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Ein unerhörtes Ereignis

18.02.2016

Über den begrifflichen Unterschied von Natur und Geschichte

In einem fernen Winkel des Universums verschmelzen zwei seit Jahrmilliarden umeinander kreisende schwarze Löcher von insgesamt etwa 65 Sonnenmassen und senden dabei Gravitationswellen aus, die spezifische Überlagerungen bei der Ausbreitung von rechtwinklig zueinander reflektierten Lichtwellen der Laser in zwei 3.000 Kilometer voneinander entfernten Interferometern bei Washington und Louisiana, USA, in der Dimension von Zehntausendsteln des Protonendurchschnitts bewirken. Die daraus ermittelten Daten bestätigen die Hypothese Einsteins von der Existenz von Gravitationswellen und der durch sie verursachten minimalen Krümmung der Raum-Zeit sowie ihre Berechenbarkeit durch Feldgleichungen. Die Hypothese der Existenz von Gravitationswellen läßt sich aus der Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins von 1915 ableiten, ihre Bestätigung ist damit auch eine Bestätigung dieser Theorie.

Anders als die Messung von Röntgenstrahlung, die Materie aussendet, wenn sie von schwarzen Löchern verschluckt wird, ist die Messung durch die Detektoren des LIGO in den USA (Laser Interferometer Gravitation Wave Observatory) und ihre rechnerische Verifikation durch die Forscher des Albert-Einstein-Zentrums in Hannover ein direkter Nachweis sowohl der Existenz von schwarzen Löchern im Universum als auch der Existenz von Gravitationswellen.

Gravitationswellen sind sehr schwache Signale und können nur mittels hochsensibler Detektoren gefunden und ausgewertet werden. Die Datenanalyse folgt dabei statistischen Algorithmen, nach denen die Aussagen über die gemachten astronomischen Beobachtungen einen Wahrscheinlichkeitsgrad erhalten, der im Falle der LIGO-Detektion sehr hoch liegt.

Unterschritte der Grad der Wahrscheinlichkeit den Mittelwert, könnte ein Störsignal oder die Tatsache eines Rauschens, das heißt der Störung der Messung durch Selbstirritation des Mediums, nicht ausgeschlossen werden. In den Vorgängerdetektoren zu den LIGO-Interferometern, großen Aluminiumzylindern, die 1.000 Kilometer voneinander entfernt installiert waren, war dies regelmäßig der Fall.

Wir bemerken, daß astronomische Beobachtungen dieser Art zwar nicht ohne Ableitungsfunktionen einer anderweitig schon bewährten Theorie wie der Allgemeinen Relativitätstheorie möglich sind und nicht ohne Anwendung unabhängiger Theorien wie der Wahrscheinlichkeitstheorie auswertbar und interpretierbar sind. Aber andererseits sind sie autonom genug, um Ereignisse zu detektieren, die wiederum die angewandte Theorie, hier die Einsteins von der Existenz von schwarzen Löchern und der von ihnen ausgestrahlten Gravitationswellen, verifizieren können.

Bei der Auswertung der physikalischen Beobachtung spielt die Voraussage möglicher Ereignisse eine methodisch präzise Rolle. So werden die unübersichtlichen Datenmengen eingehender Signale permanent mit Datenmustern typischer Ereignisabläufe abgeglichen, wie sie der Theorie gemäß bei der Erzeugung von Gravitationswellen durch den Urknall, einen explodierenden Neutronenstern oder eben die Kollision von schwarzen Löchern anzunehmen sind. Erst bei der eindeutigen Zuordnung eines Datenmusters durch unabhängig voneinander agierende Forschergruppen wird der Beobachtung ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit zugewiesen, die sie als Detektion eines Ereignisses qualifiziert.

Wir bemerken darüber hinaus, daß wir über wissenschaftliche Verfahren verfügen, die uns in die Lage versetzen, „echte“ und „glaubwürdige“ Beobachtungen über tatsächlich stattfindende Ereignisse von Scheinbeobachtungen zu unterscheiden, die auf Meßfehler durch Störsignale oder internes Rauschen zurückgehen.

Im Übrigen lag zwischen dem ersten Auftauchen des typischen Signalmusters auf einem Bildschirm im Albert-Einstein-Institut in Hannover und der endgültigen Auswertung der Daten und ihrer Veröffentlichung als Bestätigung dieses unerhörten astronomischen Ereignisses ein halbes Jahr mühsamer Arbeit der Analyse.

