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Einsame Pfade

10.10.2020

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Eine Ordnung, in die wir umstandslos passen, können wir nicht ausmachen.

Wer beobachtet und sich dabei beobachtet fühlt, hat seine Haltung und Position schon unwillkürlich verändert.

Wer das Ziel des Weges auf der Karte markiert, hat vergessen, daß seine Ankunft seine Auslöschung impliziert.

Es zeugt von naiver Folklore, nicht von philosophischer Tiefe, vom Dichter zu verlangen, er solle reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.

Das zu Sagende und das Sprachorgan stehen nicht in prästabilierter Harmonie zueinander.

Die Perle, die in der Muschel wächst, hat nicht ihre Struktur und Konsistenz.

Der Sinn des Gesagten ist nicht wie der Happen, den man sich in den Mund steckt. – Aber auch nicht wie der organische Nährwert, der nach dem Vorgang der Verdauung dem Blut zugeführt wird.

Der Sinn des neu Gesagten kann das bisher Gesagte wie die Sonne den Dunst über dem Wasser auflösen.

Die an der Wissenschaft, der Regel und der Methode orientierten Philosophen glauben, der Dichter befinde sich nicht im selben Raum, sondern irgendwo auf einer fernen Insel. Doch sie irren, der Dichter ist mitten unter ihnen, doch was er sagt, können sie nicht fassen, es mutet sie wie das Geräusch des Regens an, der gegen die Scheiben klopft.

Denken ist nicht Rechnen. Denn der Schluß folgt wohl einer Regel, die man algorithmisieren kann, aber keiner universalen Regel.

Jede Regel beruht auf Voraussetzungen, die wie die Wurzeln der Pflanze ins Verborgene hinabreichen.

Es ist gut gesagt, wenn man vom Weg spricht, den das Denken sich bahnt. Doch der Weg ist kein objektives Datum, wie der auf der topologischen Karte eingezeichnete, und er hat kein Ziel, wie das im Ferienkatalog bunt und verlockend illustrierte.

Das Bewußtsein oder der Geist ist nicht wie der Atemhauch, der dem scheinbar toten Käfer Leben einhaucht, so daß er sich wieder zu regen und zu krabbeln beginnt.

Buchstaben, Wörter, Sätze sind nicht wie scheintote Käfer, denen der Atem des Denkens Leben oder Bedeutung einhaucht.

Der Weg der Zeichen oder der Sprache folgt keinem cartesischen Koordinatensystem, das man ohne Sprache konstruieren könnte.

Die Ufer des Stroms der Sprache lassen sich nicht befestigen oder begradigen.

Wir stehen noch im hohen Schilf und hören das Rauschen der Schatten, während auf der Mitte des Stroms die Wogen im Sonnenlicht erglänzen.

„Gegenstand“, „Ding“, „Welt“, „Leben“, „Mensch“, „Sprache“ und „Denken“, „Geist“ und Bewußtsein“, „Staat“ und „Recht“ – all diese Begriffe stehen noch im Schatten des reinen Lichts der Metaphysik, der sie zu einer verkümmerten Gestalt heranwachsen ließ.

„Denken ist Rechnen“ oder „Denken heißt einer Regel folgen“ oder „Sprechen ist der Ausdruck des Gedankens“ – alle Sätze dieser Art sind unsinnig; sie können sich selbst nicht rechtfertigen.

Die Projektion des Weges, den wir jüngst gegangen sind, auf die fernere Vergangenheit mißlingt; geschweige denn, daß wir uns approximativ dem Ausgangspunkt und Ursprung annähern könnten.

Wir sagen, diese Linie entspringt im Null-Punkt des Koordinatenkreuzes; aber durch Anwendung projektiver Methoden können wir diesen Punkt beliebig verschieben.

