Die Zerbrechlichkeit des Wir
Notizen zur Semantik institutioneller Begriffe
Zusammenfassung
Soziologie der Gruppe oder der Sprachgemeinschaft ist Semantik institutioneller Begriffe. Institutionelle Begriffe wie Freundschaft, Liebe, Ehe, Familie, Volk, Nation, Staat und Kirche sind weder objektive noch subjektive Begriffe; sie konstituieren einerseits das, was sie benennen, wie wir den Freund so lange Freund rufen, wie er unser Freund ist, andererseits sind die Regeln und Weisen ihrer Verwendung nicht ins Belieben gestellt oder willkürlich, sondern durch die Institution festgelegt, deren Begriff sie sind; so schrecken wir davor zurück, denjenigen Freund zu nennen, von dem wir wissen oder annehmen, daß er uns betrogen oder verraten hat, und bilden gern mit demjenigen das kleine institutionelle Wir der Freundschaft oder einen Freundschaftsbund, der seinen guten Willen dadurch unter Beweis gestellt hat, daß er Wort hielt und Versprechen, die er uns gegeben hat, auch einhielt. Die Liebe ist ein Austausch, der dem gegenseitigen Begehren entspringt und sich in der symbolischen Sprache dieses Begehrens ausdrückt; sie ist eine Institution in dem Maße, wie sich die Sprache des Begehrens mit Begriffen gegenseitiger Beanspruchung und Verpflichtung anfüllt, das heißt, insofern die Liebe Freundschaft wird. Wenn der Liebesanspruch auf Dauer infolge von Mißachtung oder Treulosigkeit versagt wird, versiegt auch das Liebesbegehren. Demnach ist auch Liebe ein institutioneller Begriff, denn ihre natürliche Grundlage, das sexuelle Begehren, geht in eine Struktur von Ansprüchen und Erfüllungen ein, die derjenigen der Institution Freundschaft analog sind. Auch die komplexen institutionellen Begriffe wie Volk, Nation, Staat und Kirche wären in ihrer semantischen Eigentümlichkeit zu konstituieren – wir weisen hier nur auf ihre semantische Verwandtschaft hin, insofern sie wesentlich nicht deskriptiv, sondern performativ gebraucht werden. Insofern haben sie sowohl andere Identitätsmerkmale als auch andere Wahrheits- und Erfüllungsbedingungen als Namen von Entitäten, Ereignissen oder Personen: Peter ist nicht dein Freund, weil er diese oder jene physischen und psychischen Eigenschaften hat, sondern weil du ihn Freund nennst, und du nennst ihn Freund, weil er bestimmte Erwartungen, die im institutionellen Begriff der Freundschaft impliziert sind, erfüllt. Institutionelle Begriffe enthalten das, was wir alltagssprachlich Lebenssinn nennen, insofern sich das Leben des Einzelnen in der Anwendung institutioneller Begriffe erfüllt, oder anders gesagt, insofern das Ich eine Funktion des Wir darstellt – und jede Anwendung eines institutionellen Begriffs bildet ein Wir-Modell: wir Freunde, wir Liebenden, wir Eheleute, unser Volk, unsere Nation, unser Staat, unsere Kirche. Die Zerbrechlichkeit der Wir-Funktion, die unser aller Leben trägt und prägt und mit Sinn erfüllt, resultiert aus der Tatsache, daß Institutionen sprachliche Formen sind: Wenn die performative Kraft, die ihnen Leben einhaucht, versiegt, zerfallen sie. Wenn Freunde sich nicht mehr Freunde nennen, ist die Freundschaft am Ende.
Man muß wohl mit dem Schlimmsten rechnen, um den ärgsten Enttäuschungen vorzubeugen.
Der menschlichen Sinn ist wie ein Häuflein Staub: Fährt der Wind drein, wirbelt es auf und zerstreut sich, blitzt die Sonne darauf, verleiht sie ihm die ephemere Anmutung des Schönen und Wohlgeratenen.