Ein Beleg für die Genauigkeit der Beobachtung und ihrer Auswertung besteht in der Anwendung der Einsteinschen Gleichung, nach der die von den großen Massen der kollidierenden kompakten Reststerne abgestrahlte Energie in Form von Gravitation drei Sonnenmassen umfaßte, was den Gesamtwert aller astralen Energieausstrahlung im Universum übersteigt.

Philosophisch bemerkenswert ist die Tatsache, daß wir den Begriff der Beobachtung aufgrund des ersten Nachweises von Gravitationswellen erweitern müssen. Bislang war der Begriff mehr oder weniger eng an unsere alltägliche Erfahrung angeschlossen, bei der wir auf der Basis visueller und akustischer Wahrnehmung das Vorliegen eines Gegenstandes oder eines Ereignisses konstatieren. So geschieht es, wenn wir feststellen, daß es hell wird und der Tag anbricht. Auch die Theorie, die von der Ausbreitung von Lichtwellen oder Lichtteilchen spricht, findet noch den Anschluß an den Weltumgang unserer Erfahrung, wenn wir auch den theoretisch postulierten Entitäten von Photonen und Lichtwellen nur anhand ihrer Wirkungen auf unser visuelles System Sinn verleihen können.

Das ist bei Gravitationswellen insofern anders, als sie sich grundlegend von Teilchen und elektromagnetischen Wellen unterscheiden: Hier verläßt uns der hermeneutische Sinnhorizont unseres Alltagsbegriffs „Beobachtung“, denn minimale Krümmungen der Raum-Zeit durch kosmische Ereignisse sind unseren Sinnen verschlossen und nur höchst artifiziell mittels komplexer Algorithmen auf dem Bildschirm modellierbar.

Wir können Gravitationswellen nicht in einem Sinne sehen und beobachten, mit dem wir unsere Aussagen über Gegenstände und Ereignisse im Umfeld der Erfahrung oder über den Verlauf von elektromagnetischen Wellen in einem Oszillator erfüllen.

Das unerhörte Ereignis fordert uns aber auf, erneut über das Verhältnis wissenschaftlicher Begriffe und Theorien und der auf die Bewältigung unserer Lebensprobleme eingeschworenen Alltagssprache nachzudenken. Versuchen wir dies skizzenhaft anhand eines Vergleichs zwischen einem physikalischen Ereignis der genannten Art, bei dem unsere Erfahrung und unsere natürliche Sprache an ihre Grenzen stoßen, und einem historischen Ereignis in unserer Lebenswelt, die hinreichend vom Erfassungsvermögen der Alltagssprache abgedeckt zu sein scheint.

Das unerhörte Ereignis der Verschmelzung zweier schwarzer Löcher in einer 1,3 Milliarden Lichtjahre von der unseren entfernten Galaxie ist einmalig in mehrfacher Hinsicht. Es geschieht nur in einem bestimmten Ausschnitt des Kosmos, die Gravitationsfelder bewegen sich dynamisch in unterschiedlichen Feldstärken und werden nur so lange abgestrahlt, bis die schwarzen Löcher vollkommen verschmolzen sind, dann bricht ihre Frequenz in der Größenordnung von Sekundenbruchteilen ab.

Wir bemerken, daß alle Ereignisse, über die uns die Astronomie informiert, die Signatur der Einmaligkeit und Singularität tragen. Sowohl die antike Sternbeobachtung als auch die vorrelativistische Kosmologie eines Kepler und Newton standen unter dem bannenden Eindruck der scheinbar ewigen Wiederholung des Gleichen, wie sie vor allem die Umlaufbahnen der Sonnentrabanten zeigen. Aber diese schöne Täuschung zerrann, nachdem uns die Astronomie von der Entstehung, dem Werden und Vergehen von Sternen und Galaxien und des gesamten Universums zu berichten wußte.

Nunmehr wissen wir, daß jede Bewegung und Rotation eines Massepunktes wenn auch noch so minimale Wirkungen in der Fluktuation der Raum-Zeit zur Folge hat, und wir gehen davon aus, daß diese Fluktuationen niemals wie ein Ei dem anderen gleichen.

Es galt als intuitiv ausgemacht, daß man den wesentlichen Unterschied zwischen der Welt der Physik und der Welt der Geschichte anhand des Kriteriums der Einmaligkeit und Singularität der historischen Ereignisse definieren und plausibel machen könne. Auch diese schöne Täuschung scheint sich erübrigt zu haben, wenn physikalische Ereignisse nicht weniger einzigartig und einmalig sind als historische.

