Fremd in der Fremde gehen
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Die heimische Zecke träumt nicht von exotischen Ländern, wo sie sich von einer Palme auf heiße braune Haut fallen ließe; sie bleibt, wo sie ist; sie saugt, was sie kann, und taumelt dann traumlos zur Erde.
Zeus schwebt nicht, sondern thront.
Das Leben ist ein unausgesetzter Disput zwischen der Schwerkraft und dem Licht. – Meist stirbt ihnen der Gegenstand ihres Streits unter der Hand weg.
Der Schwerkraft trotzend treiben Keime aus dem Dunkel der Erde ihre Sprossen hervor. Wie sie sich im Winde wiegen, den Schmelz des Lichts zu genießen.
Das Trauma der Geburt ward uns gnädig aus dem Gedächtnis getilgt; und dennoch gibt es Spuren in Empfindungen von Enge und Gefühlen von Ausweglosigkeit; Scheu vor grellem Licht; Verstörung durch den Lärm der Welt: in utopisch-religiösen Bildern vom Ausgang aus der Gefangenschaft durch ein lichtes Tor.
Die Heiterkeit und Abgeklärtheit, wie sie selbst Goethe und Nietzsche nur in seltenen Augenblicken erlebt haben, ist kein Wesensmerkmal des deutschen Charakters; das Lächeln Buddhas kein vorwaltendes Kennzeichen seiner Physiognomie.
Der brave deutsche Michel hat sich reumütig damit abgefunden, seinen Untergang durch Selbstzerfleischung masochistisch zu genießen oder in karnevalesken Bacchanalen zu feiern.
Drängten Millionen Angehörige der weißen Rasse in China oder Zentralafrika ein, sprächen die guten Seelen in Tönen hochmoralischer Entrüstung und scheinmoralischer Verzückung von kolonialistischer Invasion und genozidaler Barbarei; doch wenn umgekehrt …
Menschen sind natürliche, doch höchst problematische Lebewesen, weil sie dank der Sprache das Subtilste und Sublimste zum Ausdruck bringen, aber auch aufgrund semantisch bedingter Mißverständnisse und verzerrter Bilder in große Verwirrung gestürzt werden können.
Den kausalen Nexus zwischen ethnischem Substrat und sprachlich-kultureller Höchstleistung wie bei den alten Juden, Chinesen, Japanern, Spartanern, Kelten und Germanen und anderen Völkern zu sehen und zu analysieren, ja bloß zu konstatieren, gilt nunmehr schon als ein Kennzeichen verfemten Denkens.
Nicht anders steht es um die Weigerung, die seltenen Aberrationen zwischen den Polen des männlichen und weiblichen Geschlechts als exotische Blüten der Evolution zu verklären oder gar als konventionelle soziale Konstrukte zu klassifizieren.
Es bedurfte des jahrhundertelangen Phantasierens und Erzählens in germanischen Stämmen, bevor wir all die Märchen in Händen halten konnten, wie sie die Gebrüder Grimm gesammelt haben, und deren fiktionale Welt die reale des deutschen Waldes voraussetzt.
Liegen, Stehen, Gehen sind die allernatürlichsten Haltungen und Handlungen; sie steuern den Haushalt der Seele.
Aufstehen, doch wozu; Gehen, doch wohin; die grundlegenden Fragen, die aus der Natur des Menschen ins Metaphysische zu wuchern geneigt sind.
Geben und Nehmen, Zeigen und Verhehlen, Herrschen und Dienen, Lieben und Hassen – natürliche Gesten und Verhaltensweisen, die je eigene Bedeutungsvarianten ins Spiel bringen; so ist etwa die Gabe Geschenk, Gunstbezeigung, Huldigung oder eine Form der Demütigung.
Der Kampf mit der Schwerkraft ist ein Grundzug des menschlichen Dramas; Gleichgewicht – natürliche Disposition und zugleich seelisches, ja ästhetisches Ideal.
Die geniale Einsicht, daß selbst der beschwingte Flügel des Widerstands der Luft bedarf.
Intelligenz das Rinnsal, Dummheit der Ozean.
Will man den armen, aber frommen Juden unterm Dach nötigen, am Schabbes die üblen Dünste ranzigen Schweinefetts einzuatmen, die aus der unteren Wohnung der Gojim aufsteigen?
Jovialer Gleichmut und herrscherliche Gravität pflegen gern auf erhabenen Sitzen zu thronen; Dichtung und Musik nahe Geister wie Apoll und Eros zu schweben.
Der in unbekanntes Gelände vordringt, in zwielichtige, neblige Gefilde, tastet sich voran, die Festigkeit des Bodens prüfend, hält inne, um zu lauschen, lächelt, sieht fern er ein Licht. – So der Dichter, der ins unbekannte Gelände neuen dichterischen Ausdrucks vordringt.
