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Genügsamkeit und Gier

23.08.2015

Der Genügsame nimmt ernst, was er sieht, fühlt, genießt. Er schätzt, was er hat, und blickt nicht scheel zu den Nachbarn, die haben, was er nicht hat.

Der Genügsame schwimmt wie ein Fisch im Wasser in seinem Lebenselement, in seinem Lebensgenuß, während der Gierige immerfort in gewaltsamen Sprüngen sich aus seinem Element fortreißt, um in ein fremdes zu gelangen. Der Fisch aber, der auf das Ufer geraten, zappelt elend ums Leben.

Dem Genügsamen ist das Vorhandene, Gegenwärtige, Daseiende die Quelle des Sinns, der Freude, die sich nicht überstürzt, der Trauer, die sich nicht heillos verliert. Das Gegenwärtige ist ihm nichts, was nur vom verblaßten Glanz des Vergangenen her Wert erhält, und nichts, was nur vom aufgehenden Stern der Zukunft her seinen Wert erfüllt.

Genügsam sein heißt, aus der frischen Quelle des Lebens schöpfen, wenn echter Durst dich treibt, und nicht künstlichen Durst dir entzünden mit scharfen Gewürzen und vergeblich ihn löschen mit süßem exotischen Wein.

Der Gierige reflektiert im gegenwärtigen Genuß den vergangenen und antizipiert den zukünftigen.

Der Genügsame kann durch Übung oder durch Lebenskunst mit immer weniger sein Genüge finden. Der Gierige muss immer mehr verzehren, um noch ein wenig Genuß zu verspüren.

Die Gier öffnet uns die Tür zu den Geheimnissen der menschlichen Seele, denn sie ist auch der Schlüssel zu ihren Krankheiten. Dabei unterscheiden wir normale Vorkommnisse der Appetenz, insofern sie der Erhaltung des Organismus oder der Stabilisierung und Verteidigung der Lebensgemeinschaften dienen, von Übersteigerungen ins Gierhaft-Unmäßige, die am Ende des Tages alle Formen der Selbsterhaltung untergraben.

So müssen wir die reale Furcht vor Vergiftung des Machthabers, wie wir sie den Annalen und Historien des Tacitus und anderen Historikern entnehmen, und die auf die wahrheitsgemäße Wahrnehmung echter Bedrohung zurückgeht, vom Vergiftungswahn des Psychotikers absondern, bei dem keine reale Grundlage der Gefährdung auszumachen ist.

Wir können sagen, der Vergiftungswahn sei eine Reaktion der ungezügelten und krankhaften Gier nach dem Besitz der anderen auf deren vorweggenommene Rache. Warum sollten sonst die anderen das Essen vergiften, wenn der Wahnkranke nicht glaubt, es ihnen weggenommen zu haben oder es ihnen wegzunehmen gedachte oder es ihnen zumindest mißgönnt hat?

Wir dürfen das Syndrom der Vergiftungspsychose erweitern um all jene Arten des aggressiven und feindlichen Übergriffs, die sich in unterschiedlichsten Formen und Masken zeigen und drapieren: Wir kennen die Ausgeburten der Paranoia in den feindseligen Mienen und Anspielungen der Nachbarn oder den vernichtenden Befehlen aus dem Radio oder TV. Wir wissen um die paranoische Angst vor den Bazillen, Keimen und Insekten, die so manchen den Hungertod eingebracht haben.

Verdeutlichen wir unsere These anhand der paranoischen Angst vor parasitären Kleinstorganismen. Sie lauern überall in der Luft und im Wasser, in der Erde und im Bettzeug, in den Lebensmitteln und den Ausdünstungen der anderen. Der springende Punkt scheint nun der zu sein: Der Angriff der tödlichen Organismen wird durch feindliche Mächte gesteuert, die auf die Vernichtung des Paranoikers abzielen. Ihr feindliches Ansinnen ist eine Form der Rache, der Vergeltung oder Bestrafung der ursprünglichen feindseligen Antriebe des Kranken selbst. Er empfindet die ihn überwältigende Gier nach dem fremden Leben, nach dem fremden Hab und Gut, nach der fremden Lust als seine parasitäre Triebnatur, als eine triebhafte Form des Parasitismus.

Wer sich als Parasit fühlt, hat Angst vor Parasiten. Warum aber fühlt sich der Kranke in dieser Weise? Weil die ihn beherrschende Gier unproduktiv, lähmend, unfruchtbar, schmarotzerhaft ist.

Denken wir an die auditiven Halluzinationen der Psychose. Der Kranke hört die Stimmen der Nachbarn wie Stimmen von Dämonen, welche die Trennwand zwischen seiner Welt und der Welt da draußen durchbrochen und sich in seinem Gehör, in seinem Herzen eingenistet haben. Hier thronen und befehlen sie nun. Sie reden allerlei Unfug, am meisten aber Unfug, der dem Kranken insinuiert, er sei schlecht, böse, verdammenswert.