Das Grundproblem des Lebens ist die Instabilität und Fragilität seines Gleichgewichts, die Gefährdungen von innen und außen, das drohende Chaos in den Nervenbahnen und auf den Gassen.
Wohlstand verschafft die flüchtige Illusion, als könne man sich gehen lassen, als sei das Laisser faire, laisser aller die angemessene Haltung – bis die Katastrophe einbricht und jeder Mann seinen Mann stehen muß, bis der Feind vor der Tür steht und die Fähigkeit zu töten zählt, nicht die Fähigkeit zu tanzen.
Mißtrauen in die menschlichen Dingen ist oft mit Klugheit gepaart.
Die Bank, die einen Kredit vergibt, vertraut nicht blind auf die Zusage des Schuldners, brav seine monatlichen Beiträge zu leisten; sie droht Sanktionen für den Fall an, daß er seiner Zahlungsverpflichtung nicht nachkommt. Darüber hinaus hat sie sich in vielen Fällen sogenannte Sicherheiten verschafft, wie die Bilanz eines Unternehmens oder den Nachweis von Eigentum an Gütern und Kapital, um bei Eintritt der Fälligkeit des Kredits darauf zugreifen zu können. Diese Formen gegenseitiger Verbindlichkeiten, Verpflichtungen und Rückversicherungen geben uns tiefe Einblicke in die anthropologische Struktur.
Wir betrachten den Begriff des Heiligen als wesentlichen institutionellen Begriff. Die Erfahrung des Heiligen ist unablöslich verquickt mit einer Weise tiefen Erschreckens. Es meint: Wenn du diese Grenze überschreitest, mußt du sterben. Nimm deine Mütze ab, ziehe deine Schuhe aus oder verhülle dein Angesicht, denn hier betrittst du den Nullpunkt der Existenz. Die Begegnung mit dem Heiligen ist der Augenblick höchster Gefahr.
Man könnte daraus folgern: Die Annäherung an das Heilige, gleichgültig was immer es darstellt, ein Stein, ein Tier, eine Maske, eine glänzende Substanz oder ein kostbares Gefäß, dessen Inhalt keiner kennt, macht die Möglichkeit der Unordnung, des tödlichen Chaos, der seelischen Verwirrung und der sozialen Verwerfung allererst in einem solchen Höchstmaß bewußt, daß die Kräfte und Wünsche nach Reinigung, Bannung, Bewältigung und Ordnung der destruktiven Mächte wachgerufen werden.
Betrachten wir die soziale Institution des Versprechens in Hinsicht auf den anthropologischen Befund: Die schärfste Form der Sanktionierung, die demjenigen droht, der sein Wort oder seinen Eid bricht und sein gegebenes Versprechen nicht einhält, ist die soziale Ächtung. Dein Freund hat mehrfach die Verabredung aus nicht plausiblen Gründen platzen lassen, ja nach dem unentschuldigten Ausbleiben es nicht einmal für nötig befunden, sich im Nachhinein zu rechtfertigen und besitzt gar die Chuzpe, bei der nächsten zufälligen Begegnung auf der Straße, dich zu grüßen und mit dir zu plaudern, ohne des Fehltritts mit nur einem Wort Erwähnung zu tun – nun, du wirst, wenn du nicht von allen guten Geistern verlassen bist, den Kontakt mit einem solchen Schlendrian und Tunichtgut abbrechen und mit deiner Meinung über seine Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit vor anderen nicht hinter dem Berg halten. Wenn wie anzunehmen die Haltung dieses unliebsamen Zeitgenossen notorisch ist und er damit seine Umwelt in einem fort vor den Kopf stößt, wird er über kurz oder lang es dahin bringen, aus der sozialen Gemeinschaft ausgestoßen zu werden.
In dem Extremfall müssen wir den Normalfall durchscheinen sehen: Wir haben unsere sozialen Institutionen wie das Versprechen eben deshalb mit Sanktionen, Tabus oder Strafen belegt, weil wir immer auch mit dem Extremfall rechnen müssen, daß ein Mitglied der Gemeinschaft den relevanten institutionellen Begriff oder das relevante soziale Konzept nicht verinnerlicht hat: Er versteht nicht, was es heißt, ein Versprechen zu geben. Die Gründe, die sein Fehlverhalten leiten, zählen zunächst nicht gegen das Gewicht der Sanktionierungen, die ihm drohen.
