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Erzähltes Leben

08.10.2017

Anmerkungen zur Philosophie des subjektiven Lebens

Wir können unser und anderer Leute Leben nicht im Sinne der Zoologie oder Biologie, sondern nur im Sinne der Biographie verstehen.

Der biologische Tod ist kein Inhalt der Biographie.

Der eigene Tod ist der Inhalt fremder Biographien.

Manchmal, angesichts überwältigender Vorkommnisse oder einer extremen Verdünnung der Lebensspuren, haut es einem das tragende Begriffsnetz unter den Füßen weg, oder es tat sich ein Loch geradewegs dort auf, wo wir standen und nun nicht mehr stehen, sondern fallen oder trudeln oder schweben.

Dann wirkt ein Blick auf eine Grabinschrift kurierend und lebensfördernd: Name, Geburts- und Sterbedatum, vielleicht noch bei Mitgliedern höherer Kasten Rang und Verdienst. Das genügt, alles ist wieder klar. Wir haben den Namen, damit kulturelle Abstammung, Sprache und Geschichte; mit dem einen Namen greifen wir in zwei dichte Büschel von Namen: Ahnen, Verwandte und Schwäger; Freunde, Kameraden, Vorgesetzte, Untergebene, Mitglieder derselben oder sich kreuzender Gruppen, Verbände, Organisationen informeller oder rechtlich gesetzter Art. Die Lebenspanne ist ein Schnitt durch die umgekehrte Pyramide der zeitgleichen Ereignisse, eine nicht abzählbare Menge.

Wir erfassen das menschliche Leben gleichsam als literarische Gattung einer Erzählung im Sinne der Vitensammlungen der Antike oder des Humanismus von Sueton, Nepos und Plutarch über Hieronymus, Petrarca und Boccaccio bis zum „Echolot“ von Walter Kempowski. Dabei gilt als Gattungsregel: Die Vita ist eine Erzählung einer oder mehrerer Erzählungen, denn der, von dem sie handelt, hat selbst sein Leben erzählt. Dieser gleichsam im trüben Wasser gebrochene Strahl, der vielfarbig bis ins Graue sich abtönt, erfährt seine Brechung an der Instanz, die wir etwas ungeschickt das Ich oder Selbstbewußtsein nennen.

Wir können auch sagen, die in sich gebrochene und gespiegelte Erzählung einer Vita enthält zumeist verschiedene Erzähltypen und narrative Blöcke wie Epos und Kurzgeschichte, Witz und Farce, Komödie und Tragödie oder Tragikomödie und manche andere.

Die kleinste Einheit einer erzählten Vita ist der Sprechakt.

Da jeder Sprechakt mit der Äußerungssituation und den ihn motivierend vorausgehenden und aus ihm hervorgehenden weiteren Sprechakten intentional zusammenstimmt, können wir ihn prinzipiell oder cum grano salis, meistens aber ganz genau verstehen.

Die großen und kleinen Selektionsmaschinen, die unsere Viten nach Erzählformen auswählen, mischen oder trennen, nennen wir mangels besserer Begrifflichkeit kollektive Instanzen oder Institutionen oder Gruppen wie die patri- oder matrilineare Primärgruppe der Herkunftsfamilie oder die formale Sekundärgruppe der Bildungsinstanzen von der Klippschule bis zur Alma Mater.

Der schwache Sohn des starken Vaters mag einen Grundzug seiner Vita als Tragödie oder Komödie erzählen. Die künstlerisch begabte Tochter aus gutem Hause, die einem extravaganten Snob und Malerstar verfällt, mag angesichts des Umstands, daß ihr Geliebter ihre eigenen Bilder malt, einen Grundzug ihrer Vita als Schauergeschichte nach Art der Gothic Novel erzählen.

Wir unterscheiden Bios und Vita: Biologisch determiniert sind die Vorgänge der Geschlechtsreifung, des Wachstums, des Alterns, der Krankheit, des Verfalls und Sterbens; die Vita erzählt von den Einstellungen, Haltungen und Entscheidungen dessen, der diese Vorgänge unmittelbar erlebt und in vermittelten und sprachlich erschlossenen Formen ausdrückt – oder unfähig ist, sie irgend angemessen zum Ausdruck zu bringen.