Wie müssen wir demnach den Unterschied fassen? Er liegt unserer Intuition scheinbar auf der Hand, aber ist nicht leicht zu greifen.

Wir sagen: Geschichtliche Ereignisse sind Ereignisse, die von der normativen Kraft menschlicher Sprechakte hervorgerufen werden. Physikalische Ereignisse sind in erster Linie Ereignisse, die wir zwar mittels sprachlicher und anderer Verfahren der Registrierung, Aufzeichnung und Darstellung erfassen, aber nicht mittels sprachlicher Akte unmittelbar hervorrufen können – abgesehen von den physikalischen Bewegungen unserer Sprachorgane und neuronalen Systeme, die unmittelbar mit dem Sprechvorgang verbunden sind.

Was wir mittels Sprechakten in der physischen Welt an Veränderungen bewirken konnten und können, ist enorm, aber stets vermittelt über Prozesse der sprachlichen Verständigung und Interpretation. So wirst du deinen Kopf umwenden, wenn ich dich beim Namen rufe, doch nur dann, wenn du deinen Namen verstanden und meinen Zuruf als Aufforderung interpretiert hast, dich nach mir umzusehen.

Hier eine Auswahlliste von verbalen Sprechakten, deren normative Kraft neben vielen schriftlichen Aufzeichnungen und Urkunden sowie rituellen, oft mit einer Formel verknüpften Handlungen für das Entstehen historischer Handlungen und Ereignisse maßgeblich ist:

„Ich taufe dich auf den Namen Peter!“
„Hiermit seid ihr Mann und Frau!“
„Hiermit ernenne ich Sie zum Kanzler (Minister, General …)!“
„Simon und Jakobus, laßt die Netze fallen und folget mir nach!“
„Du bist Simon Petrus, der Fels, und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen!“
„Hiermit kröne ich dich zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches!“
„Ich gelobe dem König ewige Treue, Gefolgschaft und Dienst!“
„Hiermit erkläre ich unserem geschworenen Erbfeind, dem König von Burgund, den Krieg!“
„Wir wollen unseren Freundschaftsbund durch diesen heiligen Eid weihen!“

Wie aus der durchgehenden Verwendung des Ausrufezeichens ersichtlich, handelt es sich bei diesen historisch wirksamen Sprechakten, die selbst ausgezeichnete historische Ereignisse darstellen und ihrerseits meist zahllose weitere Ereignisse zur Folge haben oder hervorrufen können, um Sprechakte mit Aufforderungscharakter.

Wir finden folgende Kategorien von Sprechakten mit normativer Kraft:

Einsetzungen
Aufforderungen
Ernennungen
Weihungen
Befehle
Gelöbnisse und Eide
Verpflichtungen
Verbindlichkeiten
Deklarationen

Diese und viele andere Sprechakte entfalten ihre normative Kraft, wenn sie von der zu dem entsprechenden Amt oder der entsprechenden Funktion berufenen Person zu den Personen gesprochen werden, die für die genannten Ämter oder Aufgaben geeignet sind und ihren Willen und ihr Einverständnis bekundet haben, sie auszuüben und zu erfüllen. Wir sagen auch kurz, Sprechakte mit normativer Kraft sind stets kontextsensitiv.

Sprechakte mit normativer Kraft sind mit historisch wirksamen Handlungen verknüpft. Auch hierzu eine kleine Auswahlliste:

Stiftungen (einer Kirche, eines Bistums oder einer Reichsteils, eines Erbes oder eines Lehens, einer karitativen Organisation)
Einsetzungen (einer Funktion, eines Amts, einer Würde)
Gründungen (einer Stadt, einer Diözese, eines Ordens, eines Vereins, einer Firma)
Weihungen (eines Priesters, eines Bischofs, eines Königs, des Kaisers, eines Denkmals)
Deklarationen (eines Krieges, der Eröffnung einer Versammlung, der Inkraftsetzung und Kündigung eines Vertrages)

Ein Verrückter, der sich für Napoleon hält und auf einem öffentlichen Platz die Deklaration des Krieges gegen Russland herausschreit, wird bestenfalls ignoriert, belächelt und bespöttelt, schlimmstenfalls in die Klinik verbracht. Nur der kann wirksam einen Krieg deklarieren, der über die amtliche Autorität und soziale Macht verfügt, die ihn allererst zu diesem Akt legitimieren. Die Kriegserklärung wird wirksam nur, wenn ein Heer mobilisiert werden kann. Das Heer oder das Militär ist aber diejenige soziale Einrichtung, in der Befehle wie die Kriegserklärung ihre Erfüllungsbedingungen finden.

