Fremd im Eigenheim
Ein Wahrgesicht
Er erwachte wieder von jener schnalzenden und zungenfletschenden Frauenstimme, deren Crescendo von den Stahlsaiten einer Zither zerschnitten wurde. Dann hörte er wie jeden Morgen (oder war es schon Nacht) bei Gläserklirren und Messerschaben das Geraune und Gewäsche ihres Kauderwelsches, nur unterbrochen vom idiotischen Keuchen und Würgen der Litaneien.
Sie hatten ihm ein Feldbett in die Rumpelkammer geschoben, wo er seitdem hauste, den Fremden ausgeliefert auf Gedeih und Verderb. Oh, sie sorgten für ihn, keine Frage. Regelmäßig wurde durch ein von oben zu öffnendes und zu verschließendes Loch in der Decke ein Eimer mit Trank und Speise herabgelassen. Nur dass dieser Fraß für seine in heimischer Küche sozialisierte Zunge kaum genießbar, dieser bittere, grünlich-faulige Trank gleich in seinem Magen zu spuken begann. Sicher, seine Exkremente auf demselben Weg eimerweise an einem Strick nach oben ziehen zu lassen war ihm vergönnt. Sein Wasser konnte er in ein rostig-zersplittertes Emailbecken abschlagen, über dem immerhin noch ein Wasserhahn angebracht war, unter den er den Kopf halten, mittels dessen er sich wenn auch von Scham gekrümmt eiskalter Waschungen hingeben konnte. Nur, dass der Hahn tropfte und dieses in die Einsamkeit klopfende, die Einsamkeit der Nacht durchstechende Geräusch ihn Albträumen wehrlos auslieferte, in denen er ankunftslos durch verwüstete Straßen rannte oder stundenlang damit beschäftigt war, den Kopf einer unsterblichen Ratte mit einem Reschen vergeblich vom Rumpf abzutrennen.
An einer Wand hatten sie ein bullaugegroßes Guckloch eingebracht, mit einem Riegel, den er von Zeit zu Zeit vor- und zurückgeschoben werden hörte. Sie hatten wohl ihre ganz eigene Freude an solch altmodischen technischen Spielereien. Denn sie installierten in dem Loch ein Fernrohr, ähnlich dem von Unterseebooten, das weit in den Raum hineingeschraubt werden konnte und sich nach allen Seiten drehen ließ, sodass er den Blicken ihrer tierhaften Neugierde bis zum Nullpunkt der Scham und der Selbstverachtung ausgesetzt war.
Manchmal, bei anhaltender Stille, wenn er das Haus verlassen glaubte, kroch er unter das Guckloch und kniete sich davor, um einen vergrößerten, ins Denkwürdige verzerrten Blick nach draußen zu erhaschen. Er gewahrte blitzartig aufzuckende Fragmente des Sichtbaren. Einmal erschaute er den mit Fackeln grell erleuchteten Garten, in dem die kahlen Bäume wie Gespenster ragten: In den Ästen baumelten erhängte Hunde, denen man das Fell abgesengt hatte. Einmal erblickte er struppig-braune Jungs, vom Nabel an in eine Art Kartoffelsack gesteckt, aber mit nacktem Oberkörper, der wie von Fischschuppen zuckte: Sie spielten begeistert johlend mit einem abgeschlagenen Kopf Fußball, der aber noch lebte, denn aus seinem rötlich klaffenden Mund erschollen fröhliche Gassenhauer, immer wieder wie bei alten Grammophonplatten in eine andere Zeile oder Strophe springend, wenn er von einem nackten Kinderfuß getreten wurde. Wieder ein andermal schien ihn ein kugelrundes Glotzauge anzupöbeln, das sich aus dem Anus eines prallen Hintern drängte und zwängte. Und er glaubte einmal auch von den zahllosen Facetten eines Insektenauges bis in den Abgrund der Todesangst gehetzt zu werden. In regelmäßigen Abständen aber lugte unter struppiger Braue ein dunkles Menschenauge hinein, das sich bald abwandte. Dann hörte er ein Bellen – oder war es Lachen?
