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Ehre, wem Ehre gebührt

29.08.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wie die Plus-Strecken und die Minus-Strecken sich vom Nullpunkt, so entfernen sich die Grade von Achtung und Verachtung, Wertschätzung und Missachtung vom Nullpunkt der Indifferenz.

Je höher wir etwas oder jemanden achten, desto mehr bedauern wir jenen, der blind ist für den Gegenstand unserer Verehrung.

Wir schätzen etwas nach dem Maßstab des Werts, den wir ihm zumessen. Der vulgäre Maßstab des Werts ist der Nutzen, der edle Maßstab die Vollkommenheit.

Wenn feindliche Truppen oder Invasoren die Grenze eines souveränen Staats überschreiten, kann dieser einen legitimen Gegenschlag ausführen oder Abwehrmaßnahmen ergreifen, ja, er ist sogar dazu verpflichtet.

Was wir auf Seiten des Staats Souveränität nennen, dem entspricht, könnte man sagen, auf Seiten des Einzelnen die Ehre oder die Integrität.

Quod licet Iovi non licet bovi. Wir messen Hinz und Kunz nicht den gleichen Rang zu wie dem Genie.

Die Verletzung der Ehre oder Integrität reicht von der Unhöflichkeit bis zur Beleidigung. Ihre Wiederherstellung oder Ahndung von der Entschuldigung bis zur Wiedergutmachung oder Satisfaktion.

Die Lumpen freilich haben kein Ehrgefühl und leben fröhlich in den Tag hinein.

Die paranoide Psychose ist eine Form der unbewältigten Verletzung der persönlichen Integrität.

Der psychotische Wahn kann als halluzinatorischer Ausdruck sowohl der Verletzung als auch der ohnmächtigen Wiederherstellung der verletzten Integrität einer Person verstanden werden.

Die Zwangsneurose ist ein Surrogat echter Verhaltensstrategien zur Bewältigung der Verletzung der persönlichen Integrität. Wer einem Zwang wie dem Wasch- oder Kontrollzwang unterliegt, glaubt mittels peinlich geregelter oder magischer Maßnahmen dem Einbruch oder Zusammenbruch der Integrität infolge infizierender oder unterminierender Mächte wehren zu können.

Wie die Berichte von Besuchern Hölderlins im Tübinger Turm bezeugen, können übertrieben manierierte oder zeremonielle Formen der Höflichkeit Ausdruck und zugleich Bewältigungsstrategien der Angst des Kranken vor allzu großer Annäherung und der Verletzung seiner persönlichen Integrität sein.

Im mehr oder weniger berechtigten Gefühl der Ehrverletzung oder Entehrung der eigenen Nation durch eine feindliche Macht keimt der Krieg.

Der Paranoiker, der glaubt, die Grenzen der eigenen Integrität seien verletzt worden oder unablässig bedroht, ist gegen den vernünftigen Aufweis des Gegenteils immun.

Der wahnhafte Gedanke an die feindliche Bedrohung ist eine paradoxe Form der Selbstbestätigung.

Die Sätze, mit denen wir ausdrücken, was wir achten oder verehren, verachten oder verabscheuen, betreffen weder einen Gegenstand der Welt noch eine Tatsache. Deshalb ähneln sie den Urteilen, in denen wir unsere ethischen Einstellungen zum Ausdruck bringen. Nichts an der Tatsache, dass Kain seinen Bruder Abel erschlug, gibt uns einen hinreichenden Grund für die Verachtung oder Diskreditierung dieser Tat.

Nichts an dem Kind in der Krippe gibt jenen, die in ihm den Messias verehren, einen untrüglichen Hinweis auf die Tatsache, dass es der Messias ist.

Sollen wir angesichts unserer Überzeugung, der treue Freund, der seine Freundin in Krankheit und Not nicht im Stich lässt, sei im Gegensatz zu dem untreuen Lebemann und Tunichtgut, der währenddessen sein Mütchen in fremden Betten kühlt, hochzuschätzen, von einer ethischen Intuition sprechen, wie wir bei der deutlichen Diskriminierung der Farben Rot und Blau von einer visuellen Intuition sprechen können?

Sollen wir angesichts von Individuen, denen der Maßstab zur Einschätzung einer Handlung als lobens- und tadelnswert oder eines aufopferungsbereiten moralischen Helden als ehrenwert und eines lebensfrohen Halunken als verachtenswert, abhandengekommen ist, von ethischer Blindheit sprechen, wie wir bei bestimmten Individuen von Farbenblindheit sprechen?

Sollen wir ethisch Blinde krank nennen, wie wir es bei Farbenblinden tun?