Es könnte sich bei dem Extremfall auch um die Auswirkung einer Geisteskrankheit handeln. Dann würden wir sagen: Er ist verrückt oder seiner Sinne nicht mächtig, und das zeigt sich darin, daß er den institutionellen Begriff oder das soziale Konzept, das hier relevant ist, nicht verinnerlicht hat und nicht in soziales Handeln umzusetzen fähig ist. In solchen Fällen besteht die Ausgrenzung des Betreffenden in seiner Psychiatrisierung, die bis zur Extremform des Einschlusses gehen kann.
Wir sagen also nicht: Das hier betrachtete Fehlverhalten ist eine Folge geistiger Störung, sondern umgekehrt: Das Unvermögen, über die relevanten institutionellen Begriffe wie den des Versprechens zu verfügen, ist eine Form der geistigen Störung.
Wir könnten das hier besprochene Fehlverhalten auch aus sprachlichem Unvermögen erklären (und kämen zu demselben Ergebnis): Der Betroffene ist nicht in der Lage, einen Begriff wie „versprechen“, „Wort halten“, „sich zur Erfüllung einer Aufgabe verpflichten“ zu verstehen, er ist unfähig, die sprachliche Bedeutung dieser Begriffe anzugeben oder durch angemessenes Handeln umzusetzen. Denn wir erkennen, daß jemand versteht, was es heißt, das ausgeliehene Buch an dem ausbedungenen Ort und Termin dem Eigentümer wieder auszuhändigen, daran, daß er an dem ausbedungenen Ort und Termin tatsächlich das ausgeliehene Buch zurückbringt. Und wir erkennen des weiteren: Bedeutungsverstehen meint nichts anderes als den institutionellen Begriff oder die Handlungsanweisung, die er impliziert, korrekt in adäquate Handlungen umzusetzen.
Daraus ersehen wir, daß die wesentliche Leistung, die soziale Ordnung einer Gemeinschaft oder Gruppe aufrechtzuerhalten, identisch ist mit der wesentlichen Leistung, die Sprache dieser Gemeinschaft oder Gruppe zu beherrschen.
Aber, könnten wir einwenden, ein Tunichtgut, der durchaus versteht, was es heißt, versprochen zu haben, das Buch seinem Eigentümer pünktlich zurückzugeben, es aber vorzieht, damit seine Bücherei zu bereichern, beherrscht ja das Deutsche, ohne im mindesten dadurch daran gehindert zu werden, die soziale Ordnung zu stören.
Wir müssen entgegnen: Würde die Mehrheit der Mitglieder der deutschen Sprachgemeinschaft so handeln wie unser Tunichtgut, wäre dies ein Indiz für die Tatsache, daß die Bedeutung von Begriffen wie Versprechen und Selbstverpflichtung sich grundlegend geändert hätte. Eine natürliche Sprache wie das Deutsche zu beherrschen heißt demnach, im großen und ganzen zu tun, was man sagt. Würde dieses sprachliche Grundgesetz aufgegeben, bräche die soziale Ordnung über kurz oder lang zusammen.
Die soziale Ordnung beruht demnach auf der Bedeutung und dem Verständnis institutioneller Begriffe – die Soziologie der Gruppe oder der sprachlichen Gemeinschaft ist die Semantik institutioneller Begriffe.
Daraus folgern wir: Die Bedrohung und die Auflösung der sozialen Ordnung ist unablöslich verquickt mit der Verschiebung und Auflösung im Grundgefüge der institutionellen Begriffe, die das Verhalten ihrer Mitglieder regeln und steuern.
Das Leben des Einzelnen ist eine Funktion des Lebens der Gruppe, deren wesentliche institutionelle Begriffe er beherrscht. Wir verwenden dafür die prägnante Formel: Kein Ich ohne Wir. Das Leben des Individuums erweist sich demnach als eine Ableitung der sozialen Ordnung, deren institutionelle Begriffe der Einzelne beherrscht.
