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Freiheitsgrade und bewusstes Leben

08.04.2015

Wenn du etwas behauptest, dann nur, weil du die Möglichkeit hattest, etwas anderes (das für dich ebenso naheliegend gewesen wäre) zu behaupten, aber vorgezogen hast, zu behaupten, was du behauptet hast. Wenn du etwas behauptest, dann nur, weil du die Möglichkeit hattest, das Gegenteil von dem zu behaupten, das du behauptet hast, oder auch gar nichts zu behaupten oder zu schweigen.

Wir unterscheiden demgemäß Freiheitsgrade des Wollens, Denkens und Sprechens. Wenn du p behauptest, stand es dir frei, entweder nicht-p oder q oder gar nichts zu behaupten (zu schweigen).

Die Behauptung p impliziert die Freiheitsgrade:

(1) nicht-p zu behaupten
(2) q zu behaupten
(3) nichts zu behaupten (zu schweigen)

Würde deine Behauptung p keine Freiheitsgrade implizieren, hättest du also nicht die Möglichkeit, nicht-p oder q oder nichts zu behaupten, hättest du mit der Äußerung p gar nichts behauptet, sondern nur ein Geräusch hervorgebracht.

Oder anders ausgedrückt: Etwas zu behaupten ohne die Möglichkeit zu haben, nicht-p oder q zu behaupten oder sich jedweder Behauptung zu enthalten, heißt nichts zu behaupten.

Eine programmierte Maschine, die auf den Stimulus S einen Response in Form der Äußerung p generiert, hat keine Behauptung geäußert, denn es wäre ihr nicht möglich, statt p auch nicht-p oder q oder gar keinen Response zu generieren. Wenn die Maschine statt p eine andere Reaktion zeigt, wie nicht-p oder q oder gar keinen Response, hat sie damit nichts behauptet. Vielmehr wären diese „Antworten“ unerwartete Reaktionen auf den Tatbestand, dass das Programm versagt hat und die Maschine nicht oder nur fehlerhaft funktioniert.

Drücken wir das Kalkül der Freiheitsgrade möglichst einfach anhand der Elementarunterscheidung von „ja“ und „nein“, von Position und Negation aus:

Wenn du die Aussage p betrachtest, kannst du oder steht es dir frei oder hast du die Möglichkeit:

(1) p zu bejahen oder zu akzeptieren
(2) p zu verneinen oder nicht-p zu akzeptieren
(3) die Aussage q der Aussage p vorzuziehen
(4) dich jedweder Aussage und Behauptung zu enthalten (es vorzuziehen zu schweigen)

Wir bemerken, dass wir eine Behauptung p der Behauptung nicht-p vorziehen, wenn es uns scheint oder wenn wir glauben, dass p wahr, aber nicht-p falsch ist. Dass uns etwas so oder so erscheint oder dass wir p glauben, setzt voraus, dass wir, vage gesagt, uns unserer Zustände bewusste Lebewesen sind. Deshalb kann eine Maschine nichts glauben und weil sie nichts glauben kann, auch nichts behaupten – denn etwas behaupten setzt, wie wir sehen, die Möglichkeit und Fähigkeit voraus, etwas zu glauben.

Wir bemerken weiterhin, dass etwas zu glauben die Möglichkeit und Fähigkeit voraussetzt, die Elementarunterscheidung von Position und Negation zu vollziehen. Wenn ich glaube, dass p, impliziert dies, dass ich glaube, dass p positiv oder wahr, dagegen nicht-p negativ oder falsch ist. Die Elementarunterscheidung von Wahrheit und Falschheit hat also eine interne Beziehung zum Grundzustand des Glaubens, der für ihrer Zustände bewusste Lebewesen identitätsstiftend oder ein Identitätsmerkmal ist.

Wenn ich p zu glauben nicht-p zu glauben vorziehe, muss ich dafür keinen Grund haben oder bedarf dafür keiner Rechtfertigung. Zu glauben, dass hier jetzt grün ist, genügt, damit meine Behauptung gerechtfertigt ist.

