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Ein Rest bleibt

05.06.2015

Am Anfang stehen Keilschrift- und Papyruslisten von Namen. Namen von Gütern, Waren, Waffen, Herrschern, Sklaven. Listen von Namen, die für Handel und Wandel der Menschen eine hohe Relevanz hatten. Namen von Orten und Städten, Namen von Herrschern, Völkern und Nationen, die an diesen Orten und Städten einen militärischen Sieg oder eine Niederlage davontrugen. Schließlich die Listen der Taten, deren sich ein Herrscher rühmte und die er in Stein meißeln und allerorten aufstellen ließ – der Anfang unserer Geschichtsschreibung. Genauso gut können wir Linien von den frühen Namenslisten zu den ausgefeilten und theoretisch untermauerten Systematiken der Wahrnehmung und Beschreibung von Pflanzen, Tieren oder Sternen ziehen, die sich in den Klassifikationen und Taxonomien der Pflanzen und Tiere eines Carl von Linné oder den modernen digitalisierten Sternenkarten darstellen.

Wir bemerken, dass Namenslisten aufgrund ihrer Referenz und Gliederung Repräsentationen oder Modelle der Realität darstellen. Die Namen von Orten bedeuten die Orte, die Namen von Herrschern die Herrscher, die Namen von Völkern die Völker. Die Gliederung anhand der vertikalen Reihung (oder der Links-rechts- oder Rechts-links-Ordnung) der Namen bedeutet die zeitliche Ordnung, die zum Beispiel mit der Geburt des Herrschers beginnt und mit seinem Tod endet. Bei mythologischen Listen kann ganz oben der Name des Ursprungs des Alls (das Chaos, die Leere) und in absteigender Linie die genealogisch auseinander hervorgehende Reihe der Götter stehen: Hier wird also nicht nur eine zeitliche Gliederung oder Chronologie erzählt, sondern wie in der Theogonie des Hesiod auch eine kausale Ordnung oder Wirkungsgeschichte angenommen.

Wir gehen davon aus, dass bereits die archaischen Namenslisten Modelle der Realität darstellen und somit Theorien sowohl über das implizieren, was es gibt, als auch über die Gesetze und Strukturen, aufgrund deren das, was es gibt, so und nicht anders gereiht, angeordnet und aufgebaut ist, wie es ist.

Wenn die Urgottheit dem Chaos oder der Leere in einem spontanen Akt (einem mythischen actus purus) entsteigt und sich in viele göttliche Potenzen differenziert, die durch Zeugung oder generative Prozesse wiederum andere göttliche Potenzen und endlich Pflanzen, Tiere und Menschen hervorbringen, gewinnen wir an der Liste der Namen oder Klassifikationen und Taxonomien die Referenzliste dessen, was es gibt, und anhand der Erzählung von den Zeugungen und schöpferischen Taten der Götter eine Angabe der kausalen Mechanismen oder Gesetze, gemäß deren das, was es gibt, so und nicht anders zeitlich und örtlich entstanden und geordnet ist. Wir stehen vor einem (dem Anspruch nach) scheinbar globalen Modell oder einer (dem Anspruch nach) scheinbar vollständigen Theorie der Realität in mythologischer Form.

Die sich explizit als methodisches Denken verstehende Philosophie, wie man es anhand der Fragmente der vorsokratischen Denker glaubt annehmen zu können, ist demnach nicht der Anfang des denkenden Tuns und Erwägens, denn wir finden schon in den ersten Schriftzeugnissen Dokumente, die ein Modellieren der Realität implizieren.

Wir können das mythische Modell formalisieren, indem wir eine Zuordnungsregel für die Bedeutung der Namen und ein Gesetz für ihre Aufeinanderfolge definieren, derart, dass die Träger bestimmter Namen von den Trägern vorausgehender Namen hervorgebracht oder erzeugt worden sind. Als Stellvertreter der Namen gebrauchen wir beliebige Buchstaben wie a, b, c, d usw., als Stellvertreter der Regel ein Relationsschema wie xR1–ny, in das wir die Stellvertreter der Namen in geordneter Reihe einsetzen: aR1b, bR2c, cR3d usw., wobei wir annehmen, dass die numerische Folge R1–n die Folge in der Zeit vertritt. Wir nennen das Einsetzen der Stellvertreter in das Regelschema die Interpretation des formalen Systems.

Wir bemerken, dass unsere Interpretation Regeln der Bedeutung und Gesetze der Abfolge verwendet, die im interpretierten Mythos weder formuliert sind noch sich mit den von ihm bereitgestellten formalen Mitteln formulieren lassen. Wenn der Mythos seinem Anspruch nach ein globales System der Erklärung aller Welterfahrung ist, zeigen wir damit die Grenze der Erklärungsmacht dieses Systems auf. Wir finden die Wahrnehmung dieser Grenze in geistreicher Form auch in der Frage formuliert, wer den ersten Erzeuger erzeugt habe oder worauf die Schildkröte ruhe, die den Elefanten trägt, der wiederum alle anderen Tiere und den ganzen Rest trägt.