Wir können nicht begründen, warum wir Aussagen in wahre und falsche Sätze einteilen, denn etwas zu begründen setzt die Unterscheidung wahrer von falschen Sätzen voraus.

Gründe für die Unterscheidung wahrer und falscher Sätze könnten angezweifelt werden; doch um sie zu bezweifeln, müssen wir die Unterscheidung voraussetzen, denn einige dieser Gründe müssten wir als falsch verwerfen.

Wir können wahre Sätze durch Angabe guter Gründe als gerechtfertigt auszeichnen und falsche Sätze mittels desselben Verfahrens als ungerechtfertigt verwerfen.

Doch wir können das Verfahren der Aufteilung aller behauptenden Aussagen in wahre und falsche Sätze nicht rechtfertigen.

Wir können nicht begründen, weshalb wir die Tat Kains einen Brudermord nennen und als ethisch verabscheuenswert betrachten. Denn wenn wir den Satz, die Tat Kains sei ein Brudermord gewesen, begründen wollen, können wir dies nicht mit Aussagen über Tatsachen erreichen, denn Tatsachen geben uns keinen Hinweis auf ihre ethische Bewertung. Folglich können wir zur Begründung nur auf einen allgemeinen Satz zurückgehen wie den Satz: „Es ist verwerflich, einen anderen Menschen aus niedrigen Beweggründen zu töten.“ Aber dies ist natürlich keine Begründung, sondern nur eine Paraphrase des ursprünglichen Satzes, dass die Tat Kains als Brudermord zu bezeichnen sei.

Im Widerspruch zu Kant sehen wir nicht, inwiefern ein allgemeines Tötungsverbot aus den Prinzipien der Vernunft ableitbar sein soll.

Moses sieht klarer als Kant, insofern die Bibel die faktische Unableitbarkeit ethischer Einstellungen und die Unmöglichkeit, sie aus vernünftigen Gründen zu rechtfertigen, im Bild der Offenbarung des göttlichen Gesetzes ausgedrückt hat.

Wenn ethische Blindheit und Kurzsichtigkeit oder der Grad ethischen Kretinismus ähnlich wie Farbenblindheit und Fehlsichtigkeit anhand eines Sehtests durch ein einfaches Prüfverfahren festgestellt werden könnten, hätten wir ein Kriterium der Auslese derjenigen, die für die Übernahme verantwortlicher Positionen und Funktionen geeignet sind und wären von der stupiden Krönung des Einäugigen durch die Blinden befreit.

Wenn ethische Kurzsichtigkeit und Blindheit und damit auch ethische Klarsicht in einer eindeutigen Relation zur Intelligenz stünden, hätten wir ein noch einfacheres Verfahren zur Bildung von Führungseliten.

Es ist nicht ersichtlich, inwiefern ähnlich der Gaußschen Streuung der Intelligenz nicht auch die Fähigkeit zu ethischen Intuitionen in einer Glockenkurve ungleich auf die Individuen einer Gemeinschaft verteilt sein sollte.

Die Rotte Korah war blind für die mosaische Offenbarung und kehrte zum Kult des Baal zurück. Moses und Aaron ergriffen darob resolute Maßnahmen.

Die Tatsache der ungleichen Verteilung moralischer Fähigkeiten und ethischer Einstellungen wird in demselben Maße wie die Ungleichheit intelligenter Begabung von den Priestern des Kults der allgemeinen oder kommunikativen Vernunft und den Apologeten oder Aufwieglern der Pöbelinstinkte ignoriert oder geleugnet.

Wir können nicht wissen, warum wir Aussagen in die Menge der wahren oder gerechtfertigten und der falschen oder ungerechtfertigten Sätze einteilen, denn wüssten wir es, müssten wir diese Art der Aufteilung der Sätze mit mehr oder weniger guten Gründen in Zweifel ziehen können. Zögen wir sie in Zweifel, müssten wir die wohlerwogenen Gründe, die uns zu diesem Zweifel bewogen, rechtfertigen können. Wir setzen demnach bei dem Verfahren einer Rechtfertigung der Aufteilung aller Aussagen in wahre und falsche Sätze und bei der Akzeptanz der gerechtfertigten und der Verwerfung der ungerechtfertigten Sätze den Begriff der Rechtfertigung schon voraus.

Wir können in Hinsicht auf die Rechtfertigung unserer Sätze nur sagen: So machen wir es eben. Eine andere Art der semantischen Aufteilung von Sätzen ist uns nicht gegeben und erscheint uns nicht sinnvoll. Daher der Anschein des apriorischen Zwangs und der logischen Notwendigkeit.

