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Diurnum philosophicum II

28.12.2022

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Schritt, Trab und Galopp, die drei Gangarten des Pferdes. Der überzüchtete Mensch kennt deren mehr, wie das Staken des Mannequins, das feierliche Schreiten des Priesters, den Stechschritt des Soldaten, Wandeln, Gehen, Hasten, Laufen, Rennen, Springen, Sprinten, Schleichen, Pirschen, Schlurfen, Schlendern, Stolzieren …

Gewisse Insekten mit Facettenaugen sehen in Farbräume, die uns für immer verschlossen sein mögen. Doch welche andere Gattung erfand Farbpaletten wie die eines Tizian, Tintoretto, Pontormo Rubens oder Monet?

Der Schwerttanz männlicher Kampfesfreude, der Schwanentanz weiblicher Anmut.

Die mythisch-expressive Polarität von Schilfrohr und Schildkrötenpanzer, Flöte und Laute, Pan und Apollo, Musik und Dichtung.

Zwei Arten von Dummheit, die des Instinkts und die des Verstandes; die erste weiß nicht, wohin sie will, die zweite nicht, wie sie dahin gelangt.

Die erste Art ist die gravierende, obwohl die zweite in den Formen von Schusseligkeit, Zerstreutheit, Vergeßlichkeit und Borniertheit eher ins Auge sticht. Denn nicht zu wissen, was man will, ist ein Kennzeichen der Entwurzelung und Degeneration, wogegen kein Kraut gewachsen ist; dem auf dem Weg Verirrten kann durch eine gute Wanderkarte ein Licht aufgesteckt werden.

Der Mann unterliegt bekanntlich mehr der Gefahr, Zweck, Sinn und Ziel seines Treibens aus dem Auge zu verlieren, als die Frau, die stärker unter den gleichsam konventionellen Formen von Dummheit zu leiden pflegt.

Die instinktíve Gewißheit bedarf keiner Gründe der Rechtfertigung, während sie von der intellektuellen meist eingefordert werden können.

Wir üben gestische und verbale Formen der Begrüßung; wer fragt, warum, wird rechtens mit der Antwort abgespeist: „Weil wir Höflichkeit für eine Tugend halten.“ Wer weiter fragt, macht sich lächerlich.

Das helle Tier wittert die Gefahr, zumal im widrigen Gestank verrotteten Fleisches, wenn es sich nicht gerade um Aasfresser handelt; der degenerierte Mensch wird vom Fäulnisgeruch des Untergangs wie die Fliege vom glitzernden Dung angelockt.

Die Schärfe männlichen Verstandes ist eine Funktion taktiler und visueller Orientierung; so gelang die frühe Meisterung der Jagd- und Kriegstechniken oder der Geometrie.

Der tödliche Pfeil Apollos trifft ins Herz, ebenso der anders tödliche, der Pfeil des Eros.

Das Flechtwerk, die gewebten Muster, die fluiden Ornamente rinnen rhythmisch aus weiblicher Hand, ihr Kennzeichen: Sie haben nicht Anfang noch Ziel, sie kehren in sich selbst zurück.

Die sehende Hand des Töpfers und Malers, die fühlende der Liebkosung, die sprechende der Gestikulation.

Das Zeigen ist ein Äquivalent des Sprechens.

Der unendliche Dialog zwischen Auge und Hand ist nicht sokratisch-dialektisch; hier werden keine überflüssigen oder Wesensfragen gestellt, die Hand folgt der Führung durch den Blick , das Auge ist der Hand immer einen Sprung, einen Deut voraus; doch manchmal überläßt das Auge die Hand auch ihrer blinden, gleichsam somnambulen und traumtänzerischen Fühlungnahme und Handhabe der Dinge oder den Routinen und Automatismen des Werkzeuggebrauchs. Das Thema der Unterredungen zwischen Auge und Hand sind die zu handhabenden Dinge wie Messer und Gabel, Schnürsenkel und Türklinken, Schlüssel und Tasten, Seife und Handtuch und die zu bewältigenden Stoffe (oder Substanzen) wie Wasser, Erde oder Feuer, Teig, Leim oder Holz.

Der Schlüssel muß ins Schloß passen, öffnet nur rohe Gewalt die Tür, ist das Schloß zerstört.