Es ist zu beachten, daß soziale Einrichtungen, wie die Ehe, die Schule, das Unternehmen, der Verein, die Armee, der Staat, nicht nur die Erfüllungsbedingungen für die in ihnen relevanten Sprechakte darbieten, sondern jeweils aufgrund eines initiatorischen oder fundierenden Sprechaktes der Gründung, Einsetzung oder Stiftung allererst ins Leben gerufen worden sind. Denn ein Mensch mit entsprechendem Ansehen und großer Autorität muß als erster den Befehl gegeben haben, sich zu bewaffnen und ein Heer zu bilden, ein angesehener Vorsteher der Gemeinde muß als erster ein Kind getauft und benannt oder einen Ehebund gestiftet, ein Mensch mit charismatischer Autorität muß als erster im Namen einer Gruppe oder eines Gruppenverbands ein Territorium als eigenstaatliche Körperschaft in Anspruch genommen haben.

Wir beachten ebenso, daß sich die normative Kraft von Sprechakten auch auf die Verteilung von Erwartungen und Ansprüchen, Rechten und Pflichten innerhalb der jeweiligen sozialen Einrichtung erstreckt. Der in die Schule als Erstklässler aufgenommene Pimpf hat das Recht auf Unterricht und unterstützende Maßnahmen durch die Lehrerschaft, aber auch die Pflicht, die Schule zu besuchen, dem Unterricht zu folgen und seine Hausaufgaben zu machen. Ebenso verpflichten sich die Eheleute zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung, der militärische Befehlshaber ist gehalten, seine Untergebenen zu versorgen, aber er darf ihnen auch den gebührenden Respekt und Gehorsam bei der Ausführung seiner Anweisungen und Befehle abverlangen.

Greifen wir aus der Fülle des historischen Materials ein Ereignis mit hoher Relevanz heraus, weil es von der Stunde seines unmittelbaren Wirksamwerdens bis zum Jahre 1918 und darüber hinaus bis zum heutigen Tage den kulturellen Inhalt dessen bestimmt, was wir Europa nennen: die Kaiserkrönung Karls des Großen am ersten Weihnachtstag des Jahres 800 im Petersdom zu Rom durch Papst Leo III. Die Kaiservita Einhards, des Ratgebers und Sekretärs Karls des Großen, überliefert das Geschehen. Wir können davon ausgehen, daß die Krönung mit einem angemessenen Sprechakt aus dem Munde des Papstes verbunden war, überliefert sind die Rituale der Salbung, die den messianischen Aspekt des Kaisertitels in der Nachfolge des davidischen Königtums Israels herausstreicht, das Ritual der feierlichen Krönungslitanei sowie der Applaus durch die anwesende Elite der Stadt.

Mit der Kaiserkrönung Karls war die Translatio Imperii verbunden, das heißt der neue Anspruch des fränkisch-germanischen Herrschers auf die Nachfolge und Beerbung der römischen Kaiser von Augustus an. Damit war der germanische König und Kaiser nicht nur christlich geworden, sondern das Christentum, das er verkörperte und auszugestalten suchte, absorbierte die reiche Bildungstradition der Antike, was sich bald in der Bautätigkeit und in der Bildungs- und Kirchenreform Karls, aber auch im Aufstieg des Lateinischen zur Sprache der europäischen Eliten offenbaren sollte. Die hier erfolgte schöpferische Verbindung von Thron und Altar drückte einer ganzen Epoche, der europäischen, ihren Stempel und ihre Signatur auf. Noch die heutigen Fragen um die eigentlichen Grenzen Europas sind ohne den hermeneutischen Horizont all der verbalen, schriftlichen und rituellen Sprechakte, die das kulturelle Gesicht des alten Europas im Zuge einer mehrschichtigen und langwirkenden Kontinuität von Traditionen und Neuprägungen formten, nicht zu formulieren und zu beantworten.

