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Bruchstücke einer Poetik des lyrischen Gedichts

13.06.2019

Ein Wort gibt das andere

Beginnt ein Gedicht mit der Helle des Tages, erwarten wir schon den wachsenden Schatten, fühlen wir voraus in die Nacht, ob der Übergang weich ist wie mit dem zunehmenden Schweigen der Dämmerung oder abrupt wie ein Sturz in einen Brunnenschacht.

Der Wechsel zwischen Licht und Schatten, Tag und Nacht ist rhythmisch, und der Rhythmus mit den Schwellenphänomenen der Dämmerung von Morgen und Abend ist harmonisch gedämpft.

Der Wechsel und Umschlag könnte aber auch weniger rhythmisch und harmonisch ausfallen, so wenn der Dichter uns die Helle als schwankenden Kreis zeigt, der rings vom Dunkel umgeben ist. Das weiße Rund des Tages ruht wie ein helles, schimmerndes Ei im Nest der Nacht.

Anstelle der linearen Abfolge finden wir die schwindelerregende Totalsicht und das unheimliche Totalgefühl angesichts eines Umgreifenden und Umfassenden, das sich dem Begreifen entzieht.

Beginnt ein Gedicht mit einem weichen und verschwimmenden Eindruck wie dem von Wasser, erwarten wir den Gang und Widerschwang der Welle und ihres Verebbens auf der glatten Fläche der Stille oder wir fühlen voraus bis zur zitternden Linie des Ufers, an dem das Gras, der Ruf eines Vogels oder das Glucksen des Schlamms einen vagen Übergang in die Ebene unter dunkel herabhängenden Wolken oder dem Schleier des Regens ins Aussicht stellen.

Das Gedicht taucht in das Medium eines Elements wie des Feuchten und seines diffusen und kaum fassbaren Lebens, und es verbleibt bis hin zu den Wolken und dem Regen in dieser einen wässrigen und ins sich verrinnenden Atmosphäre.

Anstelle der linearen Abfolge eines rhythmischen Wechsels wie von Licht und Dunkel, Tag und Nacht oder des Umgreifenden wie der mythischen Nacht treffen wir in solchen Gebilden auf ein atmosphärisches Schweben in der Expansion und Kontraktion eines einheitlichen, wenn auch vielfarbig schillernden Mediums.

Natürlich könnte das Gedicht auch rhythmisch weiterwandern und sich vom Wasser über das Ufer aufs Trockene retten, das Glucksen und Lallen und Lispeln des Wassers wie eine Nixenhaut abstreifen, um ins Rascheln der Echse, ins Knirschen von Kiesel, ins Knacken von Hölzern und ins Klatschen von Händen bis zum Singen von Flammen im abendlichen Feuer von Vagabunden überzugehen.

Was dem ersten Wort des ersten Verses folgt, ist naturgemäß ein Wort, indes eines nur, das ihm folgen KANN. Der Anschluß oder die Kopplung ist beispielsweise beim Nomen grammatisch determiniert durch sein Genus, seinen Numerus und seinen Kasus. Der Rest ist der wogende Grasteppich der Bedeutung oder Metaphorik, der sich nach einer kurzen Weile wie von selber zu weben und mit Blüten zu mustern scheint.

Wasser kann wohl fließen, schäumen, verdampfen, kann wohl rauschen, flüstern, seufzen, aber nur in Anfängern oder Nichteingeweihten zunächst verschlossenen Höllenkreisen brennen und schreien.

Betrachten wir Verse wie Wäscheleinen unterschiedlicher Länge, auf denen weiße oder schmutzige, bunte oder graue Wäschestücke verschiedener Sorte aufgereiht sind; einige werden vom Wind bewegt oder seltsam, grotesk und obszön gebläht; andere fallen plötzlich herunter, wieder andere werden von der Luft weggetragen, als suchten sie in der Ferne, im Land der Fabel ihren wahren, zärtlicheren, schöneren Träger.

