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Gérard de Nerval, Artémis

22.10.2024

La Treizième revient … C’est encore la première;
Et c’est toujours la seule,—ou c’est le seul moment:
Car es-tu reine, o toi! la première ou dernière?
Es-tu roi, toi le seul ou le dernier amant?

Aimez qui vous aima du berceau dans la bière;
Celle que j’aimai seul m’aime encore tendrement:
C’est la mort—ou la morte … O délice! o tourment!
La rose qu’elle tient, c’est la Rose trémière.

Sainte napolitaine aux mains pleines de feux,
Rose au coeur violet, fleur de sainte Gudule:
As-tu trouvé ta croix dans le désert des cieux?

Roses blanches, tombez! vous insultez nos dieux:
Tombez fantômes blanches de votre ciel qui brûle:
—La sainte de l’abîme est plus sainte à mes yeux.

 

Artemis

Wieder Karte Dreizehn … die allen vorangesetzte.
Die einzige immer – oder der Augenblick, der zählt:
Bist Königin du also, die erste und die letzte?
Und König du, der einzig, der zuletzt von Liebe erwählt?

So liebe, die dich liebt, von der Wiege bis zur Bahre.
Die ich geliebt, sie liebt mich, hüllt mich zärtlich ein.
Sie, der Tod – die Tote sie … O Wonne, Folterpein!
Die Rose, die sie hält, die Rose ist’s, die wahre.

Die Heilige aus Neapel, der Lichter sich entzünden,
Rose am Veilchenherzen, der heiligen Gudula Flor:
Hast dein Kreuz du gefunden in Himmels wüsten Gründen?

Weiße Rosen, fallt, ihr könnt zur Andacht nicht taugen,
weiße Phantome, fallt aus brennenden Himmels Tor:
Die Heilige des Abgrunds, heiliger ist sie in meinen Augen.

 