Es ist also nicht der Charakter der Einmaligkeit und Einzigartigkeit, der die historischen Ereignisse von natürlichen Ereignissen unterscheidet. Es ist vielmehr die Tatsache, daß historische Ereignisse im Gegensatz zu natürlichen Ereignissen Wirkungen und Folgen spezifischer Sprechakte sind, die selbst zu den ausgezeichneten Ereignissen in der geschichtlichen Welt gehören, Sprechakte mit der normativen Kraft, ganze Reihen weiterer Ereignisse physischer oder mentaler Natur ins Leben zu rufen, die wiederum in den tieferen geschichtlichen Ereignisraum ausstrahlen.

Das Ereignis der Kaiserkrönung Karls des Großen war die Folge der Entscheidung des Papstes, die Kirche unter den Schutz des mächtigen fränkischen Herrschers zu stellen und die weltliche Macht der römischen Kurie zu verpflichten. Wenn wir nach dem Grund dieses herausragenden historischen Ereignisses fragen, finden wir ihn im Motiv Leos III., die Kirche gegen die Anfechtungen der weltlichen Mächte Italiens zu sichern, und in seiner Intention, die Institution Kirche mittels des kirchlichen Anspruchs der Investitur und Weihe der höchsten weltlichen Macht auf Dauer zu stellen. Freilich war durch diese Entscheidung auch der tiefe Konflikt zwischen Kaiser und Papst angelegt, der sich bis in den Investiturstreit und die Kämpfe um die Emanzipation von der Autorität des Papstes im Zuge der deutschen Reformation in die europäische Geschichte eingegraben hat. Die Herausbildung der säkularen Position der Regierungsmächte und die Durchsetzung eines säkularen nationalen Rechts gehören letztlich zu den Fliehkräften des Ereignisses des Jahres 800.

Wenn wir nach den Ursachen der Kollision der beiden schwarzen Löcher und der Ausstrahlung von Gravitationswellen fragen, können wir nicht auf Motive und Intentionen rekurrieren, sondern müssen von den kausal bedingten Prozessen der Sternentwicklung und der Struktur von Gravitationsfelder sprechen. Wir können nicht fragen, was geschehen wäre, wenn die Kollision stattgefunden hätte, ohne daß sich die Gravitation in ihrem Umfeld geändert haben würde, denn die Formel, die uns die Verschmelzung dieser gewaltigen Massen beschreibt, enthält zugleich den Energieanteil, der von ihnen in Form der Gravitation bei diesem Vorgang abgegeben wurde.

Dagegen ist die Frage, was geschehen wäre, wenn es am Weihnachtstage des Jahres 800 nicht zur Kaiserkrönung Karls durch den Papst gekommen wäre, durchaus sinnvoll. Und wir können unsere historische Phantasie bemühen, um Geschichten zu erfinden, die modellartige Alternativen zu der Geschichte Europas darstellen, wie sie wirklich abgelaufen ist. Hätte der Kaiser, ohne der Kirche als christlicher Herrscher in diesem Maße verbunden zu sein, die Sachsen und Friesen durch Zwang christianisiert? Wäre sein Motiv, die islamischen Invasoren in der Südflanke des Reiches abzuwehren, schwächer gewesen? Hätte er mit all der Konsequenz das Bildungsregime des Reiches dem gelehrten Mönchtum unterstellt? Wäre es am Ende nicht zur Reformation gekommen, wenn sich die nationalen Entwicklungen der germanischen Völker von Anfang an ohne Rücksicht auf Rom hätten entfalten können?

Wir können im Gegensatz zur Formulierung und Begründung der Hypothese über die Entstehung von Gravitationsfeldern historische Ereignisse nicht mittels einer Gleichung auf ihre Folgewirkungen hin berechnen, Wirkungen, die sich unabhängig von lokalen Kontexten durchsetzen – denn die Eignung und die Einwilligung Karls in das damalige Geschehen gehören zu den historischen lokalen Kontexten, deren Kontingenz evident ist.

Das Geheimnis des historischen Geschehens liegt anders als das Geschehen in der Natur – wenn wir auf theologische Annahmen verzichten – in der Quelle des menschlichen Sagens und Tuns verborgen, dem menschlichen Willen. Dieser hat gewiß seine Anregungen und Kontexte im näheren und ferneren Umfeld der Erfahrung, kann aber aus diesem nicht restlos abgeleitet werden.

Der Wille ist mehr als die Resultante empirisch beschreibbarer Antriebe und Motive. Karl der Große hätte die Gunstbezeigung des Papstes auch zurückweisen, der Papst die Hoffnung Karls auf die höheren Weihen seines Herrscheramtes enttäuschen können.