Aber auch die Leine kann reißen, der Vers stocken oder in sich zusammensinken; das mag geschehen, weil er ein Stück zu tragen hatte, das über seine Spannkraft und Reißfestigkeit ging; eine Metapher, zu fett, zu schwerfällig, ein Vergleichswort, zu scharf, zu beißend, zu ätzend, sodaß der fein angesponnene Faden nicht mehr hält und an der empfindlichsten Stelle reißt.

Wir können Verse auch wie dünnere oder dickere Leinen und Fäden ansehen, die nach und nach, Zeile für Zeile, Strophe für Strophe ein Muster ergeben; da erkennen wir nun starre und regelmäßige Muster, die sich am gleichlautenden Versausgang festzurren, aber auch unregelmäßige, als spönne und flechte sie ein mal kürzerer, mal längerer Atem. Und ein unregelmäßiges Muster kann immer wieder durch ein regelmäßiges, wie den Refrain, abgelöst werden.

Die Wäscheleine ist an zwei Wänden, zwischen denen sie ausgespannt ist, befestigt. Doch was hält, könnte man fragen, den Vers? Nichts, wie es scheint; er ist eine Leine, die im Freien schwebt, in der blauen Luft, und sich selber hält. Verse stehen auf einem weißen Blatt Papier; aber sie haben keine pragmatischen Randbedingungen, die sie tragen, indem sie uns Vorschriften lieferten, wie und wann, von wem und bei welcher Gelegenheit sie zu lesen oder zu rezitieren seien. – Manche freilich, alte, im geselligen oder kultischen Gebrauch erklingende, haben welche: Sie stehen in Liedersammlungen, liturgischen oder Meßbüchern.

Das nächste Wort nach dem ersten Wort muß irgendwie passen; betrachten wir also die zugrundeliegende, Syntax und Semantik umgreifende Paßform oder die Form, die den Paß vom ersten zum zweiten Wort bildet, als grammatische Fuge. Den Weg auf die Paßhöhe oder ins Fugeninnere bilden wie gesehen die grammatischen (syntaktisch-semantischen) Eigenschaften des Eingangswortes: Wortart, Genus, Numerus, Kasus, Klangbild (Tonhöhe, Tondauer, Klangfarbe), Sinngehalt (Wortfeld). All diese Eigenschaften strahlen wie ein auratischer Hof auf die Leerstellen aus, deren Füllungsmöglichkeiten durch sie systematisch, aber nicht deterministisch eingeschränkt werden.

Es ist wie mit der Kunst des Blumensteckens und dem Arrangement von Obstsorten bei einem Stilleben: Ich beginne vielleicht mit einem unscheinbaren Veilchen, doch greife ich dann gleich hochsinnig oder hochtrabend nach einer Orchidee, erhebt es Einspruch und empfiehlt mir die ihm vertrautere Pfingstrose, die schon, müde wie es selbst, überquillt und Blütenblätter verliert; auch duldet es das Zittern und leise Klingen der Glockenblume, verschmäht aber den hohen Hymnus der langstieligen, sonnengelben Rose; gern lege ich Wange an Wange Quitte und Zitrone, Apfel und Pfirsich, aber die Melone, nein sie paßt gar nicht in das zierliche Gefäß aus bemaltem Porzellan oder Fayence. – Wer blutrünstig gesinnt ist, mag eine weiche Erdbeere hinzutun und sie der Gefahr aussetzen, zerquetscht zu werden; aber Gedichte, aus deren Fugen das Blut zerquetschter, unschuldig hineingeratener Früchte oder allzu weicher, allzu süßer Worte quillt, sind nicht jedermanns Geschmack.

Statt zu sagen oder zu postulieren, das Gedicht oder poetische Gebilde gleiche einem Mikrokosmos, der den Makrokosmos (was immer wir darunter verstehen) widerspiegele, sagen wir lieber, das Gedicht gleiche einem imaginären Mikroorganismus, also einem Pseudo-Lebewesen, das keinem schon vorhandenen und bekannten gleicht, wenn es auch diesem oder jenem Organismus in dieser und jener Hinsicht ähnelt, zum Bespiel, wenn eines schluchzt oder gluckst, eines sich räuspert oder gähnt und wieder eines plötzlich wie ein Tausendfüßler kleine Beinchen bekommt und davonläuft.