Dagegen muss ich, wenn ich die Aussage p zugunsten der Aussage q verwerfe oder die Aussage q der Aussage p vorziehe, zumindest einen guten Grund haben, der meinen Glauben, dass nicht-p, sondern q, stützt. Dieser Grund kann eine Aussage r sein, die zu glauben mir evident erscheint, ohne dass ich für sie einen weiteren Grund angeben muss.

Ich sehe, dass ein Loch in der weißen Tischdecke eine Tischplatte zum Vorschein kommen lässt, die an dieser Stelle die Farbe Schwarz aufweist. Ich verwerfe die Aussage p, das weiße Tischtuch verhülle eine zur Gänze schwarze Tischplatte, zugunsten der Aussage nicht-p, die Tischplatte sei nicht überall von schwarzer Farbe, oder ich ziehe die Aussage q, die Tischplatte sei sowohl schwarz als auch rot, der Aussage p, die Tischplatte sei schwarz, vor, weil ich ein weiteres Loch in die Decke geschnitten habe, das an dieser Stelle die Farbe Rot aufweist und mir den Grund zu der Aussage s liefert, die Tischplatte sei zumindest an dieser Stelle rot. Dieser Grund genügt mir, um meine Aussage q zu stützen.

Zwischen der Position und der Negation, zwischen „ja“ und „nein“ liegt der nicht messbare Raum oder die Freiheitsdimension der Indifferenz oder der Urteilsenthaltung oder des Schweigens. Gefragt, ob angesichts der Feststellung, dass das erste Loch in der weißen Tischdecke zu der Aussage berechtigt, dass die Tischplatte an dieser Stelle schwarz ist, und der Feststellung, dass das zweite Loch zu der Aussage berechtigt, dass die Tischplatte an dieser Stelle rot ist, ich einen Grund zu einer Aussage darüber habe, von welcher farblichen Beschaffenheit die Tischplatte insgesamt ist, enthalte ich mich meines Urteils und hülle mich in Schweigen.

Wir bemerken, dass es ein Zeichen der Klugheit oder Weisheit ist, sich in Zweifelsfällen des Urteils zu enthalten, dagegen ein Zeichen von Dummheit oder Überheblichkeit, vorgebliches Wissen und vorschnelle Behauptungen in Fällen zu äußern, in denen ein entschiedenes „Ignoramus“ angemessen wäre: Si tacuisses philosophus mansisses.

Freiheit ist eine Form freiwilliger oder vorsätzlicher Bindung oder Verpflichtung. Je stärker die Bindung und je größer die Verpflichtung, umso stärker und größer der Freiheitsgrad. Wenn ich dich nach dem Befinden unseres gemeinsamen Freundes frage, da ich ihn schon lange nicht mehr gesehen habe, bürdest du dir mit der Behauptung, du habest den Freund doch heute gut gelaunt im Park spazieren sehen, mir gegenüber immerhin die Verpflichtung auf, mich nicht mit einer unwahren Aussage an der Nase herumzuführen – der Polizei gegenüber, die dich aufgrund einer Vermisstenanzeige seiner Frau oder seiner Familie über den Aufenthalt des Freundes befragt, gehst du mit deiner Aussage, du habest ihn heute im Park spazieren sehen, eine ungleich stärkere Verpflichtung ein.

Wir bemerken, dass unser bewusstes Leben durch die Möglichkeiten und Fähigkeiten, etwas zu glauben oder nicht zu glauben oder etwas anderes zu glauben oder weder das eine noch das andere zu glauben, kurz: aufgrund der Freiheitsgrade unserer Urteilsbildung in einen sprachliche Umgang eingebunden ist, der uns ohne dass wir gefragt worden wären in unterschiedlichem Maße die Verantwortung dafür aufbürdet, ob wir eine Behauptung oder ihre Verneinung akzeptieren, ob wir eine Behauptung einer anderen vorziehen oder ob wir uns der Urteilsbildung enthalten und uns in Schweigen hüllen.

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