Hätte Karl der Große von seiner Krönung durch den Papst geträumt und seinen Traum am nächsten Morgen seinem Sekretär Einhard erzählt, fehlte den einsetzenden und weihenden Worten des Papstes oder seinen rituellen Handlungen wie der messianischen Salbung, von denen Karls Traumerzählung handelte, jedwede normative Kraft. Das Gleiche gilt, wenn das Hoftheater zu Aachen Karl und seine Höflinge zu einem Theaterstück eingeladen hätte, in dessen Verlauf die Kaiserkrönung Karls in Rom durch Leo III. dramatisiert worden wäre.

Wir bemerken, daß wir durch methodische Verfahren der Modellbildung von typischen Mustern des Redens und Tuns, wie beispielsweise der typischen Sprechakte und rituellen Formeln bei der Taufe, der Eheschließung, der Amtsernennung oder der Kriegserklärung, unter Berücksichtigung der Erfüllungsbedingungen dieser Sprechakte in den zugehörigen sozialen Einrichtungen und Kontexten, und durch den Abgleich unserer Modelle und Muster mit den uns vorliegenden tatsächlichen Beobachtungsdaten zu dem Ergebnis kommen können, daß diese Beobachtung echt und glaubwürdig ist und das durch sie indizierte Ereignis volle Geltung und Wirksamkeit hat oder daß jene Beobachtung stark von unserem Datenmuster abweicht und insofern kein Indiz für die volle Geltung und Wirksamkeit eines Ereignisses sein kann. In dieser Hinsicht ähneln unsere historiographische Beobachtung und die Auswertung historischer Ereignisse durchaus den methodischen Verfahren, mit denen die Forscher aus der Fülle der Daten mittels Abgleich mit typischen Datenmustern gemäß den Feldgleichungen Einsteins eine Beobachtung als Indiz für das Vorkommen jenes unerhörten Ereignisses, der Ausbreitung von Gravitationswellen, ausgelesen und mit dem höchsten Wahrscheinlichkeitsgrad ausgezeichnet haben.

Ebenso wie bei der Auswertung physikalischer oder astronomischer Daten durch die Forscher am LIGO-Observatorium in den USA oder am Albert-Einstein-Institut in Hannover können uns bei der Auswertung historischer Daten Fehler und Fehldeutungen unterlaufen, die ebenfalls den beiden typischen Fehlerquellen entspringen: Störmeldungen und Rauschen. Unsere Primärquelle, die Vita Caroli Magni von Einhard, könnte fehlerhaft sein oder nachträglich gefälscht worden sein, demnach wird fraglich, ob nicht das Datum der Kaiserkrönung „geschönt“ und fälschlich auf den ersten Weihnachtstag verlegt worden ist. Wir verfahren hier nach den Methoden der historischen Quellenkritik und finden so in den Lorscher Annalen (Annales Laureshamenses) eine von Einhards Schrift unabhängige Quelle, die das historische Ereignis belegt und damit bestätigt. Eine Fehldeutung eines Ereignisses aufgrund der fehlerhaften Zuordnung zum relevanten Kontext des Sprechaktes oder aufgrund einer Zuordnung des Sprechaktes zu einem historisch nicht relevanten Kontext, wie dem Traum Karls des Großen oder der Dramatisierung der Krönungszeremonie durch das Hoftheater in Aachen, können wir Rauschen nennen und als unechte Quelle mittels Analyse der wirklichen Erfüllungsbedingungen des Sprechaktes identifizieren und ausschließen.

Die Fälschung einer Urkunde durch einen Schwindler können wir mit der Fehlerquelle einer Störmeldung, den Wahn des Psychotikers, Napoleon oder Kaiser Karl zu sein, mit der Fehlerquelle des Rauschens vergleichen.

Auch wir weben im kleinen Kontext unseres kleinen Lebens mittels unserer Sprechakte am großen Teppich der Geschichte mit, wann immer wir ihre normative Kraft der Aufforderung und Verpflichtung, der Einsetzung und Stiftung, des Gelöbnisses und der Deklaration zur Geltung und Entfaltung bringen, auch wenn wir die größeren Muster, die sich aus dem Zusammenwirken mit all den Sprechakten mit normativer Kraft unserer Mitmenschen nach und nach ausformen, nicht absehen und überschauen können.

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