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Ewige Wahrheiten und kurzlebige Fiktionen

15.05.2015

Zu den grundlegenden Irrlehren, mit denen uns das sogenannte postmoderne Denken zu beglücken gewähnt hat, gehört vor allen anderen die, der Inhalt unserer Gedanken müsse stets subjektiv und also etwas Konstruiertes oder Fingiertes sein, weil Gedanken schließlich das Gepräge ihrer subjektiven Herkunft oder der Herkunft von der Subjektivität des Denkenden an sich trügen.

Doch nichts ist weniger subjektiv als der Gedanke, dass der römische Feldherr und Imperator Caesar an den Iden des März 44 v. Chr. durch eine Gruppe von Verschwörern im römischen Senat ermordet worden ist – vorausgesetzt der Gedanke ist wahr. Die Subjektivität ist in diesem Fall eingeschränkt auf die Tatsache, dass der Gedanke von jemandem irgendwann und irgendwo gedacht oder der den Gedanken ausdrückende Satz von jemand anderem irgendwann und irgendwo ausgesprochen wird. Das beeinträchtigt aber nicht die objektive Wahrheit des Gedankens. Wahrheit eines Gedankens meint schlicht und einfach, dass die Gegenstände oder Ereignisse, von denen durch ihn die Rede ist oder auf die er sich bezieht, existieren oder existiert haben. Wie die in unserem Beispiel zuständigen Historiker die Wahrheitsbedingungen des Gedankens feststellen und kontrollieren, ist ein methodisch aufwändiges Unterfangen: Wir ernten hier wie allenthalben die Früchte des Erfolgs methodisch streng geregelter Verfahren im Aufweis der Wahrheits- und Existenzbedingungen von Aussagen der Historie, der Physik oder Chemie. Wenn die Aussage, die den Gedanken ausdrückt, dass Caesar an den Iden des März 44 v. Chr. ermordet wurde, wahr ist, dann gehört dieser Gedanke zu den ewigen Wahrheiten und bleibt gültig, auch wenn die Erde schon in der Glut der expandierenden Sonne untergegangen sein wird.

Was ist subjektiv an der Aussage, die meinen Gedanken ausdrückt, dass hier jetzt die Sonne scheint? Ich kann ja diesen Gedanken einfach so darstellen kann: (Ich denke) Hier scheint jetzt die Sonne. Nun, offensichtlich sind die Stellen der Aussage subjektiv gefärbt, die sogenannte indexikalische Ausdrücke oder Indikatoren enthalten, in unserem Fall also „ich“, „hier“ und „jetzt“. Wir gelangen aber durch einfache Umformung dieser Aussage zu einer Aussage, deren Wahrheits- und Existenzbedingungen wir ohne weiteres feststellen und verifizieren können: (Ich denke) Am 15. Mai 2015 WEZ scheint in Frankfurt am Main um 18.25 die Sonne. Auch für diese Aussage gilt, dass sie wie die oben genannte historische Aussage eine ewige Wahrheit darstellt.

Wir bemerken, dass ewige Wahrheiten wider den Anschein keine erbaulichen Äternitäten darstellen, sondern im Gegenteil in den meisten Fällen alltägliche Trivialitäten.

Von den logischen und ontologischen Wahrheiten, die die Grundlage aller wahrheitsfähigen Aussagen bilden, wollen wir hier kein großes Aufhebens machen. Nur so viel: Die Person namens Caesar, von der wahrheitsgemäß ausgesagt wird, sie sei an den Iden des März 44 v. Chr. ermordet worden, muss dieselbe Person sein, die in den Jahren 57 bis 53 v. Chr. in Gallien Krieg gegen germanische und gallische Ethnien geführt hat. Hätten wir wahrheitsfähige Indizien dafür, dass die eine Person eine andere gewesen sein könnte als die andere, wüssten wir nicht mit Gewissheit zu sagen, dass es die Person Caesar gewesen ist, die an den Iden des März 44 v. Chr. ermordet worden ist. Wir müssen bei der Annahme der Wahrheit historischer Aussagen von der ontologischen Wahrheit der Annahme der Identität der Gegenstände ausgehen, von denen die wahren Aussagen Aussagen darstellen.

Eine der großen Lustbarkeiten und Verführungsinszenierungen des sogenannten postmodernen Denkens zielt bekanntlich als Spiel der Fragmentierung gerade auf die ontologisch-semantische Bedeutsamkeit der Identität. Besonders die personale Identität hat es ihnen angetan, als wäre es eine ausgemachte Sache, dass die Identität der Person großenteils oder zur Gänze aus geliehenen, erborgten, fingierten (am Ende gar anderen Personen entrissenen) Teilen und Teilstücken zusammengesetzt, zusammengeschustert, zusammenphantasiert sei.

Hier gehen große und grobe Theoriebrocken durcheinander: Wir haben Unterschiede zu machen zwischen der ontologischen Identität einer Person, die mit der Tatsache ihrer Existenz gegeben ist (deshalb heißt sie ontologisch), und der psychologischen Einheit der Persönlichkeit, die ein Kontinuum von mehr oder weniger leichten Verschiebungen und Übergängen in den emotionalen Obertönen bei einem basso continuo charakterlicher Dispositionen darstellt.

