Peter erinnert, weiß sie, daß Peter so ist wie sie selbst, nämlich ein Wissen von seiner Existenz hat und seine eigenen Gedanken, Gefühle und Vorstellungen hat, wie sie die ihren.
Die Anwendung von persönlichen Eigennamen setzt das Wissen von der eigenen Existenz voraus; dieses Wissen ist kein rein sprachliches Wissen, denn es beruht nicht bloß auf den Regeln der Verwendung des Personalpronomens der ersten Person im Singular. Allemal kann mit keiner Zeigegeste auf das Bewußtsein, das Ich, das Selbst oder wie immer wir das Wissen von der eigenen Existenz benennen wollen, hingewiesen werden.
Natürlich ist klar, daß nur Petra oder Peter sagen kann: „Da, ein Hund!“ oder „Fa“. Die semantische Grundform der generellen Aussage ist nur denkbar und realisierbar in einer Welt wie unserer Welt, in der ihrer selbst bewußte Personen eine natürliche Sprache verwenden. Es gibt keine Sprache ohne Sprecher, es gibt keine Sprecher ohne Bewußtsein. Alles sprachliche Lernen setzt Bewußtsein voraus – also kann man Bewußtsein oder seiner bewußt zu sein schlechterdings nicht erlernen.
Worauf zeigt Petra, wenn ihr Freund Peter vorbeigeht und sie mit ihrem Finger auf Peter zeigt und „Peter!“ oder „Da ist Peter!“ ruft? Sie zeigt nicht auf einen Gegenstand, der die Eigenschaft namens Peter hätte, die auch ein anderes Kind haben könnte, wie sie gerne auf diese tollen Tiere zeigt, die die generelle Eigenschaft verkörpern, Hunde zu sein. Gewiß zeigt das Kind auf den Körper von Peter, denn nur als verkörpert ist die Art von bewußter Existenz in der Welt, in der wir leben, vorhanden. Der Körper von Peter hat freilich jede Menge Eigenschaften, die auch andere Personen und Petra selbst haben, wie so und so groß, schwer oder alt zu sein. Aber Petra zeigt nicht auf diese körperlichen Eigenschaften oder die Summe dieser generellen Eigenschaften, die sich in dem Körper von Peter wie die Eigenschaft, ein Hund zu sein, in jenen Tieren verkörpert – sondern sie zeigt auf Peter. Ist etwa das, worauf Petra zeigt, ein unsichtbares, immaterielles Etwas, Peters Seele? Keineswegs, denn Peter hat seine Freundin bemerkt, läuft auf sie zu, schaut sie an, spricht und spielt mit ihr. Die singuläre Person, auf die Petra zeigt, ist auf singuläre Art und Weise präsent in all ihren leiblich vermittelten Lebensäußerungen, die ihr ohne weiteres zugänglich, wahrnehmbar, verständlich sind. Wenn wir von Peters Seele reden wollen, dann wäre sie gleichsam über seinen ganzen Körper und in all seinen Lebensäußerungen verteilt.
Dennoch ist es erstaunlich oder sogar ein wenig peinlich, inwiefern wir mit derselben Zeigegeste etwas so Unterschiedliches meinen können, wie das Exemplar einer Gattung von Dingen oder Lebewesen wie die Orchidee und den Hund auf der einen Seite und die singuläre Entität einer Person auf der anderen Seite, die nur dadurch das ist, was sie ist, weil sie von ihrer Existenz weiß.
Diese Asymmetrie scheint auch der moralische Grund dafür zu sein, daß wir Kindern die Unsitte, mit Fingern auf andere zu zeigen, möglichst bald wieder abzugewöhnen pflegen.