Wir wissen, daß Organismen mindestens eine Schnittstelle oder Öffnung zur Umwelt haben müssen, mit der sie Energie und Nachrichten austauschen, wenn sie überleben können sollen; was ist nun die Schnittstelle und Öffnung, die das Überleben des Gedichts garantiert? Nun, vielleicht der Leser, der ihm sein Auge leiht und es mit Sinn füttert.

Geht es, das Gedicht, zieht es seine Muster, seine Furchen, doch in welchem Acker, welchem Feld; da ist nur Luft und Hauch. Und eher scheinen Verse Luftspiegelungen, die kaum erschaut, zerrinnen, als bleibende Spuren im Erdreich.

Muster, Rhythmen, Ranken und Schleifen aus artikulierter Luft sind geordnete Reihen, Gliederungen, Artikulationen, kurz harmonische Fügungen oder Ordnungen, auch wenn sie mit mehr oder weniger großen Spannungen und Paradoxien aufgeladen sein mögen.

Eine Ordnung verstehen heißt, sie aus dem diffusen Grund oder Horizont der Unordnung abheben oder hervorgehen sehen, wie wir aufgrund von Luftzufuhr Blasen auf dem Wasser oder aufgrund von Temperaturwechsel Wolken sich bilden sehen.

Was repräsentiert im Falle des Gedichts den diffusen Grund oder Horizont der Unordnung? Das leere Blatt, der reine Schnee des Nichts, auf dem es wie Fußabdrücke und Spuren erscheint.

Ein einsamer Strich auf dem weißen Blatt, ein einziger Fußabdruck im Schnee sagen nichts; wird der Strich von einem zweiten geschnitten, sehen wir einen Kreuzungspunkt, eine Figur, einen Topos oder Ort; erst wenn sich mehrere Tritte im Schnee abzeichnen, können wir einer Spur, einem Verlauf, einer Richtung folgen.

Die Wolken am Himmel ziehen dahin und lösen sich auf; die Spuren im Schnee werden vom Wind verweht und von Neuschnee verdeckt. Dann formieren sich Wolken eines anderen Typs, waren es vorher Cumuli, sind es jetzt Cirri, waren es vorher Spuren des Wilds, sind es jetzt Tritte von Menschen.

Wir unterscheiden Cumulus und Cumulunimbus; Epigramm und Elegie.

Der Schreiber setzt nach dem Wort „Flammen“ statt des intendierten Wortes „sengen“ das Wort „singen“, nach dem Wort „Wasser“ statt des intendierten Wortes „münden“ das Wort „zünden“ – und übernimmt den Fehler, die Fehlhandlung oder den „Verschreiber“ als Variante und neuen „Einfall“; aus der Irregularität oder Devianz, der Störung oder Mutation entspringt eine neue Art der dichterischen Metaphorik. Die Störung wird zum Katalysator einer gesteigerten Harmonie, die Unordnung bahnt den Weg zu einer höheren poetischen Ordnung.

Die Irritation oder Störung wird integriert und führt zu einem Gleichgewicht auf höherem Aussageniveau. Denn in einer dichterischen Welt, wo Flammen singen und Wasser zünden können, findet sich ein reicheres Spektrum an Aussage- und Ausdrucksvarietäten, als in einer Welt, wo die Wasser alsbald münden und die Flammen Hitze nur und Qualen offenbaren.

Der allgemeine Unterschied, der das Gedicht als Form des Sagens markiert, ist der Unterschied von Sprechen und Schweigen; der spezifische Unterschied liegt in der Differenz von poetischer Sprache und Alltagssprache oder natürlicher Sprache, in die auch größere Teile der poetischen Tradition eingegangen sind. Die Quelle der Einfälle wie der betrachteten Fehlgriffe und Irritationen liegt in der Alltagssprache; die spezifische Spannung, die das Gedicht bearbeitet oder durchfurcht („versi-fiziert“), ist der Unterschied von Sprechen und Schweigen oder von Schriftzeichen und leerem Blatt.