Manchmal schossen sie Strahlen grell-grünen Lichts durch das Auge. Damit schabten sie hörbar an den Wänden, sodass der Putz herabrieselte. Oder sie schrieben mit dem Licht Zeichen ihrer Ornamentschrift darauf – die aber nach einer Weile im Dunklen verglühten. In wie ihm schien regelmäßigen Zeitabständen griffen sie mit den Strahlen des giftigen Lichtes nach ihm und brannten ihm die Heilsmale auf Hände, Füße und in die Seite. Da ging ihm einmal auf, dass dies jeweils an einem Freitag geschehen musste. Und also hatte er ein Maß, die Dauer seines Aufenthalts zu bestimmen. Am Ende ergab sich ihm eine Anzahl von 1716 Stigmatisierungen, also musste er bereits 33 Jahre in der Kammer verbracht haben. Was aber, sinnierte er wie mit ausgetrocknetem Hirn, wenn sie nicht im Wochen-, sondern im Monatsabstand sich an den heiligen Wunden ergötzt haben würden?
Manchmal bugsierten sie statt eines schweren Steins einen Lautsprecher über das Loch in der Decke. Dann vernahm er das Schreckensgequietsche von Schweinen, die zur Schlachtbank gezerrt wurden. Oder das pornographisch-letale Stöhnen brutal penetrierter Frauen. Oder die ergreifend-getragenen Klänge des Introitus des mozartischen Requiems, die abrupt von einem wiehernden Hohnlachen abgebrochen wurden.
In der Kammer verbreitete sich gleichmäßig milchig-graues Dämmerlicht, das einzige Fenster hatten sie von außen zugemauert – er erinnerte sich noch, wie er auf seinem Bett hockte und verdutzt die tierisch behaarten Arme und Hände sah, wie sie Stein für Stein aufschichteten und die Öffnung vermauerten. So kam es, dass er keinen Anhalt hatte, den Wechsel von Tag und Nacht zu beobachten. Er versuchte anhand der Zahl herabgeronnener Tropfen den zeitlichen Abstand zwischen Zungenschnalzen, Gläserklirren und Gebetslallen zu ermessen, vergebens, sein Kopf versagte ihm regelmäßig den Dienst, wenn die Zahl in die Tausender ging. Was hätte es ihm auch genützt, die Zeitabstände dieser Ereignisse zu kennen, ihre Relation zum eigentlichen Wechsel von Tag und Nacht wäre ihm doch verborgen geblieben. Außerhalb des peinigenden Musters, das ihm die ebenfalls nicht sicher bestimmbaren Abstände der Stigmatisierungen gaben, versank er in ein traumgleiches Zeitempfinden, das ihm einmal vorgaukelte, er sei schon Jahrzehnte in seiner Kammer eingeschlossen, während es ihm ein andermal so vorkam, als wäre er eben erst hineingegangen, den Glitzerschmuck, die Kerzen und die süßen Engelsfiguren für den Weihnachtsbaum zu holen, nach dem es seine beiden Kleinen so sehr verlangte.
Wo waren sie? Lebten sie? Waren sie unversehrt oder … oder? Das waren die eigentlichen Fragen seines nunmehrigen Lebens, wenn man das Leben nennen mochte. Wie war der einstige Schmerz, sich von seiner Frau und der Mutter seiner Kinder getrennt zu haben, durch die Ironie der Geschichte in ein geradezu gnadenhaftes Geschehen umgeschlagen – blieb doch seine Frau, die schon lange ferne weilte, von all den grauenhaften Ereignissen verschont.
Lebten sie? Waren sie unversehrt? Wo waren sie? Nach all den Jahren, all den Jahren. Sie könnten durch Zwangsadoption in einen ihrer kinderreichen Clans aufgenommen worden sein, spielten die Spiele der Fremden, hätten der Muttersprache längst vergessen und rollten die exotischen Klänge über die Zunge wie ihre Gespielen. So könnten sie halbwegs davongekommen sein, blieben aber stets ein Spielball von Spott und Hohn, ihrer Herkunft wegen, die allzu offenkundig im Sonnenblond ihrer weichen Mädchenhaare aufschimmerte.
Und weshalb lebte denn er? Warum hatten sie ihn verschont? Das war das andere Rätsel, das ihn quälte. Er konnte es sich nicht anders denken, als dass sie ihn, der einst das schöne Haus auf dem Parkgelände errichten ließ und als Pfarrer von seiner Gemeinde echt empfundene Bezeugungen tiefer Zuneigung und hoher Anerkennung zuhauf erhalten hatte, dass sie ihn im Zustand äußerster Verwahrlosung und Verkommenheit wie eine Missgeburt den fremden Besuchern, darunter sicherlich hohen Würdenträgern ihres schwarzen Ordens, vorführten und der Lächerlichkeit oder dem Entsetzen der Gaffer preisgaben: Das waren die Augen am Guckloch, das war das bellende Lachen. Sie bezeugten in der armseligen Gestalt seiner verpfuschten und würdelosen Existenz ihr Recht als die Sieger und neuen Herren im Land.