Die Formalisierung und die begriffliche Explikation des mythologischen Systems erlauben uns auch zu sehen, inwiefern die Grenzen seiner Erklärungsmacht identisch sind mit den Grenzen seiner Verständlichkeit: Denn das, was inkonsistent ist, können wir nicht verstehen. Und die grundlegenden Annahmen des Mythos kranken an gewissen Inkonsistenzen, wie die Annahme, das göttliche Wesen könne in einer prinzipiellen Vielheit von Göttern gedacht werden, aber viele zu sein widerspricht einer notwendigen Eigenschaft des schöpferischen Gottes, nämlich allmächtig zu sein, sowie einer notwendigen Eigenschaft der göttlichen Weisheit, nämlich sich nicht selbst zu durchkreuzen. Oder die Annahme, es widerspreche nicht dem Begriff eines Gottes, unsterblich zu sein, aber doch geboren worden zu sein, oder als Unsterblicher geboren zu sein, sodann aber doch wie alle Sterblichen zu wachsen und zu reifen, indes wie Aphrodite auf immerdar ein süßes Mädel zu bleiben, dessen Wangen nicht einfallen, oder wie Zeus auf ewig den reifen Vollbart zu geben, der nimmermehr ergraut. Oder die Annahme, es widerspreche nicht dem Begriff eines Gottes, zu leben und schöpferisch Leben zu zeugen, doch andererseits auch töten zu können. Denn warum sollten wir in unser Relationsschema R nicht statt „erzeugt“ „tötet“ einsetzen, wie es die Theogonie des Hesiod in der Tat tut, man denke an Uranos und Kronos und andere mythische Greuel, und was sollte uns hindern, damit unbegrenzt die Reihe des Geschaffenen zu ihren Anfängen zurückzuverfolgen, bis wir vor der letzten Inkonsistenz anlangten, dass der erste mythische Erzeuger Hand an sich legen müsste? Die Inkonsistenzen des mythologischen Systems zu sehen ist im Rahmen dieses Systems nicht möglich. Wir freilich sehen sie, aber wir glauben auch nicht an die mythischen Götter. Haben es die Griechen getan, aus deren Reihen nicht allzu lange nach Hesiod die Philosophen Parmenides, Xenophanes, Anaxagoras, Platon und Aristoteles hervorgingen? Oder haben die gebildeten Griechen nicht (mehr) an die Götter geglaubt, sondern mit ihren Mythen gespielt, bis sie zur Metapher und Redewendung verblassten?

Wenn Theseus die verschlungenen Pfade des Labyrinths durchlaufen, den Minotaurus im Zentrum aufspüren und erlegen und den Hinweg als Rückweg benutzen will, braucht er den Faden der Ariadne. Doch dieser ist am Eingang des Labyrinths befestigt oder er wird von Ariadne außerhalb des Labyrinths gehalten.

Der Maler, der eine Landschaft in großer Detailfreude und Detailgenauigkeit malt, muss sich selbst, der doch im Moment des Malens sicher zur Landschaft gehört, aussparen. Er könnte sich in einem Spiegel oder einer spiegelnden Fläche porträtieren, doch malte er dann ein Bild im Bild, das seine reale Präsenz vertritt, aber nicht wirklich angibt (er steht ja vor dem Bild im Bild). Doch in welcher Ansicht sollte sich der Maler wiedergeben, wenn er sich selbst in sein Bild einbegreifen wollte? Sein Spiegelbild ist ja nur die halbe und verzerrte Wahrheit. Oder sollte er sich nicht eher in der Rückansicht und von hinten malen? Doch dann schaut er stellvertretend für den Betrachter des Bilds in die Landschaft und deutet damit zugleich die Möglichkeit an, sich herumzudrehen und den im Bild unsichtbaren Rest der Landschaft zu betrachten, den Rest, den das Bild bei allen Verstiegenheiten der konstruktivistischen Malerei nicht einzuholen oder in sich hineinzuholen vermag.

Nennen wir dies den logisch-semantischen Rest, der bei allen Abbildungen und Modellen der Realität notwendig wie ein blinder Fleck auftritt und auftreten muss. Wenn wir ihn kenntlich machen wollen, müssen wir aus dem Bild und dem Modell gleichsam heraustreten und ihn mittels eines Zeichens zweiter Stufe oder als Reflexionspunkt markieren. So markieren wir den Beobachtungsstandpunkt auf einer am Wegesrand aufgestellten topographischen Karte mit einem Pfeil, der den Standort des Beobachters und Kartenlesers markiert. Dieser Reflexionspunkt gehört aber nicht eigentlich zur Karte selbst, denn begeben wir uns einige Kilometer weiter und treffen wieder auf eine Wegekarte, hat sich der Punkt um die Strecke proportional verschoben, die wir soeben gewandert sind, während alles andere gleich geblieben ist.

Wenn also scheinbar philosophierende Physiker beanspruchen, mittels der vereinheitlichten Feldtheorie nicht nur eine physikalische Gesamttheorie zu entwerfen, die die Gesetze der Relativität und der Quantenphysik unter einen Hut bringt, sondern sich als globale philosophische Theorie über alle Weltphänomene aufwirft, unterliegen sie einem erkenntnistheoretischen Irrtum, insofern sie den logisch-semantischen Rest oder die Existenz der subjektiven Wirklichkeit, die ja ein Teil der Welt darstellt, unterschlagen.