Einen dramatischen oder dialektischen Ausdruck der Spannung zwischen Sprechen und Schweigen finden wir in sogenannten poetologischen Gedichten oder Gedichten, die sich selbst beobachten und ihr eigenes Dasein, seine Bedeutung und Ausstrahlungskraft, zur Sprache bringen. Gedichte dieser Art balancieren gleichsam am abschüssigen Rand zwischen dem, was (in ihren Grenzen) noch sagbar, und dem, was nicht mehr sagbar ist. Sie führen oft zu paradoxen Begriffen und Aussagen, machen sie doch fühlbar, daß die Grenze, die sie zum Ausdruck und Austrag bringen, eine innere Grenze darstellt, die nicht aufhebbar ist, sondern gleichsam mit jedem weiteren Vers mitläuft.

Das poetologische Gedicht lebt von den Irritationen und Störungen, die es sich im Zuge der Selbstbeobachtung gleichsam selber zufügt, ohne dadurch geschwächt oder verworren zu werden, sondern die seine innere Spannung aufs äußerste verdichten und erhöhen; in Fällen, in denen es gelingt, den Balanceakt zwischen den äußersten Grenzen des Sagens und Schweigens im Medium der Selbstbetrachtung zu meistern, sehen wir bisweilen den höchsten Grad an Verdichtung und Komplexität zu einer Höchstform dichterischer Ausdrucksordnung gesteigert, wie in vielen Gedichten Hölderlins.

Ein Gedicht, das nur aus der Aneinanderreihung von Irritationen oder „Verschreibern“ im erwähnten Sinne bestünde, wäre unverständlich aus Mangel an innerer Fügung und Harmonisierung („Komplexitätsreduktion“); ein Gedicht, das nur aus einer Anhäufung von geläufigen Assoziationsmustern bestünde, wäre aus Mangel an syntaktischen und semantischen Irritationen und Bedeutungssprüngen monoton, fade und langweilig.

Der späte Hölderlin konnte auf ihm vorgegebenen Themen wie „Frühling“ oder „Winter“ frei improvisieren, wobei er keine Hilfsmittel wie Entwurf, Konzept, Wörterbücher oder Sachlexika zur Hilfe nahm; ihm stand demnach nur sein Gedächtnis zur Verfügung und eine Methode der Variation und Transformation des genannten Themas anhand der schon eingeübten oder erprobten Muster zumeist jambisch gebauter, vier- oder fünfhebiger, kreuz- und paarweise gereimter Verse in meist vierzeiligen Strophen mit erlaubtem Enjambement und meist weiblichem Reimausgang. Man konnte also antizipieren, was für ein oder welche Art von Gedicht seine Improvisation über ein gegebenes Thema ergeben würde, doch nicht, daß gerade DIESES Gedicht dabei entstehen würde. Und er selbst konnte es ebensowenig antizipieren. Denn das Ergebnis war außerdem eine Funktion der zufälligen Randbedingungen seiner Entstehung: der jeweiligen Stimmung des Dichters, der visuellen Wahrnehmung beim Blick aus dem Fenster oder der ihn zufällig überkommenden Erinnerungen bei seiner Verfertigung. Die hier greifbare Methode oder das hier angewandte dichterische Umwandlungsverfahren ist ein nüchterner Begriff für das, was man gerne poetisches Genie genannt hat.