Freilich, der Routinier stapft Gassenhauer pfeifend über ausgetretene Pfade.
Das Wort, das nicht leicht über die Lippen kommt, das Wort, das die Zunge kitzelt wie ein fremdes Haar.
Beneidenswert scheint, wem die Gemeinde andächtig lauscht; suspekt, wer ihr den gewohnten Happen darreicht.
Opern- und Liedsänger sind im Vorteil, weil ihr professionelles Training ihrer seelischen Gesundheit mittels reichhaltigen Ausdrucks aller möglichen Empfindungen und Gefühlslagen förderlich ist.
Während er schläft, unterreden sich Hirn und Herz, wie lange sie den Budenzauber noch mitmachen wollen. Das Hirn sagt: „Pumpst du weiter das Blut, was soll ich anderes tun als denken?“ – Das Herz: „Denkst du weiter Gedanken, die mich aufstören, quälen, erregen, was soll ich anderes tun als zittern und pochen?“
Das ameisenhafte Gewimmel in den großen Metropolen ist nicht Leben, sondern Gieren, Hasten, Raffen, Sorgen, um noch einen Tag zu leben und dann … noch einen Tag.
Jener errichtete sich das Monument seines Werks, um seinen Namen zu verewigen; nun ward es zu einem Mausoleum, halb eingesunken in den Schlick der Geschichte, überwuchert von einem Dornengestrüpp der Gelehrsamkeit, das seinen Eingang versperrt.
Die Metropole ist die Retorte, aus welcher der Homunculus hervorgeht.
Die Künstlerischen und Musischen, die Seltenen, sie hausen nun in düsteren Kammern, ähnlich den Frommen, die ihren alten Ritus verborgen und im Abseits, in Schuppen und Katakomben, feiern.
Das Tier erfüllt den Kreislauf des Daseins; der Vogel nistet, bebrütet das Ei, nährt die Jungen, bis sie flügge werden, und wenn das sinkende Herbstlicht das tiefe Gedächtnis weckt, hört man den jubelnden Schrei beim Aufflug gen Süden. – Was erfüllt des Menschen Dasein, auf daß er ohne Wehmut oder Groll Abschied zu nehmen vermöchte?
Die Hoffnung, in der Sprache die Nähe des Miteinanders zu finden, trog; nun flüchtet er in die Einsamkeit der Stille, nun muß er fremd in der Fremde gehen.
Als wären wir von außerirdischen Wissenschaftlern in eine virtuelle Welt versetzt, die der unseren aufs Haar gleicht, und sie machen mit uns Experimente: Wie wir auf verstörende und traumatisierende Begebenheiten reagieren: auf einen Verlust (unser Hund liegt morgens tot neben dem Bett), auf eine Drohung (man sendet uns beängstigende Mails), auf eine Trennung (unsere Liebe schickt uns einen Abschiedsbrief); für uns ist es Ernst, für sie wie für die olympischen Götter eine Komödie und ein neckend-unterhaltsames Gaukelspiel, dem die wissenschaftliche Maskerade nur zum Vorwand dient, eine andere Form des Voyeurismus zu befriedigen.
Unrecht ist die Negation von Recht. Unfall nicht die Negation von Fall, sondern eine Varietät in der unendlichen Reihe aller möglichen Fälle.
Unfälle, eine quantité négligeable der Philosophen, geschehen aus heiterem Himmel (uns fällt ein Dachziegel auf den Kopf) oder aus mangelnder Aufmerksamkeit (wir schneiden uns in den Finger); scheinbare Unfälle, wie der Verkehrsunfall, können sich im nachhinein als absichtsvolle Handlungen erweisen (wenn es sich um die Tat eines Amokläufers handelt). Kleinere Unfälle stecken wir weg (die Wunde am Finger heilt von selbst), größere führen zu einem Einschnitt in der Biographie (er kann nach dem Infarkt nur mehr unverständlich lallen).
Ein Mensch wird nach dem ersten psychotischen Schub, dem seelischen Unfall, zum psychiatrischen Fall; er sieht sein bisheriges Leben im Zwielicht der erlebten psychotischen Phänomene (es war klar, daß sie ihn loswerden wollten, sie haben sich von jeher gegen ihn verschworen; jetzt weiß er, warum sie ihn verlassen hat).