All die überkommenen Bilder für das, was wir Bewußtsein oder egologische Präsenz nennen, der platonische Steuermann, der aristotelische noetische Zähler der Augenblicke, der unausgedehnte Jetzt-Punkt des Descartes, der Signalgeber und Rechner der modernen Maschinensysteme sind unzulänglich und schief. – Wir sind nicht diejenigen, die das Leben, die Zeit, das Geschehen steuern, beobachten, zählen und berechnen, auch wenn wir dies immer häufiger oder ausschließlicher zu tun scheinen.

In jedem Augenblick ist alles enthalten. So gibt es eigentlich keinen Grund der Hoffnung oder der Verzweiflung.

Der Nachhall, das Echo, die Resonanz des Augenblicks werden immer schwächer und dünner; die Kreise im Wasser um die Stelle, wo der Stein einschlug, werden immer weiter und flacher. So auch unsere Erinnerungen; wir täuschen uns über ihre Frische und ihren betörenden Glanz, denn dieser ist ein Reflex unserer momentanen Erregung, unserer gegenwärtigen Tränen.

Heidegger geht den Weg vom Antipsychologismus der Logik Husserls über die Öffnung der Sinnbezüge zwischen Dasein und Welt in „Sein und Zeit“ bis zum Antihumanismus der mithilfe der Dichtung freigelegten Lichtung des Seins; Wittgenstein den Weg vom Logizismus Freges und Russels über die Ebene der Alltagssprache bis zum Ufer des nicht einzuhegenden Stroms der Sprache.

Wittgenstein geht aus vom Satz und wendet sich der Erkundung einander nicht isomorpher Satzsysteme zu; Heidegger kommt von der Aussage und biegt von der Heerstraße des akademischen Diskurses ab in die unbetretene Graslandschaft der Sage.

Wer im entscheidenden Moment zu stottern anfängt, hat etwas zu sagen.

Prophet oder Philologe, Denker oder Professor.

Wir können die vom Zentrum der Galaxie ausgehenden Gravitationswellen eines Schwarzen Lochs messen, wir können die Geschäftsführer des Weltgeistes oder die Administratoren des sozialen Gefüges durch Roboter ersetzen – doch vertieft dies weder unsere Weisheit noch unser Glück.

Der Melancholiker oder der Schizophrene, dem man einen Chip ins Gehirn einpflanzt, wird um die Wahrheit seiner Trauer, die Wahrheit seiner Verwirrung betrogen.

Aufständische gegen das Leben, Toren, die vor seinem Schatten, vor ihrem eigenen Schatten, davonlaufen.

Zu leben oder tot zu sein, dies ist kein relativer, sondern ein absoluter Unterschied. Deshalb ist es unsinnig, davon zu reden, wie es wäre oder ob es besser wäre, nicht geboren zu sein.

Was die Wissenschaft treibt, welche epistemische und ontologische Stellung sie im Gefüge unseres Daseins einnimmt, kann keine wissenschaftliche Theorie ermessen.

Große Worte, ausgespuckt wie abgenagte Kerne.

Ranken zarter Verse, die noch leise von einem großen Sturme zittern.

Feuchter Odem der Erde nach dem plötzlichen Sommerregen, die Tropfen, die an den Halmen blitzen wie an den bebenden Stengeln der Verse glänzende Reime, die schon ins Schweigen niederrinnen.

Einsame Pfade, wenn wir erschrocken feststellen müssen, daß wir den Liebsten den Stein nicht von der Brust wälzen können, denn er ist eine Emanation ihres Schicksals.

Die Bitterkeit der Verluste zu verwinden und am Unglück zu reifen kann keine ethische Forderung darstellen; die Kratzer und Makel des Unglücks mit grellen Lappen à la mode zu verhüllen darf keine moralische Mißbilligung auf sich ziehen.

Eine Melodie, die uns ein Stück des Weges trägt, der Duft eines Verses, der uns für Augenblicke die Augen schließen läßt, das ist viel, das ist schon alles.

 

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