So können wir auch von einer verfehlten, mißglückten oder zerbrochenen Vita sprechen: Der schwache Sohn weicht einer Konfrontation mit dem starken Vater aus und spielt Komödie, wird zum Klassenclown, veralbert und verzwergt. Die begabte Künstlerin mag den Geliebten, der sie gewiß demnächst mit einer anderen ausgetauscht haben wird, die ihm Modell steht, am Ende umbringen und so ihre Horrorstory zum finalen Showdown führen.

Wer in den Strudel großer Massenbewegungen, kollektiver Erhebungen oder Zerstörungen hineingerät, kann leicht den immer enger werdenden Spalt des Ausstiegs verpassen und zur Charge auf der Bühne der Macht herabsinken; seine Vita findet keine eigenen Worte mehr, sondern streicht sich selber aus oder verstummt hochtönend-beredt in Propagandaphrasen, programmatischen Lügen, affig geföhnten Klischees.

Hier fassen wir auch den Sinn der Rede vom Ursprünglichen und Abgeleiteten oder Degenerierten; er läßt sich am schlichten Unterschied des originären Wortsinns und seines verkitschten Überzugs erhellen: Wer am Sinn der Freundschaft mit einem, der ihn erweislich vielfach belogen und betrogen hat, hartnäckig festhält, hat die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs aus den Augen verloren oder redet und handelt so, als ob er noch in Geltung sei, obwohl die Realität eine ganz andere Sprache spricht. Diese Form der Bedeutungsblindheit finden wir im sentimentalen Kitsch wie dem genannten und im moralischen Kitsch eines, der die ursprüngliche Bedeutungsdimension von Begriffen wie „Solidarität“ oder „Nächstenliebe“ aus dem Mutterboden ihrer originären Anwendung, den primären Gruppen der Anverwandten, Freunde und vertrauenswürdigen Mitglieder der Eigengruppe, gleichsam entwurzelt hat und universalistisch ins Grenzenlose oder gesinnungsterroristisch zur Moralisierung der politischen Sprache und des politischen Handelns überdehnt, hinüberspielt und verspielt, nämlich beispielsweise Individuen kulturfremder Herkunft oder feindseliger Einstellung Tore und Kassen öffnet, bei denen eher Vorsicht und Argwohn angebracht sein mögen, ein Verlust an Besonnenheit und Lebensklugheit, den der Kitschmensch sich zur besonderen Ehre humanitärer Moral anrechnet.

Wir müssen von einem gewissen Feingehalt des ursprünglichen Wortsinns ausgehen, den gänzlich zu trüben oder zu tilgen darauf hinausliefe, beispielsweise die Bedeutung des Begriffs „Freundschaft“ mit der Bedeutung des Begriffs „Feindschaft“ zum Verwechseln anzuähneln. In diesem Falle wäre es sinnlos geworden, den Begriff „Freundschaft“ noch zu verwenden.

Wir können ähnlich den chemischen Elementen und ihrer Neigung zu Verbindungen bestimmten Wortbedeutungen stabile Kerne zuweisen, anderen die Neigung, sich leicht mit mehr oder weniger verwandten oder ähnlichen Begriffen zu verbinden: Die grammatischen Partikel und Konjunktionen wie „und“, „oder“, „aber“, „obwohl“, „als“, „denn“, „dennoch“, „weil“ oder „obwohl“ haben ziemlich stabile Bedeutungskerne, was sich darin erweist, daß wir einige von ihnen mittels eindeutiger Zuordnung zu Wahrheitstabellen zu logischen Junktoren purifizieren können. Ebenso können wir Farbbegriffe oder akustische Werte wie „hoch“ und „tief“ nicht beliebig gegeneinander austauschen, was sich wiederum darin zeigt, daß wir sie mittels physikalischer Terme vereindeutigen und definitorisch festlegen können.

Ebenso ergeht es uns mit den persönlichen Fürwörtern; hier zeigt sich die Stabilität der Bedeutung an dem Umstand, daß wir manchmal nicht wissen, ob sich jemand bei ihrer Verwendung geirrt hat oder der Sprache unkundig oder gar verrückt ist. Wer statt „ich“ „er“ und statt „er“ „ich“ sagt, könnte sich als Teilnehmer eines Anfangskurses in Deutsch für Ausländer entpuppen oder einen Beleg für einen psychotischen Schub abgeben.

Andererseits zeigen gerade Wörter für sinnliche Eindrücke visueller, akustischer, taktiler und olfaktorischer Provenienz eine mehr oder weniger große Neigung, sich mit Begriffen anderen Ursprungs in der Funktion als Metaphern unserer Gefühlswelt zu verbinden. So sprechen wir davon, jemand werde grün vor Neid oder gewahre den Himmel voller Geigen, ohne dabei einen visuellen oder akustischen Eindruck zu benennen, oder jemandem erscheine der Auftritt eines Stars blendend oder grell, ohne ihm optische Irritationen zuzuschreiben.

