Diskurs und Epiphanie
Ein Hinweis auf den logisch-semantischen Unterschied von Gedanke und dichterischem Bild
Der Diskurs ist die Darstellung, Entfaltung und Prüfung des Gedankens im Medium der Sprache (im Ausgang vom Gespräch) mittels systematischer Verwendung logisch-semantischer Muster des Folgerns und Ableitens; hierbei wird das Implizite, das gedanklich noch Unenthüllte, bloß Angedeutete und Ungesagte sprachlich enthüllt, ausgedeutet und bis an die Ränder seiner Vollgestalt ausgesprochen.
So können wir den begrifflichen Unterschied von Sein und Schein, realem Gegenstand und imaginärem Spiegelbild mittels systematischer Verwendung der logischen Negation darstellen und entfalten:
Die Frucht am Baum kannst du pflücken und genießen.
Die im Spiegel erscheinende Frucht kannst du NICHT pflücken und genießen.
Ich kann dich bitten, mir die Frucht vom Baum zu pflücken.
Ich kann dich NICHT bitten, mir die Frucht im Spiegel zu pflücken.
Die Behauptung, du habest mir die Frucht vom Baum gepflückt, damit ich sie genieße, ist wahr.
Die Behauptung, du habest mir die Frucht im Spiegel gepflückt, damit ich sie genieße, ist unwahr.
Wir sehen: Der Gedanke vom Unterschied zwischen Realität und Imagination kann dargestellt, entfaltet und mittels Anwendung der logischen Negation einer Wahrheitsprüfung unterzogen werden. Wir bewegen uns in der Gegenwart des bewußten Lebens im Bereich des Könnens und Nichtkönnens, an der Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen. Was logisch unmöglich ist, wie daß Schein und Wirklichkeit dasselbe wären, ist auch als Möglichkeit unseres gegenwärtigen Lebens ausgeschlossen.
Hier springen wir sogleich in die Sphäre derjenigen Dichtung, in der die Grenze von Können und Nichtkönnen, von Möglichem und Nichtmöglichem mittels systematischer Verwendung symbolischer Mittel der Evokation, Beschwörung und Blendung (Täuschung) verschwimmt. Diese Art Dichtung versetzt uns in einen Zustand, in dem wir nach der imaginären Frucht zu greifen wähnen, in der es uns ein leichtes ist, die Spiegelgrenze zu überschreiten. Insofern erscheint uns das gedanklich Unwahre oder Unmögliche augenblicks als gegeben und selbstevident. Die oben als Kriterien diskursiver Darstellung formulierten Sätze verlieren ihren logischen Status, und es gilt:
Die im Spiegel erscheinende Frucht kannst du pflücken und genießen.
Ich kann dich bitten, mir die Frucht im Spiegel zu pflücken.
Die Behauptung, du habest mir die Frucht im Spiegel gepflückt, damit ich sie genieße, ist nicht unwahr.
Mit bloß vorgestelltem, eingebildetem oder Schein-Geld können wir im Sinne Kants auf dem Markt keine Früchte erwerben und unseren Hunger nicht stillen. Aber die imaginären Früchte der Dichtung können wir, soweit ihr Bild uns hinreichend blendet und fasziniert, genießen. Ja, wir gehen noch weiter und sagen, die realiter genossene Frucht des Lebens hinterläßt zumeist einen schalen Nachgeschmack, als bliebe ihre Süße mehr oder weniger hinter unserer Erwartung zurück. Mit dieser unserem bewußten Leben eingesenkten Schwermut spielt, ironisch oder pathetisch, jene Dichtung, deren imaginäre Frucht zu vollkommenem Genuß einlädt – zum sublimen Genuß der von der Gier des Unmittelbaren erlösten stillen Betrachtung des imaginären Daseins.
Die symbolistische Dichtung hat mit Baudelaire, Mallarmé und Verlaine dem dichterischen Augenblick das Spiegelbild erschlossen; doch hat jener Symbolist avant la lettre, Goethe, dieses Bild wie im übrigen auch die den Symbolisten heiligen Metaphern von Schleier und Vorhang, schon verwendet:
Johann Wolfgang von Goethe, Auf dem See
Und frische Nahrung, neues Blut
Saug ich aus freier Welt;
Wie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält!
Die Welle wieget unsern Kahn
Im Rudertakt hinauf,
Und Berge, wolkig himmelan,
Begegnen unserm Lauf.
Aug, mein Aug, was sinkst du nieder?
Goldne Träume, kommt ihr wieder?
Weg, du Traum! so gold du bist;
Hier auch Lieb und Leben ist.
Auf der Welle blinken
Tausend schwebende Sterne,
Weiche Nebel trinken
Rings die türmende Ferne;
Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht,
Und im See bespiegelt
Sich die reifende Frucht.
Wir betrachten die letzte Strophe des Gedichts, in der das stürmende und drängende, das leuchtende Fanal des Beginns, das Blut, im nachdrücklich gesprochenen, fast psalmodierten, alle Ferne in die nächste Nähe des unwirklich Mächtigen, des gespiegelten Bilds, einholenden Ausklang:
Und im See bespiegelt
Sich die reifende Frucht
in die Frucht verwandelt und transponiert erscheint: Frucht, nicht greifbar und dem Genuß gegenwärtig, sondern als Scheinfrucht im Spiegel schimmernd. Frucht, die mit ihrem Glanz und ihrer betauten Fülle frische Nahrung und neues Leben versprach, doch gierig gepflückt und genossen schon aus dem Leben getilgt ist. Es ist diese Leiderfahrung, die das tröstlich-untröstliche Zurück- und Niedersinken in den Traum der zweiten Strophe beschwor, Erfahrung der Schwermut, die sich in goldene Träume ausweicht. Doch wird der Träumende sogleich in jene andere Dimension erweckt, in der das Blut der Liebe und des Lebens in die Frucht des rein gespiegelten Worts und die Stille der Betrachtung verwandelt und transponiert ist.
Wir nennen die Leistung des dichterischen Worts oder seinen Nach- und Widerhall Evokation, Epiphanie und Blendung: So blendet das Bild der im Wasser schimmernden Frucht für den kurzen, aber köstlich nachzitternden Augenblick, in dem wir von dem Lied wie vom Ufer des Sees zurücktreten. Wir sinken, vielleicht, nicht gänzlich in unser mehr oder weniger helles Dunkel zurück, sondern haben die beschworene Frucht des Gedichts wie ein optisches Nachbild in unser Gedächtnis hineingepflückt. Das Nichtsein des Spiegelbilds rettet das Sein des Gegenstands, der Schein bewahrt die Essenz des Lebens und der Liebe, des in der Realität immer an seine inneren und äußeren Grenzen stoßenden Lebens, der am Geliebten immer an ihre inneren und äußeren Grenzen stoßenden Liebe, sie werden, durch den Hauch eines Worts, den Schimmer eines imaginären Spiegels, für den außerzeitlichen Augenblick dieses Hauchs, für den außerzeitlichen Augenblick dieses Schimmerns, gestillt.