Wir können das dichterische Transformationsverfahren anhand eines einfachen Modells der malerischen Auswahl, Zusammenstellung, Verteilung und Mischung von Farben in der freien oder nicht an ein gegenständliches Vorbild gebundenen Malerei erläutern: Je mehr Farben zur Auswahl stehen, umso größer und mannigfaltiger sind die Möglichkeiten ihrer Disposition und Vermischung, ja sie gehen nach unendlich. Selbst wenn wir nur Grautöne zulassen, ist der Fächer der Variationen sehr breit. Die Einschränkung der Möglichkeiten der Farbbehandlung liegt demnach auf einer anderen Ebene oder gehorcht einer anderen Transformationsregel als derjenigen der Farbe: Hier finden wir eine Weise der Regulierung im Rhythmus, der unmittelbar über die Führung der Hand und des Pinsels übertragen werden kann. Auch der Rhythmus hat eine Breite der Variation, aber sie geht nicht wie die Farbbehandlung ins Grenzenlose; denn ein schwerer, harter, monotoner Rhythmus kann mit einem leichten, weichen, polyphonen wechseln; aber diese Rhythmen können sich nicht mischen. Dasselbe gilt für die Tonalität oder Erzeugung von Stimmungen durch die Verteilung von Licht und Schatten, das sogenannte Clair obscure oder Chiaroscuro, wenn es als Ausdrucksmittel zugelassen ist: Dort wo Licht ist, kann kein Schatten sein, et vice versa.

Diese Formen der Bestimmung und Entscheidung in einem transformationellen Auswahlverfahren finden wir auch in den späten Gedichten Hölderlins: Was im Modell der Farbbehandlung die Auswahl und Verteilung der Farben, der Rhythmus ihrer Zusammenstellung sowie die stimmungsgebundene Erzeugung von Chiaoroscuro-Effekten, ist im Gedicht Hölderlins die Verteilung von Tonwerten und Klangfarben mittels Tonähnlichkeiten, Alliterationen und Assonanzen, der syntaktische Rhythmus in der Disposition und Struktur der Sätze und Satzglieder (wie Nomen und ihre Kasus, Verben und ihre Tempora) und die stimmungsgebundene Gestaltung von atmosphärischen Effekten mittels Verwendung meist naturbezogener Bilder und Metaphern. Im Falle Hölderlins haben wir meist den Eindruck des Vollkommenen und Vollendeten, das heißt das Ergebnis der nach den Kriterien der zulässigen Transformationen vollständig ausgeschöpften Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks.

Ein anderes einfaches Modell zur Erläuterung des dichterischen Transformationsverfahrens ist das phonologische Modell, das uns beispielsweise die Bildung und klangliche Wirkung der Vokale und ihrer mehr oder weniger harmonischen Zusammenstellung vor Augen führt: Wir unterscheiden hellere und dunklere Klangwerte wie bei den Vokalen E und U: Wenn wir sie in Wortreihen beliebig mischen, entsteht kein sinnfälliger Ausdruckswert auf der phonologischen Ebene; dagegen haben wir gewisse stimmungsgebundene Eindrücke der Erhebung, Aufhellung und Transparenz oder des Herabsinkens, Dunkelns und der Opazität, wenn wir sie entsprechend häufen. Herausgehobene Klangeffekte erzeugt ein rhythmisch weicher oder harter Wechsel von Wörtern mit entsprechenden Klangfarben.

Im dichterischen Verfahren des Reims finden wir eine gewisse Zuspitzung der Auslese des Möglichen, weil Erlaubten oder gerade noch Geduldeten: „dunkeln/funkeln“: ja; „wissen/küssen“: geduldet; „hassen/Hasen“: nein.

Manche Gedichte oder Versreihen sind vom Reim her konstruiert oder integriert: „dunkeln/funkeln“ – hier gilt es in den tragenden Versen den Übergang aus der Dunkelheit zum Licht zu vollziehen, was mit der sentimentalen Metaphorik des aufgehenden Sternlichts nach ihrer Abnutzung in der romantischen Poesie keinen großen Ausdrucks- und Kunstwert mehr abwirft.