Wir können allerdings den metaphorischen Trick nicht so weit treiben, daß wir den stabilen Bedeutungskern des originären Wortsinns, mit dem wir spielen, völlig aus den Augen verlieren oder verdrehen: Auch wenn wir bei der Verwendung des Wortes „Quelle“ für die Herkunft einer Wendung aus einem antiken Schriftsteller kein Wasser sprudeln hören, können wir die Sache dennoch nicht so weit verdrehen, daß wir unser Zitat nunmehr als die eigentliche „Quelle“ ansehen und dem antiken Schriftsteller eine lange Nase machen. Demnach können wir den Sinn der verblaßten Metapher „Quelle“ in der Weise einer indirekten Kennzeichnung aufschreiben, indem wir sagen „Ort des nachweislich ersten Vorkommens einer Wortverwendung oder Redewendung“. Wenn wir allerdings die Kennzeichnung durchstreichen, wird es sinnlos, weiterhin von „Quelle“ zu reden.

Welche Bedeutungskerne bleiben in der Erzählung unserer eigenen Vita, vulgo unserer Autobiographie, stabil? Nun, allem anderen voran der korrekte Gebrauch der Personalpronomina sowie der Orts- und Zeitangaben. Wir müssen in der Lage sein, das von uns selbst Erlebte, das uns Widerfahrene und das von uns Gesagte und Getane uns selbst zuzusprechen. Wir können nicht von Ereignissen vor unserer Geburt oder außerhalb unseres Wirkungskreises als von uns intendierten oder herbeigeführten Vorgängen sprechen. Wir können uns die direkt intendierten Folgen unserer Handlungen, nicht aber ihre unbeabsichtigten Folgen unmittelbar zusprechen. Fallen wir selbst aufgrund von Erinnerungslücken oder mentalen Störungen als unmittelbare Augen- und Ohrenzeugen des von uns selbst Erlebten, Gesagten und Getanen oder Widerfahrenen aus, müssen wir uns indirekter Belege oder Zeugnissen Dritter bedienen, die unser vergangenes Dasein bescheinigen und beurkunden, von der Geburtsurkunde über den Personalausweis und amtlichen Zeugnissen von Schulen und Behörden bis zum Testament des Vaters oder Onkels.

Wir können beispielsweise das uns leidvoll Widerfahrene nicht dadurch loswerden oder wie eine welke Haut abschütteln, indem wir es gleichsam entselbsten und einer fiktiven „Er“-Instanz zusprechen, so als hätte man uns diese dumme Geschichte von einem anderen früher einmal erzählt. Wenn wir konsequenterweise alles Erlebte an eine Dritte Person delegieren, bleiben wir doch der Autor der ganzen Story und stehen als solcher auf dem imaginären Titelblatt.

Auch wenn unser Reden und Handeln stets auf der Schwelle der Gegenwart zur unmittelbaren oder ferneren Zukunft hin geschieht und orientiert ist, schöpfen wir aus dem Reservoir der Erinnerung all diejenigen Erzählstoffe, Motive und Figuren, mit denen wir die gegenwärtige Aussage grundieren. Wir können uns im Detail beim Rückgriff auf das Gewesene irren, wenn wir etwas erlebt zu haben wähnen, was ein anderer uns erzählt hat oder was wir im Kino gesehen oder gar geträumt haben, aber nicht im Ganzen, denn würden wir uns im Ganzen irren, wären wir nicht, der wir sind. Wir selbst sind demnach eine Origo oder ein transzendentaler Ursprung unseres Lebens und Erzählens singulärer Natur. Nur ist dieser Ursprung nicht vollständig präsent und transparent, sondern bleibt immer gleichsam wie der blinde Fleck im Verhältnis zu all demjenigen verschoben und abgeschattet, was wir tatsächlich sehen und erleben.

Mit Descartes könnten wir anhand der Metapher des bösen Schöpfergottes das Phantasma eines chimärischen Doppelgängers entwickeln, der als ein von uns unentdeckter Nachbar genauso aussieht wie wir und dasselbe Leben geführt haben wird wie wir selbst. Aber was macht das aus? Es mindert nicht im geringsten die Wirklichkeit unseres Daseins, und würden wir auf unseren Doppelgänger stoßen, wir hätten uns nichts zu sagen. Ja, wirklich, von außen betrachtet, ist unser Leben belanglos, sinnlos, unwirklich wie ein flüchtiger Traum; aber es gelingt uns nicht, diese Außenperspektive aufzunehmen und durchzuhalten.