Es ist fatal, statt auf die Bremse auf das Beschleunigungspedal zu treten; unklug, die Dame im Schachspiel ohne Deckung zu lassen; blamabel, die ironische Frage als wörtliche mißzuverstehen.

Es ist töricht, wenn auch verbreitete philosophische Unart, anzunehmen, ähnliche Wörter würden auf dieselbe oder analoge Art und Weise Bedeutung vermitteln oder verleihen; aber Herr Müller ist kein Müller, das Bewußtsein ist kein Sein, Ich ist kein Name, die Farbe hat keine Ausdehnung, das Bild ist nicht sein Gegenstand.

Man wird nicht leichter, wenn man sich wie eine Balletteuse auf die Zehenspitzen stellt.

Man wird nicht verständlicher oder glaubwürdiger, wenn man statt mit der platten Wahrheit herauszurücken einen rhetorischen Spitzentanz aufführt.

Der eingebildete Kranke ist krank; nur leidet er nicht an der körperlichen Krankheit, die sich seine Hypochondrie ersann, sondern einer seelischen.

Ein Dichter, der nie den Vers hinschreibt, den er eigentlich schreiben wollte; und so schreibt er weiter.

Das Farbspektrum, das die Physik Newtons zerlegt, ist eigentlich unsichtbar.

Zu fragen, wie die Welt des Tastbaren, Fühlbaren, Sichtbaren, Hörbaren, kurz die Welt der Empfindung, unsere Welt, in die farblose, unsichtbare, stumme Welt der Objekte paßt, ist ähnlich unsinnig wie die Frage, wie man mit toten Figuren wie denen des Schachs ein geistreiches Spiel spielen kann.

Unsinnig, wie zu fragen, was toten Buchstaben den lebendigen Hauch verleiht, sodaß wir verstehen, was wir lesen.

Der Irrtum Kants, daß Anschauung und Begriff verschiedenen kategorialen Ordnungen angehören. Ich sehe keinen Farbklecks, der sich mir mithilfe des Verstandes als Rose entpuppt, sondern eine Rose, und weiß ich nicht, um welche Blumenart es sich handelt, doch eine Blume.

Es gibt kein geistiges Mysterium derart, daß ein an sich unsichtbares, gestaltloses, farbloses, geruchsloses, stummes Etwas sich in eine duftende Rose oder einen verständlichen Lautkomplex verwandelt.

Es gibt kein An sich, das sich in ein Für mich verwandelt. Dies ist der Irrweg der idealistischen und existentialistischen Denker von Hegel bis Sartre.

Wir wissen nicht, ob „Gott“ Gott bedeutet, so wie wir wissen, daß „Mond“ den einzigen planetarischen Trabanten der Erde bedeutet und Wasser H2O.

Die Erde ist zu groß, das Leben zu abgründig, die Sprache zu komplex, als daß wir begreifen oder auf den Begriff bringen könnten, was wir hier treiben.

Homer hatte keine Ahnung davon, daß er in der antiken Welt lebte; wie können wir uns vermessen, anzunehmen, wir lebten in der Neuzeit, der Moderne, der Postmoderne?

Du mußt nichts Besonderes sein oder anstellen – du atmest weiter, solange der Atem nicht aussetzt.

Das kleine Mädchen sagt: „Die Puppe schläft“ und meint damit, wir sollen leise sein, um sie nicht aufzuwecken. Sie zeigt auf ihr schlafendes Brüderchen: Meint sie dasselbe, wenn sie sagt: „Peter schläft“?

Wir verstehen unter „schlafen“ einen Zustand, aus dem man erwachen kann. Meint das Kind dies, wenn es die Puppe mit dem intelligenten Mechanismus hochhebt, der sie die Augenlider aufschlagen läßt, und sagt: „Jetzt ist die Puppe wach!“?

Es gibt keinen Dietrich für alle Zimmer im Grand Palais Abgrund, keinen Universalschlüssel für alle Fragen des Lebens.