Ein einfaches syntaktische Modell für das dichterische Verfahren ist das logisch-mathematische der Funktion in der Form: y = F (x). Der Funktionsausdruck F transformiert oder verwandelt den eingesetzten Wert für die Variable x in das Argument y; wäre F die Vorschrift „Potenziere den eingesetzten Wert“ ergäbe die Gleichung für 3 das Argument 9. Wäre F die Vorschrift „Wähle den reinen Reim“, ergäbe der Einsatz der Variablen „dunkeln, küssen, hassen, funkeln, Hasen, wissen“ das Argument „dunkeln/funkeln“.

Weil das logische Modell rein syntaktisch ist, stößt es naturgemäß auf seine Grenzen, wenn das dichterische Verfahren sich semantischer Transformationen bedient: Die Vorschrift „Wähle die zu einem metaphorischen Zusammenhang passenden Wörter“ kann unter den Variablen „Wolken, Schatten, Regen, Gedicht“ oder „Schneefeld, Spuren, Wind, Gedicht“ nicht formal eingelöst und entschieden werden. Insbesondere kann die semantische Schwelle selbstbezüglicher oder selbstreferentieller Begriffe und Aussagen mittels formaler Funktionen nicht überschritten werden; in den genannten Beispielen für Variablen stellt der selbstreferentielle Begriff „Gedicht“, wenn er in einem Gedicht metaphorisch integriert werden soll, eine solche mittels formaler Funktionen unüberschreitbare semantische Schwelle dar.

Ein komplexes Modell für das poetologische oder selbstbezügliche Gedicht ist die scheinbar einfache soziale Situation des Gesprächs, bei dem die beiden Partner ihre jeweiligen Reaktionen durch gegenseitigen Augenkontakt und durch reflexive Bezugnahme auf ihre jeweiligen Äußerungen – die eigenen und die des anderen – gleichsam gewichten, austarieren und steuern. Die Gesamtheit oder das Integral der beidseitigen Augenkontakte und reflexiven verbalen Bezugnahmen ist dabei die sich selbst regulierende und steuernde Instanz, nicht der jeweils einzelne Gesprächsteilnehmer. Das dialogische Gespräch ist gleichsam auf einer höheren Ebene ein Selbstgespräch, wie auch das poetologische Gedicht auf einer höheren oder selbstreferentiellen Meta-Ebene ein Selbstgespräch darstellt.

Betrachten wir den Extremfall, bei dem einer der Gesprächsteilnehmer den Blicken des anderen ausweicht, starr auf den Boden oder an die Wand stiert und in Schweigen verfällt: Der andere kann diesem Schweigen schlicht ausweichen und mehr oder weniger verlegen oder kühn das Thema wechseln, wenn er das Schweigen als peinlich empfindet, oder er kann das Schweigen des anderen auf möglichst einfühlsame Weise zur Sprache bringen, in der Hoffnung, es auf diese Weise aufzulösen. Das Gedicht kann durch eine selbstreferentielle Schleife an die Grenze des Sagbaren stoßen und gleichsam in ein aporetisches Schweigen versinken; der Dichter kann dies als Hemmung und peinliche Notlage empfinden und ihm durch Wechsel in ein harmloses Themen- und Motivfeld ausweichen. Er kann aber auch das Schweigen selbst zur Sprache bringen und als notwendiges Supplement des poetischen Sprechens aufzeigen. Metaphorisch gelingt ihm dies vielleicht durch den Übergang vom Bild des leeren Schneefelds und der sich darin abzeichnenden Tritte zu dem gleichsam metapoetisch gerahmten Bild der Auslöschung der Spuren, die durch den Wind verweht oder durch plötzlich einsetzendes Tauwetter ausgelöscht werden.