Anmerkungen zum besseren Verständnis:
Die Dreizehnte („La Treizième“, Zeile 1) meint die dreizehnte Karte im Tarot: den schwarzen Reiter Tod, der als Emblem die weiße Rose im Wappen trägt. – Artemis ist die herbe Göttin des Waldes und des Abgrunds, verkörpert im Mond. Daher ist auch sie im Symbol der dreizehnten Tarotkarte, im Tode, enthalten. Sie wird als Königin („reine“, Zeile 3) angerufen, entsprechend jener, der sie liebt („amant“, Zeile 4) und lieben soll („aimez“, Zeile 5) als König („roi“, Zeile 4) bezeichnet. Attribute der ihr geweihten Hingabe und Liebe sind „die erste“, „die letzte“, „immer“, „einzig“ (Zeilen 1–3), aber auch die Vergänglichkeit kennzeichnet ihren Bereich, die vergehende Zeit, verkörpert in der antiken Allegorie der Jahreszeiten und Stunden (horae) sowie im Blühen und Verblühen des natürlichen Daseins. Wir greifen in diesem Gedicht nach den wesentlichen Momenten der mythisch-zyklischen Zeit, die hier mit den Perioden der Liebe und ihrer unmöglichen Erfüllung im Tod gleichgesetzt wird. Es geschieht immer dasselbe, aber angesichts der einzigartigen Gottheit, es ist wie eh und je, und doch zählt der eine außerordentliche Augenblick, der Kairos der Liebe („Et c’est toujours la seule,—ou c’est le seul moment“, Zeile 2). Die dreizehnte ist auchdie dreizehnte auch die erste Stunde einer neu anbrechenden Periode des Blühens oder Welkens. Die Zeit der Artemis ist nicht die uns vertraute des Sonnenjahres, sondern des Mondjahres (wie sie noch bei dem alten Volk der Juden im Festkalender gilt, sie haben sie wohl von den Sumerern oder Babyloniern übernommen). Der Mondmonat umfaßt 28 Tage und spiegelt so auch den weiblichen Fruchtbarkeitszyklus. Im dreizehnten Mondumlauf erfolgt der kürzeste Sonnentag, mythisch der Tod der Sonne, im folgenden steigt die Kurve des Lebens wieder an (daher die abergläubische Angst vor der Zahl Dreizehn und das Symbol des Todes auf der dreizehnten Tarot-Karte). – Die Aufforderung, sie zu lieben („aimez“, Zeile 5), ist keine Kleinigkeit, denn Artemis zeigt das Doppelgesicht von Zartsinn und Grausamkeit, Fruchtbarkeit und Zerstörung, ähnlich der Hindu-Göttin Kali, eine Ambivalenz, die das Christentum aus dem Bild der Heiligen Jungfrau, einer Transfiguration der Magna Mater oder Artemis, getilgt hat; ja sie erscheint unmittelbar als der Tod und die tote Geliebte („mort“ – „morte“, Zeile 7), sie beglückt und foltert zugleich („délice“ – „tourment“, Zeile 7), und es bleibt offen, ob im Tod sich ein Übergang zu anderem Leben, eine Auferstehung, vollzieht, wie es den Kern christlicher Hoffnung darstellt. – Die Rose in der Hand der Göttin, der Mutter und Geliebten („La rose qu’elle tient“, Zeile 8) ist eine andere wahre Rose („la Rose trémière“, Zeile 8, eigentlich Stock- oder Malvenrose als Symbol der Fruchtbarkeit), nicht die christliche, wie jene der Heiligen Gudula („fleur de sainte Gudule“, Zeile 10; das Haupt der Heiligen wird heute als Reliquie, einst der Heiligen Hildegard von Bingen zugeeignet, in der Eibinger Kirche im Rheingau verehrt). Die christliche weiße Rose liegt allerdings (dichterische Ironie) nah beim Herzen, das an ein Veilchen gemahnt („Rose au coeur violet“, Zeile 10), dem Attribut der heidnischen Aphrodite, wie es öfter in der Dichtung Sapphos beschworen wird. Die neapolitanische Heilige („Sainte napolitaine“, Zeile 9) könnte die Heilige Rosalie sein, der als Symbol der Keuschheit ein Kranz von weißen Rosen zugesprochen wird (ihr Kult wird allerdings in Palermo gefeiert); die Legende erzählt, eine Kerze oder Laterne, die sie des Nachts in Händen trug, sei immer wieder erloschen oder von einem dämonischen Wind ausgeblasen worden, aber ein Engel habe es ihr immer wieder angezündet („aux mains pleines de feux“, Zeile 9). Der Dichter verknüpft die beiden christlichen Heiligen, die des Nordens, Gudula, und die des Südens, Rosalie, durch das Symbol des transzendenten Lichts (der Kerze und des hellen Scheins der weißen Rose). Diese christlichen Heiligen kontrastieren mit der mythischen Göttin Artemis. Die Heilige mit dem Symbol der weißen Rosen konnte das Kreuz (das Heil) nicht in einem Himmel finden, den der Dichter einmal als Wüste, einmal als brennend (und das heißt bald verkohlt) apostrophiert („As-tu trouvé ta croix dans le désert des cieux?“, Zeile 11, eine das Sarkastische streifende Frage, sowie „ciel qui brûle“, Zeile 13). Die weißen Rosen sollen aus der Höhe fallen („Roses blanches, tombez!“, Zeile 12), sie taugen nicht zur neuheidnischen Andacht der mythischen Götter, sie würden sie beleidigen („vous insultez nos dieux“, Zeile 12). Hier spricht der Dichter in geradezu hochpriesterlicher Anmaßung von „unseren Göttern“ („nos dieux“, Zeile 12) im Gegensatz zu „eurem Himmel“ („votre ciel „, Zeile 13). Goethe läßt im Faust II nach dem Tode des reumütig gewordenen Faust Rosen auf die Bühne fallen, zum Zeichen seiner Erlösung. Gérard de Nerval, der Faust I übersetzt hat, sieht man von dieser Hoffnung weit entfernt. In seinen Augen verdunkelt die Göttin des Abgrunds den Stern der Erlösung oder rückt ihn ins lunare Zwielicht. Die weißen Rosen christlicher Keuschheit und Demut sind schon zu weißen Phantomen geworden („fantômes blanches“, Zeile 13), die gleich den zu Gespenstern verkommenen frommen Idealen bisweilen hämische Religionskritik vom Himmel stürzen läßt („Tombez fantômes blanches de votre ciel“, Zeile 13). Wir befinden uns im kulturgeschichtlichen Dunstkreis Bachofens und Nietzsches, Baudelaires und Wagners. Der Dichter sieht den Himmel zwar leer, möchte aber – wir dürfen sagen, vergebens – die Erde als fruchtbaren Schoß beschwören, die alten heidnischen Götter wieder zu gebären. Indes: Wo sind die neuen Altäre der Artemis, in welch einem staatlich eingehegten Wirtschaftsforst? Wo werden neue Dionysos- und Najadenkulte gefeiert, in welchen Palästen und Grotten aus Glas und Beton? Wir sind beim Sonnenjahr geblieben, das scheint die weltumspannende technische Kommunikation zu gebieten, jedenfalls, soweit wir es uns bieten lassen. Andererseits konnte kein Mondesschatten die Schönheit der weißen Rosen, wenn sie denn noch von dem Zeitgeist nicht hörigen Dichtern benannt wird, nicht gänzlich verblassen machen. – Symbolismus in der Dichtung kann das Herz bezaubern und den Geist beschwingen, doch die mit ihm verbundene mythologische Kehre („La sainte de l’abîme est plus sainte à mes yeux“, Zeile 14) scheint gescheitert zu sein. Denken wir hier an die mythopoetische Gestalt Hölderlins. Was aber in Wahrheit geschieht, wissen wir nicht. Wenn es nach dem überlieferten Wort genügt, daß drei sich in Jesu Namen zusammenfinden, um vom Dasein der Kirche sprechen zu können, warum sich über die seelische Entartung eines zügellosen Atheismus und Nihilismus echauffieren? Ein depressiver Poète maudit sieht den Himmel entleert, ein neurasthenischer Philosoph flieht aus der pietistischen Enge heuchlerischer Moralbeckmesserei und sehnt sich nach den Schauern bacchischer Ekstase – was soll dadurch bewiesen, was widerlegt werden? – Der Aufstand des Mythos wider den Logos, den in Frankreich Dichter wie Gérard de Nerval, Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé fochten, findet im deutschen Sprachraum ein Analogon bei Dichtern wie Rainer Maria Rilke, der auch auf Französisch dichtete, oder Stefan George, der schon aufgrund seiner kongenialen Übertragungen profund aus französischen Quellen zu schöpfen vermochte. Wie nahe oder fremd aber sind uns heute Sprache und Gedankenwelt der „Duineser Elegien“ oder des „Neuen Reiches“? Ist das mythische Bewußtsein, das sich seit der Romantik und Hölderlin bis zum europäischen Symbolismus zu erneuern schien, sieht man auf die Banalität und den Stumpfsinn der Gegenwart, völlig erloschen? Ist der Logos zu einer maßlosen technischen Welterfahrung verkümmert, wie sie uns aus dem Lärm der Städte und dem geistlosen Flimmern digitaler Bilder entgegentritt? Doch das ist ein allzu weites, von den Nebeln des Zeitgeists verhangenes Feld.

 

Zur Vertiefung:
https://www.enotes.com/topics/gerard-de-nerval/criticism/nerval-gerard-de/criticism/john-w-kneller-essay-date-1986

 

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