Ähnlich wie der Name Berlin an sich nichts bedeutet, sondern Bedeutung erst in Sätzen annimmt wie „Berlin liegt an der Spree“, verhält es sich mit den Personalpronomina, allen voran dem der ersten Person; denn „ich“ und seine deklinierten Formen bedeuten nichts, es funktioniert als Bedeutungsträger erst in Sätzen wie „Ich gehe jetzt nach Hause“, „Gib mir doch bitte Deine Telefonnummer“, „Ich habe Schmerzen“ oder „Ich erinnere mich nicht an seinen Namen.“

Wenn ich sage, daß ich Schmerzen habe, spreche ich, wie Wittgenstein betont, keinem obskuren Wesen eine spezifische Empfindung zu; darin könnte ich mich irren. Nicht aber in meinem Schmerzempfinden.

Wir können den deskriptiven, also wahrheitsfähigen Satz „Er hat Schmerzen“ nur jener Peter genannten Person zuschreiben, wenn wir davon ausgehen, daß Peter nach seinem Befinden gefragt sagen könnte: „Ich habe Schmerzen“, aber auch „Mir geht es gut.“

Wir schreiben Peter spezifische mentale Zustände zu; Peter nicht sich selbst.

Die Fähigkeit, ich zu sagen, weist per se und unmittelbar auf nichts Höheres, Tieferes, Metaphysisches hin, wie die Idealisten und Dieter Henrich meinen, sondern ist das Kennzeichen für die Tatsache, daß ein mit Wahrnehmung und Empfindung begabtes Lebewesen perspektivisch zentriert ist. Diese Tatsache muß auch für Tiere gelten; auch wenn sie nicht in unserem Sinne über Sprache verfügen, wird ihr Wahrnehmen und Empfinden bis zu einem vielleicht schattenhaft-rudimentären Grade zentriert sein.

Es ist kein metaphorischer Gebrauch des Reflexivpronomens, wenn wir sagen: „Der Hund freut sich, sein Herrchen wiederzusehen“, „Die Maus flüchtet in ihr Erdloch, denn sie fürchtet sich vor der Wildkatze“ oder „Die Katze gähnt und langweilt sich.“

Wir drücken mit der Interjektion „Aua!“ aus, was der getretene Hund durch sein Gewinsel kundtut.

Nur Verrückte oder Philosophen haben, was man ein einheitliches Weltbild nennt; der Paranoiker glaubt, daß alle ihm an den Kragen wollen, ja, daß Gott ihn in diese Welt voller Gefahren und Anfechtungen verbracht hat, um ihn zu bestrafen oder zu seinem eigenen voyeuristischen Vergnügen zu foltern; die paranoische Methode dechiffriert alle Erfahrung auf diesen trüben, armseligen Gehalt. Hegel wähnte, der Weltlauf sei eine zwar vertrackte und verwackelte, aber mit der dialektischen Methode zu dechiffrierende Verlaufsbahn von Ereignissen, die in seiner eigenen Existenz mündet.

Die ursprüngliche Mannigfaltigkeit der Methoden zur Bewältigung und Lösung von Schwierigkeiten, Problemen, Fragen: Wegmarken und Karten führen den Wanderer an sein Ziel, mit der veralteten Karte bleibt er stecken; mittels des Umwegs von Einsetzungen und Umstellungen lösen wir die Gleichung, bloßes Raten führt hier nicht weiter; durch Abgleich mit ähnlichen Stellen im Gesamtwerk des lateinischen Dichters vermag der Philologe die Lücke im Manuskript zu schließen, reine Intuition kann ihn in die Irre leiten.

Die natürliche Ungleichheit der menschlichen Individuen zeigt sich nicht nur an der Singularität des Fingerabdrucks, der Handschrift oder der Gehirnwindungen, sondern offensichtlicher noch an der weiten Skala unterschiedlicher Fähigkeiten, Begabungen und Neigungen – von den motorischen Leistungen über die Grade der Aufmerksamkeit bis zu sexuellen Vorlieben und Perversionen; jeder hat sein spezifisches Sensorium, jeder seine eigenwillige Idiosynkrasie.

Dichter, nicht Schriftsteller, ist jener zu nennen, der mit einer Sonderbegabung hinsichtlich der Wahrnehmung von Düften, Farben, Klängen, Gestalten und Rhythmen ausgestattet oder auch geschlagen ist. Indes, wenn ihm die alltäglichen Worte und Wendungen wie Pilze im Mund zerfallen, bleibt er Dichter nur, wenn er eben diese Sprachnot wie Hofmannsthal in seinem berühmten Brief an Lord Chandos in geistreicher und ausdrucksvoller Weise kundzutun vermag.

 

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