Und wir können in Hinsicht auf die Rechtfertigung unserer ethischen Einstellungen nur sagen: So leben wir eben. Eine andere Art der ethischen Auszeichnung unserer Handlungen und Einstellungen ist uns nicht gegeben und in unserer Welt nicht vorstellbar. Daher der Anschein des begrifflichen Zwangs und der moralischen Notwendigkeit.

Wir können gewisse Symmetrieeigenschaften der Verwendung bewertender oder ethischer Aussagen konstatieren, wenn wir von Lob und Tadel, Achtung und Verachtung, Verehrung und Abscheu, Dankbarkeit und Missachtung auf einer Skala kontinuierlicher Übergange ausgehend vom Nullpunkt der Indifferenz und Gleichgültigkeit sprechen, aber nicht begründen, warum wir die Symmetrieachse anlegen.

Nur der radikale Asket oder der Heilige unternimmt es, im Nullpunkt zu verharren.

Wir können scheinbar begründen, warum der fürsorgliche Freund unsere Hochachtung verdient und der untreue Tunichtgut unsere Verachtung. Aber wenn wir die Gründe nennen, können wir nicht mehr sagen, als dass der eine in unseren Augen ein fürsorglicher Freund ist, weil er sich aufopferungsbereit um seine kranke Freundin kümmert, und der andere ein untreuer Herumtreiber, weil er seine Freundin trotz ihrer Krankheit betrügt.

Natürlich können wir uns irren, und dem scheinbar treulosen Herumtreiber unsere Verachtung weiterhin zu bezeigen wäre nicht gerechtfertigt, wenn er uns ohne Umschweife bekennt, dass er seine Freundin nicht mehr liebt. Dann könnten wir unsere Missbilligung seines Tuns nicht mehr damit begründen, dass er seiner Freundin untreu ist, denn liebt er sie nicht mehr, heißt dies nichts anderes, als dass er sich nicht mehr als ihren Freund betrachtet.

Umgekehrt würden wir dem scheinbar opferbereiten fürsorglichen Freund unsere Hochachtung und Ehrbezeigung sogleich entziehen, sobald wir erführen, dass er seine sterbenskranke Freundin in der Hoffnung pflegt, sie beerben zu können, und wir seinen moralischen Heroismus als Heuchelei durchschauen müssten.

Freilich verabscheuen wir die erheuchelte Güte, weil wir die wahre hochschätzen. Doch warum wir dies tun, wissen wir nicht.

Dass wir die Güte höher schätzen als die Bosheit, muss auf unsere ursprüngliche ethische Intuition zurückgehen, denn bei Mephistopheles ist es umgekehrt.

Mephistopheles, befragt, warum er böse ist und das Böse will, kann nur antworten, dass er einen unwiderstehlichen Zwang verspürt, zu allem Ja sein Nein zu sagen, alles Verehrungswürdige zu bespucken und herabzuziehen, alle Größe in den Schlamm seiner niederen Instinkte zu zerren, im leuchtenden Auge des schöpferischen Genies die geisterhaften Reflexe des Unterweltsflusses und im seligen Lächeln des Liebenden das Grinsen des Todes zu gewahren.

Mephistopheles, befragt, warum er böse ist und das Böse will, kann nur antworten, er sei eben, wie er nun einmal sei, oder wie es das geoffenbarte Wort ausdrückt, er sei von Gott so gewollt und geschaffen.

Wir nennen als einfachen Grund, weshalb wir auf dem Zahlenstrahl mit der Reihe der natürlichen Zahlen immer weiterkommen können, indem wir sagen, dass wir stets den Nachfolger einer Zahl durch Addition der Einheit bilden.

Aber findet sich ein Grund, weshalb wir uns überhaupt auf diesen Weg ins Unendliche aufgemacht haben?

Die Dummheit verwirft die Möglichkeit der Unterscheidung wahrer und falscher Sätze, weil sie nicht begründbar ist, und schlawinert sich Arm in Arm mit dem Leichtsinn durch ihr „Anything goes“.

Die falsche Großzügigkeit oder Toleranz und die Niedertracht wollen das Unkraut des Tadelnswerten und den Wildwuchs wertloser Schattengewächse unbeschnitten wuchern lassen, die eine, ohne zu bedenken, dass dadurch das Keimen und Gedeihen der edlen und seltenen Blüten verdunkelt und erstickt wird, die andere, weil eben dadurch das Keimen und Gedeihen der edlen und seltenen Blüten verdunkelt und erstickt wird.

 

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