Ein Mensch sieht nach einem religiösen Erweckungserlebnis (ein Engel erscheint und zeigt ihm eine Tür, die ins Paradies führt; die Tür ist verschlossen, er muß den Schlüssel finden) sein bisheriges Leben als Irrgang durch ein Labyrinth; jetzt weiß er um den Ausgang, kann ihn aber noch nicht durchschreiten. Wo mag der Schlüssel sein; was mag der Schlüssel sein? Ist er es selbst, in verwandelter Gestalt? Wie die Wandlung herbeiführen? Durch Fasten und Beten, durch Singen und Psalmodieren, durch aufopfernde Caritas?
Manchmal können wir den psychiatrischen vom religiösen Fall nicht klar unterscheiden. – Gott mag es können.
Ein Merkmal des Traums liegt in dem Umstand, daß wir seine Schein-Wahrnehmungen während des Traumgeschehens nicht überprüfen können; während wir dies im Wachzustand ständig tun oder tun können (wir verbessern die grammatischen oder semantischen Fehler während des Redens und Schreibens). Die Ähnlichkeit des Wahns mit dem Traum zeigt sich in eben diesem Mangel an Eigen-Korrektur.
Ansonsten sehen wir den Verstand, selbst den scharfen, im Dienste des neuen Herren, des Wahns,arbeiten: „Er verfolgt dich nicht, er ist hinter uns schon vom Weg abgebogen.“ – „Das macht er aus List, um aus einer Seitenstraße wieder zu mir zu stoßen.“ – „Hier wohnen keine Juden, die dir nachstellen und dein Denken beeinflussen könnten.“ – „Sie sind sehr intelligent und arbeiten mit ferngelenkten Strahlen, die mich aus dem Smartphone heraus abtasten, durchleuchten und einzelne Organe angreifen.“
Man kann sinnvoll handeln und reden, denn eine Handlung kann auch mißlingen (eine Lampe an eine tote Leitung anschließen) und eine Rede kann bloß Kauderwelsch sein; doch läßt sich begrifflich genau vom Sinn des Lebens sprechen, und was wäre sein Gegenteil? – Nichtsein ist nicht die Negation des Seins, tot zu sein nicht der Schatten des Lebens.
Wer immer nur Wasser getrunken hat, kann eine wunderliche Erfahrung machen, wenn ihm zum ersten Male ein guter Wein kredenzt wird; doch wer immer nur Zeitung gelesen oder das stereotype Gerede der öffentlichen Medien aufgesogen hat, wird, zum ersten Male mit einem Gedicht von Stefan George oder Georg Trakl überrascht, nichts weniger als eine neue geistige Erregung empfinden.
Verseuchung des Geschmacks durch Schule, Fernsehen und Internet; George, Hofmannsthal oder Karl Kraus konnten vielleicht den einen oder anderen aus dem Sumpf der Zeitungssprache emporziehen; aber hier ist kein George, kein Hofmannsthal und kein Karl Kraus.
Kein Trost ist, wenn wir die dialektische Wahrheit sehen: Gold kann ohne hintergründige Dunkelheit nicht glänzen; das schöpferische Wort blüht nur am Abgrund der Vernichtung; der Liebe fehlt die Glut, spielt Nachtwind nicht mit ihrem Licht; kein Leben ohne Abschied, Tod, Zerfall, soll es nicht wie im Mythos von Tithonos als schrille Zikade und schrumpelnde Mumie dahinvegetieren; kein Gott, dem nicht Satan widerspricht, oder kein Gott, der sich nicht geistreich mit Satan unterhalten mag.
In den Säulenordnungen der Griechen, den Oden des Horaz, in Mozarts überirdischen Melodien und Harmonien sehen wir das Gestalt gewordene geistige, seelische und ästhetische Gleichgewicht; wir aber müssen fallen, kaum daß wir uns ein wenig emporgereckt.
Wie manche fallen, mitten in der Komödie des Lebens, wenn Satan ihnen ein Bein stellt.
Und sehen wir, in einem geisterhaften Licht der Dämmerung, uns selber im Wasserspiegel lächeln, rührt alsbald ein fataler Wind die glatte Fläche auf, und unser Bild erlischt.
Was Gestalt in Wort und Geist gewesen, wurde Brei. – Ähnlich den kunstvoll verschnörkelten Ranken und zierlichen Rokokoaufbauten aus Zimt und Marzipan und Zucker, die im gierige Zugriff des treuen Wachhunds zermalmt und zermatscht werden.
Gemüt Gedärm, die Seele Dunst, und Liebe eine Niete in der Todeslotterie.
Wirken wollen, Absichten hegen, Tendenz bekunden ist im Gebiet der Kunst Ausdruck niederer Gesinnung.
Uns genüge die daseiende Vollkommenheit in der reinen Geste des Gebets, dem wie der Mond auf dunkelnden Wassern sich spiegelnden Reim, der unbewußten Träne am zitternden Lid.
Comments are closed.