Der Verführer schiebt sich die lächelnde Maske des Verliebten vors Gesicht und mag damit seinen Zweck erreichen, das Objekt seiner Begierde nach Unterwerfung zu verführen. Die Maske des Verliebten macht ihn allerdings nicht verliebt und die Hingabe der Frau ebenso wenig zum Liebhaber oder Liebenden. Gerade, dass er um die Fiktion seiner aufgesetzten Haltung weiß, würzt sein Verführungsspiel. Ganz und gar nicht verschmilzt die Fiktion mit seiner personalen Identität, die in der kühlen Haut des Zynikers und Spötters verborgen ist. Das, was seine Witze böse funkeln lässt, die Intelligenz des leidenschaftslosen Betrachters und Erlauschers und oberflächlichen Gouteurs der Dinge, entsteigt dem charakterlichen Wesenszug einer feindseligen Lebens- und Daseinsscheu, die oft das Ergebnis und die Narbe einer tiefen Verwundung darstellen mag.

Nur du kannst zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort das Abitur im Fach Latein geschrieben haben, wenn es denn wahr ist, dass du damals dort das Abitur gemacht hast. Solltest du damals dort das Abitur nicht gemacht haben, heißt das nur, dass die Annahme, du habest damals dort das Abitur gemacht, falsch ist. Wenn du aber mit der geborgten und fingierten Annahme, du habest damals dort das Abitur gemacht, durchgekommen bist und dich durch dein bisheriges Leben durchgemogelt hast, heißt das nur, dass du ein Betrüger und Hochstapler bist.

Wir wissen demnach, was es heißt, ein Hochstapler zu sein und hochzustapeln. Wenn wir dies wissen, wissen wir auch, was es heißt, kein Hochstapler zu sein und nicht hochzustapeln: nämlich ein ehrlicher Mensch zu sein und nicht vorzugeben, etwas zu sein, was man nicht ist.

Wenn es angesichts des Getues und Gebarens gewisser Leute ratsam erscheint, genauer nachzuschauen, welche Teile ihrer personalen Identität ausgeliehen, erborgt oder fingiert sind, dann nicht, weil wir es mit faszinierenden und facettenreichen oder schillernden Persönlichkeiten zu tun haben, sondern (vielleicht schillernden) Betrügern und Hochstaplern.

Am Begriff des Authentischen lässt sich beispielhaft der Missbrauch von Begriffen demonstrieren, wie er im postmodernen Feuilleton gang und gäbe ist. Zuerst wird ein Popanz unwahren Seins aufgetischt, wonach ein Ideal menschlichen Lebens eben jene beschworene Authentizität sei, um es hernach umso genüsslicher als unlebbare Fiktion oder Lebenslüge zu entlarven. Hier besteht der Missbrauch einfach in der Begriffsverwendung: Authentisch meint schlicht echt, daher kann man sagen, die von Thukydides als Worte des Perikles überlieferte Rede sei authentisch oder nicht authentisch, weil sie wirklich die historische Ansprache des Feldherrn der Athener wiedergibt, oder nicht authentisch, weil sie erfunden ist. Aber was es heißen soll, dass eine Handlung oder gar das Leben eines Menschen authentisch seien, liegt jenseits des vernünftigen Gebrauchs der Worte. Ja, wir empfinden gleich ein Unbehagen, sagen zu hören, diese Geldscheine seien im Gegensatz zu jenen (unechten) Blüten authentisch. Wenn du Blüten in Umlauf bringst, lebst du nicht weniger authentisch als brave Leute, die ihrer Arbeit nachgehen, sondern handelst betrügerisch. Du kannst dich für die Freischaltung des Zugangs auf einer Internetplattform durch ein spezielles Verfahren authentifizieren, aber das heißt bloß, dass du deine Identität durch gewisse Merkmale wie ein Verfahren der Codierung als echt bezeugst. Wenn du dich einer fremden Identität bedienst, um dir einen illegitimen Zugang in der digitalen Welt zu erschleichen, wirst du schlechte Gründe haben, deine echte und wahre Identität zu cachieren, aber dein Leben wird dadurch nicht weniger authentisch als das der biederen Leute, die vor jeder Uniform gleich ihren Ausweis zücken.

Wir bemerken, dass die Tatsache nachweisen zu wollen, dass etwas nicht authentisch ist, nur bedeuten kann, dass man nachweist, dass eine Sache oder ein Sachverhalt oder die Identität eines Menschen nicht die sind, die sie zu sein scheinen oder die sie vorgeben zu sein. Die Rede ist fingiert, der Geldschein eine Blüte, der Internet-User ein Betrüger. Mehr sagen zu wollen, wie dass im Grunde die personale Identität eines jeden Menschen nicht authentisch sei, weil sie aus Fiktionen und anderen Versatzstücken mehr oder weniger artifiziell zusammengeklaubt und zusammengeleimt sei, ist selbst eine Form des Denkens als Hochstapelei.

Warum eine ganze Generation sich von Phänomenen hat bestechen und faszinieren lassen, die sich bei nüchterner Betrachtung als Formen des Betrugs und der Hochstapelei entpuppen, ist eine Frage, die sie sich selbst zu stellen hat.

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