Wir müssen darauf achten, vor lauter Metaphern und Bildern den alten Wald ursprünglicher Begriffe nicht aus dem Blick zu verlieren. So hat sich auf das subjektive Leben oder die Vita ein ganzes Bündel von Bildern gepfropft; wir reden vom Weg oder Pfad oder der Reise des Lebens, von mancherlei Kreuzungspunkten und Abzweigungen, von Irrwegen und Rückwegen. Doch sind solche topographischen Metaphern, die eine räumliche Erstreckung und Signifikanz von Wegbahnen voraussetzen, nur um den Preis begrifflicher Einbußen auf wesentlich zeitliche Erstreckungen und temporale Vektoren anwendbar. Unser Weg entsteht gleichsam zeitlich in dem Maße, wie wir ihn gehen; das scheinbar erlangte Ziel wird augenblicks ein gewesener und damit verlorener Inhalt, den wir nur in der Erinnerung bruchstückhaft wiedererlangen können. Leicht wird das mühsam Angestrebte schal im Moment des Genusses. Diese Form der existentiellen Vanitas ist der Preis für unsere sich aus dem Ursprung des Bewußtseins zeitigende Existenz, die nur als offene oder ins Leere gespannte gelebt werden kann, als erfüllte aber gleichsam erschlafft und in sich verschlossen uns unwirklich würde.

Die Endgültigkeit, Singularität und Sterblichkeit unseres subjektiven Lebens beschatten es mit Ernst, dem Gegenbild jenes leicht lebenden Spiels göttlicher Fülle, die zu keiner Entscheidung, keiner echten Tat, keinem geprüften und verantworteten Wort gelangt. Wir aber können nicht als Schauspieler im Spiel des Lebens sagen: „Morgen komme ich und bringe dir das geliehene Buch zurück“ und dabei nicht meinen, was wir sagen, denn in unserer Welt hat die soziale Tatsache, ein Versprechen nicht eingehalten zu haben, seiner Relevanz entsprechend mehr oder weniger ernsthafte Folgen, von der Mißachtung bis zur sozialen Ausgrenzung.

Die Fatalität, egozentrisch oder ein subjektives Leben leben zu müssen, ist die paradoxe Bedingung unserer Freiheit und Kreativität, denn nur die Subjektive erlaubt uns, Altes neu zu sagen oder eine bisher als unabweislich geglaubte Erzählperspektive abzutragen und versuchsweise durch eine andere zu ersetzen. Wir wähnten uns angeherrscht von einer höheren oder fremden oder sublimen Stimme und stellen schließlich fest, es war nur das Piepsen einer Maus auf dem Dachboden, und mit einem Schlage ist es still geworden, denn die Falle, die wir aufgestellt hatten, ist zugeschnappt.

Die literarhistorische Analyse der auf uns gekommenen Viten beispielsweise des Sueton listet eine Fülle typischer Muster und Topoi auf, und nur auf diesem Hintergrund verwandter Muster und Analogien von Lebensläufen konnte Plutarch das Projekt parallelisierter Biographien großer Griechen und Römer entwerfen. Doch das Typische mindert nicht das Individuelle, sondern ist die Voraussetzung aller Individualisierung, schließlich tun wir täglich, was unzählige andere tun und getan haben. Doch daß wir es hier und jetzt unvertretbar gleichsam mit dem Idiolekt und Zungenschlag des flüchtigen Bewußtseins sagen und tun, gibt ihm den unnachahmlichen, wenn auch ephemeren Geschmack des subjektiven Lebens.

Das Wort „Leben“ gehört mit all seinen Ableitungen und deren Negationen wie „lebendig“, „lebhaft“, „lebensfroh“. „lebensmüde“ („tot“, „träge“ oder „ausdruckslos“, „traurig“, „verzagt“) mit ziemlich vielen Begriffen der Alltagssprache und demnach auch der Philosophie (denn woher nähme sie die Relevanz ihrer Begriffe wenn nicht von hier) zu denjenigen, deren wir nicht entraten können, ohne an Orientierung und Optionen zu handeln einzubüßen.

