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Evokation

16.05.2014

Der Knabe liegt aufgebahrt
auf dem hellen Kalksteinquader.
Sein Haarschopf quillt
in blonder Sonnenfülle über seinen Rand.

In ein weißes Tuch gehüllt,
scheint sein schmaler Leib
zu schweben wie ein Einbaum
auf schäumiger Flut.

Schlanke Vasen ragen seitlich,
zeichenlos und still,
recken weiße Lilienblüten
in die Ewigkeit.

Durch die Flügel bunter Gläser
küssen Strahlen seine kühle Stirn.

Der Wunder-Rabbi pflückt
die gelben Rosenblätter
vom Schnee der reinen Lider.

Barfuß umschreitet er den Aufgebahrten,
ein Gebet stumm auf den Lippen.

Er neigt sich zärtlich
über das entrückte Antlitz,
er flüstert einen warmen Hauch
verstummtem Mund.

Er hat sich aufgerichtet,
mit erhobenen Händen
scheint er Gewalt von Liebesstrahlen
in diesen Augenblick zu binden
zu einem Kranz,
der von Prophetenstimmen
golden rauscht.

Und wieder beugt er sich
und salbt die Schläfen ihm
mit hingesprochenen Küssen.

Von erzenem Gong ein dunkler Hall
bricht durch die Wände –
der Knabe schlägt die Augen auf
und lächelt.

*

Eine schwarze Ratte
ward indes von all dem Zauber
aus ihrem faulen Loche aufgescheucht –
aufrecht lehnend auf dem feisten Schwanz
reckte sie die beiden roten Pfötchen.

Erst entfuhr ihr ein asthmatisch fragmentiertes Pfeifen,
dann überschlug im Diskant sie sich und quietschte,
quietschte wie eine Assoluta allen Rattenvolkes.

Als jedoch der Gongschlag ihre Sinne
wie aus Asche und aus Teer ein Donnern
gänzlich überwölkte,
fiel tot sie um und streckte alle Viere.

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