Ein anderer daran anschließender Extremfall ist das Auftauchen einer Paradoxie, wenn der Versuch, das Schweigen des Partners aufzulösen, indem man es zur Sprache bringt, seine Verstärkung zur Folge hat. Dies führt im ungünstigen Fall zum Abbruch des Gesprächs und im katastrophalen Fall zur Aufgabe der Partnerschaft oder Freundschaft. Im Gedicht, das die Grenze des Sagbaren erreicht und zu artikulieren unternimmt, kann das Auftauchen der Paradoxie, der klassischen Lügner-Paradoxie nicht unähnlich, dazu führen, alles bisher Gesagte zurückzunehmen und durchzustreichen; als sagte sich der in die Aporie geratene Dichter: „Die Spuren im Schnee sind meine eigenen Spuren, und der Wind, der sie verweht, ist mein eigener Atem.“

Das poetologische oder selbstbezügliche Gedicht ist gleichsam das Ergebnis fortgesetzter Häutungen der Gedichtform, wenn man unter den Häuten die zweckgebundenen Gestalten poetischen Ausdrucks wie das Geburtstags-, Trauer-, Festtags- oder Preisgedicht versteht. Das selbstbezügliche Gedicht streift mit diesen Häuten auch alle sie ausfüllenden Formen wie die odische, elegische oder hymnische Form ab und versucht sich mit Fragmenten dieser alt gewordenen und gleichsam vertrockneten Gestalten neu zu konstruieren.

Heidegger nennt am Ende des Tages oder seines Denkweges das, was es gibt, Geviert; dies ist keine feste Struktur eines Wesensbegriffs oder einer Ontologie, sondern das allgemeine Gefüge der Sprache, des Sagbaren und Unsagbaren, oder das in sich verweilende Ereignis einer Unterscheidung von Erde und Himmel, der Göttlichen und Sterblichen, Unterscheidung, die sich mit sich selber kreuzt. Wir finden sie in der Selbstabbildung des poetologischen Gedichts; so artikuliert sich das Ereignis in den späten Gedichte Hölderlins in der Differenz von Höhe und Tiefe, Fülle und Leere, Glanz und Dunkel, Ferne und Nähe, Sommer und Winter, Natur und Jahreszeiten. Jedes Wort gibt sich sein Gegenwort, jeder Klang sein Echo, jede Nähe ihre Ferne. Das „Es gibt“ enthüllt sich im „Es gibt sich“, und alles, was sich zeigt und sagt, hat sich in dem, was es verschweigt und nicht umhin kann zu verschwiegen, zugleich entzogen und verhüllt.

Was ist verhüllt oder verbirgt sich? Das Reflexivpronomen „sich“, wenn wir wie gewöhnlich und unmittelbar von dem ausgehen oder das aussagen, was es gibt. Nehmen wir als erste willkürliche Setzung eines Gedichts „Wasser“, sind nicht nur all seine Gegen- und Nebenbegriffe wie „Erde“ oder „Ufer“ oder „Himmel“ (der Himmel der Regenwolken) und „Quelle“ virtuell mitgesagt, sondern auch die unsichtbare Mitte, aus der heraus sich zu sehen oder zu sagen gibt, was sich zeigt und was gesagt werden kann.

Was sich verhüllt und zugleich offenbart, ist der Sinn der Zeit in dem, was sich ereignet und erscheint. Das Gedicht hat die externe Zeit, die es braucht, um es zu lesen, und die interne oder Eigenzeit oder imaginäre Zeit, die es mittels semantischer und grammatischer Darbietungsformen (Bildern, Metaphern, Verbformen, deiktischer Verweise) organisiert. Die Eigenzeit kann wie im japanischen Haiku scheinbar kürzer sein als die externe Zeit; meist aber ist sie scheinbar länger, so wenn in Hölderlins hymnischen Gedichten der Übergang von der mythischen Zeit zur Gegenwart und utopischen Zukunft der Wiederkehr der Götter oder in den Turmgedichten der Übergang vom Winter zum Frühling oder vom Sommer zum Winter gestaltet wird.

Der Selbstbezug der Zeiterfahrung des Gedichts verbirgt sich im Augenblick der Gegenwart, dieweil es auf die Stimmen der Vergangenheit lauschend und auf die Vollendung des Sagens am Abend der Zeit hoffend sich als die Imago der Seele projiziert, die wie ein Schatten mit dem steigenden und sinkenden Licht um den tief wurzelnden Stamm des Schweigens kreist.

 

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