Anders als der Begriff des Sinnes, dessen Negation zwei weitere Begriffe ergibt („Unsinn“ und „Sinnlosigkeit“), und ähnlich wie „wahr“ und „falsch“ in der klassischen Logik hat der Begriff „Leben“ einen absoluten Gegensatz, den Begriff „Tod“. Den abgestürzten oder von einem Virus befallenen PC kann ich wieder ertüchtigen, den Toten aber nicht reanimieren, es sei denn er war nur scheintot.

Wenn wir zwischen Bios und persönlicher Vita unterscheiden, interessiert uns philosophisch gesehen der subjektive Sinn des Lebens, der sich auf elementarer Stufe als Selbstgefühl auf einer Skala ausdrückt, die wir am einen Ende als Wohlgefühl, am anderen als Mißgefühl (mit der faden Mitte zwischen beiden) ungefähr bezeichnen können. Diese Skala können wir beliebig verfeinern, indem wir beispielsweise bei der Abteilung „Wohlgefühl“ eintragen: Heiterkeit, Zufriedenheit, Behagen, Glück, bei der Abteilung „Mißgefühl“: Traurigkeit, Unzufriedenheit, Mißmut, Verzagtheit (auch die Mitte wimmelt von Klassifikationen: Fadheit, Langeweile, Gleichgültigkeit, Blasiertheit).

Ursprünglich sind emotionaler Zustand und sein physiognomischer Ausdruck eine Einheit: Einer ist zufrieden und lächelt; einer lächelt, weil er zufrieden ist; einer ist mißmutig und zieht einen Schmollmund, einer schmollt, weil er mißmutig ist. Die Schauspielkunst großer Mimen zeigt, daß wir das eine vom anderen trennen können: Der Schauspieler mag sich persönlich unbehaglich fühlen, aber er lächelt, weil er den glücklichen Liebhaber gibt.

Wir finden eine Nachbarschaft und einen Übergang von emotionalen, ungerichteten Zuständen zu intentional gerichteten Zuständen: Wir sehen, wie jemand die Augenbrauen zusammenzieht und einen Schmollmund zieht; dann sehen wir, wie er wütend einen Brief zerreißt. Wir wissen, dem Mann wurde unbehaglich, denn der Inhalt des Briefes ging ihm gegen den Strich; indem er ihn zerreißt, verweist er auf den wahren Gegenstand seines Unmuts, den Briefschreiber und dessen im Briefe dargetanes Anliegen.

Wir stellen nun fest, daß wir die eigentlichen psychologischen Prädikate mit intentionalem Gehalt wie hoffen und fürchten, erwarten, beabsichtigen, glauben und wissen nicht unmittelbar dem subjektiven Leben zuschreiben, sondern demjenigen subjektiven Leben, das sich in jenen Formen des Selbstgefühls tummelt und ausdrückt. Wir finden hier kontinuierliche, kausal bedeutsame Übergänge. Wenn uns unbehaglich ist, fürchten wir, daß ein Unglück geschieht, wie auch umgekehrt, weil wir fürchten, daß ein Unglück geschieht, fühlen wir uns unbehaglich. Wir sind freudig gestimmt, weil wir hoffen, daß unser Geliebter bald kommt, und weil wir wissen, daß unser Geliebter bald kommt, sind wir freudig gestimmt.

Eine wesentliche Form des erzählten Lebens ergibt sich aus der sinnvollen Kombination der Zuschreibung emotionaler und intentionaler Zustände, im Falle der Autobiographie in Form der Selbstzuschreibung, im Falle der Biographie in Form der Fremdzuschreibung. So kommen wir zu typischen Wendungen wie: „Das Schreiben meines (seines) Freundes hatte mich (ihn) dermaßen aufgebracht, daß ich (er) den Brief zerriß.“

Es ist erhellend zu bemerken, daß dieser kleine Wutanfall eine symbolische oder metaphorische Form des Handelns darstellt (womit wir einen Hinweis darauf erhalten, daß Metaphern nicht auf rein sprachliche Ausdrucksformen beschränkt sind): Der haltlos Wütende erinnert ein wenig an das Kind, das den Tisch tritt, an dem es sich gestoßen hat, eine urtümliche Form dessen, was man einmal Animismus genannt hat. Indem er den Brief zerreißt, rächt sich der Aufgebrachte an seinem Freund in effigie, zumindest möchte er mit seiner Handlung symbolisch das Freundschaftsband, das ihn bislang mit ihm verband, zerreißen.