Ist es nicht recht und billig, zu folgern und zu fordern, dass eine globale Theorie oder eine Theorie über alles sich selbst als ein Teil von allem enthalten müsse? Und schon sind wir logisch in der Sackgasse, oder der von uns verleugnete logisch-semantische Rest fällt uns als Stein der Antinomie auf den Kopf. Denn wäre sie nicht Teil ihrer selbst, wäre die globale Theorie um den Anspruch betrogen, global und vollständig zu sein. Indes müsste die um sich selbst vervollständigte globale Theorie wiederum Teil ihrer selbst sein und so weiter ohne Ende.

Wir müssen davon ausgehen, dass der Global- oder Totalanspruch von Theorien nicht nur in Bezug auf das Ganze der Welterfahrung zum Scheitern verurteilt ist, sondern auch in Bezug auf systemische Teilbereiche der Welterfahrung wie in Bezug auf die Gesellschaft als Ganze oder auf Teilbereiche der Gesellschaft wie die Wirtschaft, das Recht oder die Technik. Es scheint, dass wir immer wieder auf einen unauflösbaren Rest im jeweilig untersuchten Teilgebiet stoßen, denn die Gesellschaft als Ganze setzt sich aus ihren Teilbereichen zusammen und diese wiederum können nur bestehen, funktionieren und sich entwickeln, wenn das Zusammenwirken aller relevanten Teilbereiche vorausgesetzt wird. Wir geraten wieder in unsere logische Sackgasse.

Blicken wir auf das Subjekt, das wir als seiner bewusste, handelnde und sich entscheidende Einheit voraussetzen müssen, scheitert der Anspruch einer ganzheitlichen Theorie schon an der Tatsache, dass wir die subjektive Erfahrung, dass ich dies als roten Fleck erlebe, nicht vollständig in die objektive Analyse der Erfahrung, dass dieser Stoff diese bestimmten Lichtstrahlen reflektiert und diese bestimmten anderen absorbiert, integrieren können. Ebenso wenig können wir die objektive Analyse der Weltzusammenhänge so weit verfeinern, dass wir die Möglichkeit des Daseins ihnen korrespondierender subjektiver Erlebnisse erklären können. Wieso ich als derjenige existiere, der sich seiner Farberlebnisse bewusst ist und diesen Rotton anders als jenen empfindet, ja am Ende gar diesen Rotton jenem Blauton ästhetisch vorzieht, können wir bei aller Durchdringung unserer neuronalen Netze mittels bildgebender Verfahren und feinsten Begriffsbestecks nicht erklären. Denn auch hier fällt unser berüchtigter Rest aus dem Raster der Analyse heraus.

Der Rest entsteht, weil keine Theorie und kein Erfahrungskontext die Bedingungen ihrer Geltung ausdrücklich enthalten oder formal vollständig darstellen und begründen können. Wir ersehen dies praktisch auch an der Tatsache, dass wir in jeder gegebenen Theorie und in jedem vorliegenden Erfahrungszusammenhang Fragen formulieren können, die wir mit den Mitteln der gegebenen Theorie und im Medium des vorhandenen Erfahrungszusammenhangs nicht zu beantworten in der Lage sind.

Vergleichen wir die Sachlage mit einer Wanderung, die wir durch Feld und Flur und kleine Orte unternommen haben. Wohl sind wir am Ende des Tages, wie wir es uns vorgenommen hatten, am Zielort angelangt, doch unterwegs schien dir einmal jener Waldweg einladend für einen Abstecher, mir ein andermal jenes Wiesenstück für eine kurze Rast. Am Ende haben wir Abzweigungen unserer Route gewählt, die wir genommen haben, nicht weil ein höheres Wesen oder der eherne Gang des Weltgeschehens uns dazu nötigte, sondern weil uns danach war. Oder besser gesagt: weil wir als Subjekte nicht vollständig in den Erfahrungshorizont eingehen, wie ihn die Physik oder andere Gesetzeswissenschaften beschreiben. Oder noch anders gesagt: weil der Horizont unserer Erfahrung auf der von uns zurückgelegten Strecke sich beständig verschiebt.

Wenn du rückblickend die vielen Abzweigungen deiner Lebensreise überblicken könntest, wärst du sicher überrascht zu bemerken, auf welchen unzähligen unvorhersehbaren Umwegen und Abstechern du dahin gelangt bist, wo du jetzt bist: in dieser Wohnung und dieser Straße dieses Orts, verbunden mit diesen Freunden und jenen Bekannten. Natürlich kannst du dich fragen, ob du derselbe Mensch wärst, der du heute bist, wenn du damals diesen Abzweig und ein andermal jenen Abstecher genommen hättest, oder ob du aufgrund ganz anderer Erfahrungszusammenhänge nicht doch ein anderer Mensch geworden wärest?

Diese Frage lässt sich mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln nicht beantworten. Auch dieser Rest bleibt.

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