Eines Tages, eines Nachts war es da. Er hörte eine Art Fiepen oder mäusezartes Niesen unter dem Bett und tastete vorsichtig nach dem Urheber des Geräuschs. Er traf auf eine hornige Haut oder ein Schildpatt, unter dem Gliedmaßen hervorstrudelten, nach denen er rasch griff und ein seltsames Ding hervorzog: Richtig von einem Krötenpanzer umbuckelt, lugte ein spitzes Gesichtchen hervor, aus dem ihn zwei blaugraue Äuglein verständig ansahen. Es schien gar zu lächeln, das Wesen, das ihm ein freundliches Schicksal wie im Traum zugedacht zu haben schien. Es reckte wie zur Begrüßung – aber wo hatte es so etwas gelernt – eines seiner Zwergenärmchen und winkte mit den krummen Fingern, an denen zu seiner Betrübnis lange, schmutzige Nägel ragten. Er sprach eifrig und frohgemut auf seine Begleiterin ein. War es denn ein weibliches Geschöpf? Oh, er wähnte von Zeit zu Zeit, als drücke es schmachtend knospenzarte Brüste über den Boden, von deren milchiger Ausscheidung die Kacheln eine schmale glänzende Spur zu zeigen schienen. So nämlich zog das verzauberte Ding gern, nachdem er ihm väterlich einige Brosamen in das küssende Mäulchen geschoben hatte, seine schiefen Runden in der Kammer, um wieder fröhlich niesend vor seinen Füßen anzulangen. Das Schildkrötenmädchen mochte indes auf all seine dringlichen Ansprachen nicht anders antworten als mit den allbekannten Fiep- und Niesgeräuschen, die er wohlwollend nur als Zeichen eines herzlichen Einverständnisses zu lesen entschlossen war.
Meist schlief das Wesen, dem nun die ganze Liebe und Anhänglichkeit des einsamen Bewohners der Todeszelle galt. Dann war das Köpfchen bis auf den Rest eines wirren Haarschopfs unter den Panzer eingezogen und er hörte es sachte schnarchen. Erwachte es, hatte er schon liebevoll das Frühstück bereitet: Denn wie sich bald herausstellte, verkostete es die exotisch scharfen und bitteren Früchte der Fremden nur allzu gern. Wie entflammte nun in ihm der hohe Wunsch, die Frohe Botschaft von Jenem zu künden, der das Licht des heiligen Lebens in die tiefste Tiefe des Abgrunds der Angst und Weltverlorenheit gesandt hat, einem Wesen zu künden, das ihrer im Umkreis gnadenfeindlichster Gewalt so sehr bedurfte. Zwar schien das Kind durch Nachahmung frommen Sinnes, wenn es wie er die Hände, Händchen waren es ja bloß, zum Herrengebet zu verschränken schien, doch wenn er die Worte sprach, vernahm er nur das bekannte Geräusch des Fiepens und mäusezarten Niesens – und dabei blieb es, so sehr er sich bemühte, der Kindfrau seine ringsum wie auf immer verstummte Muttersprache beizubringen. In dem Kind ein Wesen gefunden zu haben, das ihn als Zeuge und Erbe seiner Sprache überleben würde, dieser scheue Hoffnungsmond verdunkelte sich bald wieder.
Aus schäbigem, zerbrochenem Traum weckte ihn das mutvolle Geläute von Glocken. Da wusste er, kaum erwacht, dass er sterben werde – denn schon lange waren die Glocken des Landes eingeschmolzen und die Türme, von denen ihr Ruf ausging, abgetragen. Die Tür der Zelle fand er offen und an der Schwelle lag der ausgenommene Panzer des Schildkrötenmädchens. Seine Füße trugen ihn wie der Wind über den Rasen des Parks und er flog leicht durch das auratische Blattwerk der Birken. Er war schon sehr hoch, als er freudig-erschrocken unter sich das glänzende Band des Rheins gewahrte: dorthin, dorthin, um in die Kühle und Ursprungsfrische des Wassers zu tauchen, ins flüssige Gold zum letzten Male emporgezitterter Sage.
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