Warum ist er schlecht und wert, verdammt und in den Abgrund hinabgestoßen zu werden? Die Stimmen steigen aus dem wuchernden Sumpfgebiet der Rache derjenigen realen oder fiktiven Lebewesen auf, denen die unbeherrschbare Gier des Kranken ihre Güter, ihr Gehirn, ihr Sexualorgan oder ihre Kinder entrissen zu haben wähnt oder zu rauben gedachte, und wofür sie nunmehr schreckliche Rache nehmen.

Wir unterscheiden zwischen dem Wunsch nach Führung und Dominanz, der mit der Begabung, andere Menschen führen, anleiten, prägen zu können, einhergeht, und dem Größenwahn, der als antisoziale oder soziopathische Form der Herrschsucht die Herrschaft über andere gleichsam kostenlos und ohne Nachweis sozialer Führungsqualitäten wie Voraussicht, Vorausplanung, Charakterfestigkeit und Zuverlässigkeit einheimsen möchte. Andere zu führen und nicht in die Irre zu führen, sondern ihnen zu ihrem besten den ungewissen Weg in die Zukunft zu weisen, bedarf charakterlicher Eigenschaften und früher Einübungen, die der Paranoiker nicht besitzt, sondern als faule und schmarotzerhafte Existenz durch die bloße Macht der Gedanken ersetzt. Die imperiale Gier ist ein Parasitismus des reinen Denkens.

Der Mund, der Bauch und Darm, die Sexualorgane sind die natürlichen Verbündeten der Gier. Aber nicht wie Freud meint, weil sie ursprünglich auf das Maßlose und Unbeherrschbare des Unbewußten ausgelegt sind, sondern weil ihr natürliches oder beherrschbares Maß, das ein Genüge in natürlichen Formen der Befriedigung findet, von der Gier deformiert und pervertiert worden ist.

Wir sind noch im Unklaren darüber, in welchem Maße die Ursprünge dieser Deformationen und Pervertierungen in Deformationen und Pervertierungen des menschlichen Umgangs oder der Kultur zu finden sein müssen oder sich (auch) neurologischen Fehlentwicklungen verdanken, die genetisch angelegt oder epigenetisch durch Störungen der Embryonalentwicklung bedingt sein können. Schließlich pflegt uns das schreckliche Rätsel der originären Beschädigung der menschlichen Natur durch die Ur- oder Erbsünde heimzusuchen.

Wir bemerken, daß die Gier ein Ausdruck der verfehlten Liebe ist, vor allem der recht verstandenen Liebe zu sich selbst.

Genügsamkeit ist sowohl eine ethische Haltung als auch ein ästhetisches Ideal und Maß – Ethik und Ästhetik spielen auf dieser fundamentalen Ebene ineinander. Genügsamkeit ist der Grund oder Humus, aus dem die Vernunft der Selbstliebe sich nährt.

Der ethischen Haltung der Genügsamkeit entspricht das ästhetische Ideal der Klarheit, Deutlichkeit, formalen Schönheit und inhaltlichen Konzentration. Alles Aufgebauschte und Verblasene, Schwulst und Übertreibung, das Eindruckschinden mit grellen Effekten und Vulgarismen sind Ausgeburten einer die Kunst immer wieder heimsuchenden Gier – der Gier nach billiger Anerkennung ohne den Schweiß handwerklicher Mühen, der Gier nach Ruhm ohne Verdienst, nach Geld ohne Arbeit.

Das ästhetische Ideal des Maßes finden wir im klassischen Stil verwirklicht, der mit wenigen Mitteln viel sagt, mit Allusionen weniger glänzender Namen aus Geschichte und Mythos, mit Allegorien von Tugenden und Lastern, mit Masken menschlicher Institutionen und Sitten ein ellenlanges Epos der Odyssee der menschlichen Seele ersetzt, das langatmige grammatische Kausal- oder Konzessiv-Gefüge durch die elegante Verdichtung der Sperrung und Verschränkung der Worte überflüssig macht, die Empfindung durch das Beschwören einer Farbe, eines Klangs, eines Duftes verlebendigt, dem Gefühl Seufzer in den Vokalen, Wehmut und Trauer in der harten Fügung, Sehnsucht im Verschweigen des banalen Objekts und einen gelösten und heiteren Abschied in der Wendung der Anti-Klimax vermittelt.

Die Selbstgenügsamkeit des klassischen Stils beweist sich im Verzicht – Verzicht auf das auch noch Mögliche und auch noch Sagbare und darüber hinaus noch Assoziierbare, im Wegschneiden und gnädigen Amputieren der Wülste und Auswüchse, der überhängenden Ranken und des überwuchernden Zierrats, mit denen sich die Gier des parasitierenden Ausdrucks nicht genugtun kann.

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