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Diminuendo

03.09.2022

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Mit der Sprache über die Sprache gegen die Sprache denken.

Wenn wir uns an den Namen des Freundes aus Kindheitstagen nicht erinnern, können wir nicht im Buch der Erinnerung nachschlagen.

Die verfängliche Vorstellung, unsere Erinnerungen hingen wie Würste in der Vorratskammer des Gedächtnisses, das Gedächtnis sei eine Art Speicher oder Rumpelkammer, ist ein schiefes Bild, das uns der gedankenlose Sprachgebrauch aufdrängt.

Das Buch hat ein Register, das Lexikon Lemmata, das Gedächtnis hat keine Metaebene seiner selbst.

Wir können über die Sprache nur mittels und innerhalb der Sprache nachdenken. Wir können als deutsche Romanisten über Dantes Wortgebrauch in deutscher Sprache handeln; aber wir können die Sprache nicht von einem außersprachlichen Terrain aus betrachten.

Wir können grammatische Strukturen nicht auf neuronale Netzwerke abbilden.

Dagegen können wir logische Strukturen wie die Wahrheitsfunktionen der durch Junktoren verknüpften Sätze auf elektronische Strukturen abbilden (Schalter ein, Schalter aus).

Aber dies zeigt nur, daß grammatische und logische Strukturen nicht isomorph sind.

Das Gleiche ist nicht dasselbe.

Der Mann, der vor einer Stunde in das gegenüberliegende Haus trat, und derjenige, der jetzt das Haus verläßt, muß nicht derselbe sein, auch wenn uns das Gedächtnis dies suggeriert, weil er ihm sehr ähnlich sieht (er könnte sein Zwillingsbruder sein).

Wir erinnern uns daran, in dieser und jener Stadt, dieser Straße und jenem Haus gelebt zu haben; dann hat unsere Erinnerung eine Lücke; hernach sehen wir uns gleichsam wieder aus dem uns vertrauten Haus treten. Sind wir es aber oder jemand, der uns sehr ähnlich sieht?

Die Erinnerung hat wie die Sprache keine Metaebene, von der aus wir ihre Aussagekraft ermessen und beurteilen könnten; wir können Erinnerungen nicht durch Erinnerungen verifizieren.

Der Passant erinnert uns an unseren alten Freund Peter, wir sagen uns: „Das ist doch Peter, er hat sich in den vergangenen Jahren wohl stark verändert, er hat sich die Haare gefärbt, trägt jetzt elegante Kleidung, seine Mimik, seine Gangart wirken seltsam, so beinahe, daß er wie Hans ausschaut.“ Doch wenn wir ihn fragen und er behauptet, nein, er sei nicht Peter, sondern Hans, fühlen wir uns genarrt oder glauben zu träumen.

Ein digitaler Stimmengenerator gibt ein Gedicht von Trakl ton- und ausdruckslos wieder; dann hören wir dasselbe Gedicht ausdrucksvoll von Oskar Werner rezitiert. – Was Ton und Ausdruck meinen, ist schwierig zu fassen, aber das Eingangstor zur dichterischen Sprache.

Der Atembogen des Gedichts. Auf welchen Pfeilern ruht er auf? Er schwebt im Leeren.

Der Zeigefinger zeigt auf den Gegenstand; worauf die musikalische Geste, worauf die poetische Metapher?

Die Rose Liebe, die nicht stirbt. – Nun kennen wir nur Rosen, die welken.

Auf die Rose, die welkt, können wir zeigen; nicht auf die absolute Rose des Gedichts.

Der Lehrer zeigt auf das Reagenzglas; er fordert die Klasse auf, genau hinzuschauen (ob es aufgrund der chemischen Reaktion beispielsweise angelaufen ist).

Der Wanderführer zeigt auf die Burgruine, die sich auf dem gegenüberliegenden Hügel erhebt; seine Geste besagt: „Dorthin wollen wir gehen.“

„Der Mönch am Meer“ auf dem Bild von Caspar David Friedrich ist die Verkörperung der romantischen Geste ins Grenzenlose, Ungeheure, Übermenschliche.

Aber, könnte man sagen, auf das Grenzenlose können wir nicht zeigen, nur auf etwas, was räumlich abgegrenzt ist. – Wie also funktioniert die Bild-Metapher?

Wenn der Tristan-Akkord als mehrdeutig empfunden wird, folgt daraus nicht, daß er eine musikalisch unklare, zwittrige, obskure Geste wäre.

Der falsche Ton; Emphase, wo Verhaltenheit angemessen wäre, Ermattung, Ausdrucksleere, wo die Kurve der Empfindung anschwillt; ein zu heftiger Anschlag der Tasten, wo die Seele aushauchen will.

