Gegenwärtig und gewärtig
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Jetzt wärmt uns die Sonne; aber daß sie auch gestern schien, hat für uns das Gewicht einer Fabel.
Aus der Tatsache, daß die Sonne schon sehr lange geschienen hat oder das Universum aus einer kosmologischen Singularität entstanden ist, können wir unmittelbar für unser Dasein nichts folgern.
Kann sich eine res cogitans ihrer oder ein unkörperlicher Geist seiner bewußt sein? – Wie könnte er rufen: „Hier bin ich?“
Wenn Gott existiert, kann er nicht reiner Geist sein. – Ein reiner Geist kann nichts denken und nichts wollen, nichts beabsichtigen und keine Absicht verwirklichen.
Wir haben keinen Körper in dem Sinne, wie wir ein Haus, ein Auto, einen Freund haben.
Sterben ist nicht wie ein endgültiger, irreversibler Verlust in dem Sinne, wie wir ein Vermögen oder einen Freund verlieren.
Bewußt zu leben ist eine Funktion der merkwürdigen Tatsache, verkörpert zu sein, aber nicht, einen Körper zu haben.
Verkörpert zu sein heißt gegenwärtig zu sein; und dies in infinitesimalen Abschattungen des Bewußtseins.
Das subjektive Dasein läßt sich nicht adäquat in ein kartesisches Koordinatensystem eintragen; es ist eine trügerische Beschreibung, wenn man die eigene Existenz mit dem Punkt gleichsetzt, der sich kontinuierlich auf einer Strecke bewegt: Unsere Vergangenheit ist keine hinter uns zurückbleibende durchgehende Linie, die wir more geometrico in ihren Abmessungen und ihrem Verlauf überblicken könnten.
Wenn man vom Ich-Punkt oder dem Jetzt-Punkt redet, hat man schon die fiktive Linie mitgedacht.
Wir teilen miteinander keinen Zeitraum in dem Sinne, wir uns zusammen in einem Zimmer aufhalten.
Einen Weg miteinander zu gehen heißt nicht nur nebeneinander zu gehen.
Die miteinander einen Weg gehen, bleiben einander gegenwärtig – und dies in infinitesimalen Abschattungen des Bewußtseins. Einander heißt sowohl für sich als auch für einander.
Unterwegs zu sein impliziert die Beschreibungsform durch ein präsentisches Tempus, das den Verlauf ausdrückt, ob in der Gegenwart oder der Vergangenheit (we are walking, we were talking – keine äquivalente grammatische Form im Deutschen).
Die auf der topographischen Karte verzeichneten Wege sind gleichsam fiktiv und irreal im Verhältnis zu dem Weg, den wir jetzt allein oder gemeinsam gehen.
Die Wege, die wir in der Vergangenheit allein oder miteinander zurückgelegt haben, sind gleichsam fiktiv und irreal im Verhältnis zu dem Weg, den wir jetzt allein oder gemeinsam gehen.
Kein Dritter kann sehen, ob wir den Weg miteinander gehen oder nur (zufällig) nebeneinander herlaufen; der wesentliche Aspekt, der in diesem Falle der neutralen Beobachtung oder dem Experiment entgeht, ist das leibhaftige Gegenwärtigsein und Gewärtigsein.
Der Beobachter kann freilich die Zeit, die wir für den zurückgelegten Weg benötigt haben, mittels eines Chronometers objektivieren; doch handelt es sich dabei um ein Quantum der Vergangenheit, das gegenüber der uns gegenwärtigen Zeit der sich kontinuierlich in die Zukunft erstreckenden Gegenwart immer den Charakter des Irrealen und Fiktiven annimmt.
Wir hätten jene Abzweigung nehmen können und wären jetzt an einem anderen Ort als dem tatsächlichen; die Möglichkeit von Abzweigungen (aber auch von Verirrungen) gehört zum inneren Zeithorizont unseres Gewärtigseins und Gegenwärtigseins.
Jeder Augenblick, könnte man in einer Abwandlung eines geistreichen Wortes von Ranke sagen, ist unmittelbar zur Ewigkeit.
Wären wir biologische Roboter, existierten wir im Zeitlosen.
Maschinen haben keine Möglichkeit zur Zukunft.
Daß wir biologische Wesen sind, steht in einem notwendigen Verhältnis zur Tatsache, daß unsere Zeitwahrnehmung eine Funktion unserer Selbsterfahrung darstellt.
Wir können den Zeitpunkt nicht exakt definieren, von dem ab wir eine Reihe von Akkorden als Melodie oder eine Reihe von Wörtern als sinnvollen Satz verstehen.
Die Vergangenheit gleicht nicht einer Wegstrecke, die ein für alle Male in die Topographie unseres Lebens eingeschrieben wäre; wir empfanden die Melodie zuerst als pompös, plötzlich erschien sie uns in einem ironischen oder grotesken Licht; wir wähnten, eine echte Frage zu hören, doch dann erkannten wir ihren rhetorischen Charakter.
Wir können mittels einer damnatio memoriae oder der Zerstörung der Überlieferung den Namen des Horaz aus dem Gedächtnis der Deutschen tilgen, aber nicht den Wert seiner Werke mindern.
Dein Vater hätte deine Mutter nicht treffen können; aber diese Möglichkeit biologischer Nichtexistenz tangiert nicht den Wert deiner realen Existenz.
Historische Epochen sind nicht wie Altersphasen eines Individuums; Grundirrtum der idealistischen Geschichtsphilosophie – und ihrer materialistischen Umkehrung.
Nur in der Rückschau gruppieren sich die römischen Neoteriker zur Vorklassik, reichen wir Horaz und Vergil den klassischen Lorbeer.
Die Aufklärung erfüllt sich nicht in der Moderne, Mahler nicht in der atonalen Musik.
Gedichte, in denen die Jahreszeiten verschwimmen, der Schnee der Gipfel zu blühen beginnt, in denen Morgen und Abend sich mischen, ein blasser Mond im Mittag der Fülle steht.
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