Es ist wahrscheinlich, daß sich der Mann, der aufgrund des beleidigenden oder verräterischen Schreibens seines Freundes in Rage geriet, seinen Freund vielleicht geohrfeigt hätte, hätte dieser es gewagt, ihm seine Frechheiten und Unverschämtheiten ins Gesicht zu schleudern. Den Schaden, den er selbst als Verrat und Beleidigung abbekam, hätte er auf diese Weise gleichsam zurückgegeben, und beide wären einander quitt.

Wir finden an diesem Beispiel das Muster gespiegelt, in dem sich der Regelkreis des Redens und Tuns des subjektiven Lebens abspielt und erfüllt: Ein emotional grundierter Zustand mit intentionalem Gegenstand, wie der emotionale Zustand des Geschädigten und seine Absicht, den Schaden an seinem Urheber wettzumachen, erfüllt sich in Form von symbolischen Handlungen wie dem Zerreißen des Briefes oder in verbalen Handlungen wie Fluchen und Beschimpfen oder in Tätlichkeiten, mit dem Ergebnis, daß ein Ausgangsgleichgewicht wiederhergestellt ist: Der Zorn ist verraucht, die Freundschaft zerbrochen.

Aus Schaden wird man klug – wenn man an dem unaufgearbeiteten nicht krank oder verrückt wird. Das Kind, das sich einmal an der heißen Herdplatte die Finger verbrannt hat, wird sich hüten, sie nochmals unbedacht darüber fahren zu lassen. Der verratene Freund und betrogene Geliebte wird vernünftiges Mißtrauen walten lassen oder sich Proben wahrer Verbundenheit und Verbindlichkeit ausbedingen, bevor er wieder einer Neigung intimer Natur nachgibt. Der am ungetilgten Schaden Erkrankte aber wird vielleicht mißtrauisch bis zur Verschlossenheit und Feindseligkeit.

Das gilt spiegelbildlich auch für den anderen Pol des subjektiv-emotionalen Selbstseins: Der Mann, der ein Schreiben seines Freundes erhält, worin dieser ihm großherzig seine Anteilnahme in einem Trauerfall oder seine vorbehaltlose Mitarbeit an einem gemeinsamen Projekt kundtut, wird ihn demnächst zu einem kleinen Fest einladen, um ihm mit Kuchen, Wein und schöner Musik seine Dankbarkeit zu bezeigen. Es werden Lobeshymnen gesungen, Geschenke ausgetauscht, das Freundschaftsband bestärkt.

Was uns fördert, animiert, begeistert, erweitert unseren Lebenskreis, weckt die Lebensgeister, festigt die seelische Gesundheit. Ausgezeichnete sittliche und ingeniöse Eigenschaften wie Dankbarkeit, Großherzigkeit und schöpferische Kraft kommen auf diese Weise ans Licht und zur Entfaltung.

Der Streit oder Zwist und die Feier oder das Fest sind urtümliche Ausdruckswerte des subjektiven Lebens, die dazu tendieren, in rituelle Formen gekleidet und ins kulturelle Gedächtnis der Familie, der Sippe, des Volkes eingesenkt zu werden. Invektiven, Flüche, Pamphlete oder Fehden und Intrigen sind ebenso legitime Formen subjektiven Lebens wie all das, was auf der anderen Seite die Festfreude aufleuchten läßt, wie Lieder, Tänze, Lobreden. Hier darf auch die sprachliche Virtuosität zur Geltung kommen, wie sie poetisches Ingenium zu rituellen Anlässen und Zwecken in geprägte Formen des Jambus, des Hymnus, der Ode oder der Laudatio gegossen hat.

Wir kommen zu dem paradox anmutenden Ergebnis, daß sich die persönliche Vita in der Einübung, Einbettung und Versenkung in unpersönliche Formen des Rituals und tradierte kulturelle Muster wie Feier und Fest, Lust- und Weihespiel, liturgischem und theatralischem Formen- und Maskenspiel erfüllt, wie sie kulturelle Überlieferung für die rites de passage von Geburt, Pubertät, Reife, Hochzeit, Jubiläum und Trauerfall bereithält.

Wenn sie solche denn bereithält! Wie öde und trist sind all die Viten, die unaufgehellt und unsublimiert in einer kulturellen Wüste ihr Dasein fristen; daher die Ausdrucksarmut, emotionale und sprachliche Verkümmerung, daher das Verstummen oder Radebrechen des sich unter den Lampenschirm des Privaten oder den PC-Screen des Globalen flüchtenden Daseins.

 

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