Muß der Schauspieler empfinden, was er sagt, oder gefühlsmäßig in seiner Rolle aufgehen? Doch derjenige, der den König Lear gibt, muß äußerst konzentriert, gleichsam innerlich still, mit angehaltenem Atem bei sich bleiben, auch wenn er den Wahnsinn des Gequälten im Heulen der Sturmnacht darstellt.

Die betrogene Geliebte hört den falschen Ton aus den Treueschwüren des Untreuen untrüglich heraus, auch wenn sie von einem exzellenten Schauspieler vorgebracht würden, der in der Rolle des Don Juan überzeugte.

Wenn der Heiratsschwindler die Getäuschte um ihr Vermögen gebracht hat, wissen wir nicht, ob ihre weibliche Intuition zu schwach oder ihre qualvolle Sehnsucht zu stark gewesen ist.

Individuum est ineffabile.

Das Wesentliche, Individuelle, Singuläre (und das, was wir sind, was uns ausmacht) läßt sich nicht sagen; wir können nur Vergleiche zur Verdeutlichung heranziehen: „In seiner Nähe fühlte ich eine Bedrückung wie vor einem aufkommenden Gewitter an einem schwülen Sommernachmittag.“ – „Die Klarinette tönte wie jammerndes Quäken.“

Wir helfen uns, und oft nicht ungeschickt, mit synästhetischen Brücken: Ihr Gang ist schwebend, sein Witz ist blendend, scharf, ätzend, beißend, der Geschmack des Weins ist abgestanden, faulig, wässrig, fade.

„Dieser Riesling hat eine leicht säuerliche Note, abgemildert durch einen fruchtigen Beigeschmack von Quitten und Stachelbeeren.“ Wie dem auch sei; aber wir können nicht anhand einer solchen noch so blumigen Beschreibung des Connaisseurs den gemeinten Riesling in einem Blindversuch aus einer Reihe von aufgetischten Weinen herausschmecken.

Keine Beschreibung ist hinreichend detailliert, um ihr Objekt eindeutig zu identifizieren. – Um Objekte eindeutig zu identifizieren, gebrauchen wir Eigennamen, die ihnen gleichsam in einem einmaligen Taufakt verliehen worden sind. – Bei der Erwähnung des Namens „Georg Trakl“ wissen wir, wer gemeint ist; den verbreiteten Eigennamen „Peter Müller“ müssen wir mindestens um ein oder zwei spezifische Daten ergänzen (Geburtsdatum, Geburtsort), um aus der Heerschar aller Müllers den gemeinten Peter herauszufischen.

Die Stimmigkeit des gesuchten Worts, der erwünschten Wendung ertasten, fühlen, wittern; was der Dichter aus der ersten Aufzeichnung gestrichen hat, verrät uns manches über sein sprachliches Witterungsvermögen, seinen poetischen Instinkt; aber auch die Tatsache, daß manche, seltene Dichter wie Hofmannsthal kühn, sicher, beinahe unwillkürlich geschrieben zu haben scheinen, denn wir sehen keine einzige Korrektur im Autographen.

Und wenn die Hand, man möchte sagen kopflos, wie im Schlaf, somnambul, geschrieben hätte, wie ein Windhauch durch Halme streicht, über die Zeilen hinweggeglitten wäre?

Gräser, Halme, Ziffern. Sie biegen sich im Wind, recken sich wieder empor.

Freilich, die Ècriture automatique versagt oder speit nur kümmerliche Wort-Ejakulate aus, wenn nicht ein Breton, ein Artaud oder Soupault in ihr herumgeistert, sondern ein mit Zeitungsphrasen vollgestopfter deutscher Michel an ihr entlangstolpert.

Dostojewskij mag als der große Sentimentale und religiöser Hysteriker faszinieren, aber er enttäuscht als magerer, anämischer Stilist, der hinter der Fülle und Plastizität eines Puschkin oder Tolstoi zurückfällt.

Dem kleinen Journalisten und dem allseits bewunderten Groß-Schriftsteller sieht man die hingeschluderten Sätze, die windschiefen Bilder und die häßliche Warze auf der hochgereckten Nase rhetorischer Übertreibung nach, wenn sie nur das bunte Fähnlein der richtigen Gesinnung auf dem Schindanger ihrer Bekennerschreiben aufpflanzen.

Grell bemalte, sterile Trans-Puppen, die von der glorreichen Zukunft der um etliche Geschlechter bereicherten Menschheit schwadronieren..

Früher absolvierte der deutsche Michel sein geistiges Notabitur ohne Beanstandung, wenn er im Aufsatz hinreichend oft die Begriffe Reich, Führer und Überlegenheit der germanischen Rasse hinschmierte, heute schinden Begriffe wie Toleranz, Gleichheit und Überlegenheit der westlichen Werte dasselbe heraus.

Adam scheint im Paradies mit dem alten Herrn noch auf Augenhöhe konferiert zu haben, wenn er, zwar in dessen Auftrag, diesem gleichsam nachspricht und den Tieren Namen gibt.

Warum den Tieren, nicht aber den Blumen, fragen wir den jüdischen Geist. – Die alten Hebräer brachten ja ihrem eifersüchtigen Gott hekatombenweise blutige Tieropfer dar, nicht wie die leicht geschürzten Gauguin-Mädchen der ozeanischen Sonneninseln ihren lächelnden Götzen wohlriechende Blumengebinde.

Die Sprache des Paradieses, in der sich der Schöpfer mit seinen Geschöpfen unterhielt, glich sie dem logisch reinen Kristall des frühen Wittgenstein, dessen subtile und streng symmetrisch angeordnete grammatische Gitter keinen Schatten des Mißverstehens warfen? – Wie aber konnte Satan, die Schlange, in derselben Sprache lügnerisch-diabolisch zischen?

Aus dem Paradies vertrieben, scheint Adam alsbald die Fähigkeit verloren zu haben, sich mit Gott in dem alten Idiom auf Augenhöhe zu unterreden. – Der Glaube gewisser Propheten und Dichter, Reste der paradiesischen Sprache seien wie im Bernstein eingeschmolzene Insekten und Falter in urtümlichen Schriftzeichen und enigmatischen Sprachbildern der Vorzeit enthalten; Glaube, der von den sprachmagischen Spekulationen der jüdischen Kabbala bis zur deutschen Mystik, zu Böhme, Hamann und Novalis reicht.

Freilich, Adam benannte, was Gott ihm zeigte; schöpferische Kraft war seinem Nennen nicht vergönnt. – Hätte Gott Adam, wenn er bei der Benennung von der Nomenklatur Linnés abgewichen wäre, korrigiert?

Die Intuition der reinen Poesie, als könne das dichterische Wort ins Dasein, wenn auch nur ins Dasein des Gedichtes, rufen, was es beschwört.

„Kein Ding sei, wo das Wort gebricht“ – diese gnomische Wendung Stefan Georges definiert eine Poetologie, keine Ontologie.

Ein Murmeln, ein Flüstern, ein Raunen löst sich wie der Nebel über dem Hochgebirgssee im einbrechenden Strahl des Morgens auf in eine klare, azurblaue Stille.

Das Rinnsal dichterischen Wortes seufzt hin und versickert nach und nach im blütenlosen Karst des Schweigens.

Auf dem Stein bleibt lesbar noch der Name, und auch er wird halb schon von Moos und Efeu verdeckt.

Wir nehmen am Abend das Buch wieder zur Hand, worin wir gestern gelesen, doch das Lesezeichen ist ihm entglitten; so legen wir es zurück zu den anderen, löschen die Lampe und starren in das Dämmerlicht, das fahler und fahler aus dem Fenster fließt und schon über die Schwelle des Traumes leckt.

Die gellende Stimme der doktrinären Behauptung wird brüchig, die jubelnden Rufe der hohlen Begeisterung verhallen, das forcierte Crescendo der weltumgreifenden moralischen Aufrufe bricht ab, die lüsternen Schreie auf dem Markt der Meinung ersticken in einem apokalyptischen Rauch.

Der Großsprecher aus der ersten Reihe wird kleinlaut. Ist er unglücklich verliebt, liegt seine Mutter im Sterben, hat er angefangen, im „Nachsommer“ zu lesen?

Der im Seminar als ideologischer Rädelsführer stets eine dicke Lippe riskiert hat, ist plötzlich verstummt. Wurde er von seiner Freundin betrogen, hat die Revolution sich als käufliche Mätresse entpuppt, da sie ihre zerbeulte Lederjacke wegwarf, in Seidenkleider und verführerische Dessous schlüpfte und bei jenem feschen Beau, ja dem mit der blonden Strähne, der diamantverzierten Uhr und dem Sportwagen, einzog?

Nach dem Brausen des Sturms der Geschichte, dem Geklirr der Waffen auf den Schilden des Siegs dämpft Horaz den hohen Ton der Ode, und seine Stimme wird leise wie das Säuseln im Laubdach bukolischer Dämmerung, unter dessen lieblich flirrenden Schatten er dem Freund aus irdenem Krug den schlichten Sabinerwein einschenkt.

Das Rauschen des Brunnens der Erinnerung wird leiser, ein Murmeln und Glucksen, das, als hätten wir es geträumt, nun gänzlich versiegt.

 

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