Wir ersehen die Gültigkeit dieses sprachlichen und sozialen Gesetzes ex negativo: Wer die Aktivitäten und Intentionen seines Lebens nicht mehr in ein soziales Wir integrieren kann, hat den Lebenssinn verloren und ist nicht mehr lange lebensfähig. Denn das, was wir alltagssprachlich als Lebenssinn bezeichnen, ist nichts anderes als die Integration des individuellen Ich in das soziale Wir, sei dies die Familie, der Liebes- oder Freundesbund, die Arbeitsorganisation, die Religionsgemeinschaft oder das eigenen Volk.
Der grundlegende institutionelle Begriff oder der Grundbegriff der Semantik institutioneller Begriffe ist demnach „wir“. „Wir“ bezeichnet keine Entität, kein Objekt, keine Substanz in der Welt, sondern die immer bewegliche, fluide, undefinierbare Grenze der Welt, unserer Welt. Wenn du und ich uns zu einem Spaziergang verabreden, machen WIR einen Spaziergang: Diese kleine Gemeinschaft des Wir, ein Wir en miniature, besteht darin, daß wir nebeneinander durch den Park gehen, uns gegenseitig auf dies oder jenes Ereignis in der sichtbaren Umwelt hinweisen, miteinander plaudern. So flüchtig dies Miteinander immer sein mag, seine Relevanz zeigt sich darin, daß du deine Erinnerung an den heutigen Spaziergang morgen nicht so wiedergibst, daß du sagst: „Ich bin im Park spazieren gegangen“, sondern: „Wir sind im Park spazieren gegangen“, auch wenn wir nicht im Park spazieren gegangen sein könnten, ohne daß du im Park spazieren gegangen wärest.
Wenn wir zusammen spazieren gehen, weil wir befreundet sind, sind Spaziergänge, Gespräche und gemeinsame Unternehmungen der einen und anderen Art gleichsam Teile oder Momente des Wir, das unsere Freundschaft ausmacht. Allerdings existiert das, was wir unsere Freundschaft nennen, nicht als unabhängige Entität außerhalb unserer gemeinsamen Unternehmungen, sondern, können wir sagen, unsere Freundschaft zeigt sich genau in diesen gemeinsamen Aktivitäten.
Aber ist unsere Freundschaft nicht auch irgendwie „da“, wenn wir nicht leibhaftig nebeneinander hergehen oder plaudern, sondern der eine ist dort, der andere da, und ich denke manchmal flüchtig an dich, oder du erinnerst dich flüchtig an unser gestriges Gespräch?
Hier berühren wir ein wesentliches Merkmal institutioneller Begriffe: Sie bezeichnen keine Substanzen, weder physische oder metaphysische noch psychische Entitäten, sondern eben Institutionen, Einrichtungen, Gepflogenheiten und Sitten des menschlichen Daseins, die nicht das wären, was sie sind, wenn wir sie nicht so benennten, wie wir sie benennen, wie Freundschaft oder Liebe. Der institutionelle Begriff der Freundschaft oder die Institution der Freundschaft ist von genau dieser Art oder Struktur: Sie ist wohl an das Dasein physischer und psychischer Entitäten und Ereignisse, wie meinen und deinen Körper, deine und meine Existenz, gebunden, sie umgreift sie gleichsam atmosphärisch wie das Wetter die Landschaft oder die Verteilung von Licht und Schatten das reale Zimmer oder das Zimmer auf dem Bild eines alten Meisters; darum können wir Freundschaft oder Liebe so schwer oder gar nicht definieren.
Doch wissen wir, wie es ist, wenn das Wetter umschlägt und aus heiterem Himmel Wolken aufziehen und Donner grollt; so kommt es uns mitunter vor, wenn das Grundgefüge unserer sozialen Bindungen sich verschiebt und sich die Atmosphäre zwischen Freunden oder Liebenden mit einemmal verfinstert und die Luft, wie wir sagen, dick wird.
Wenn wir aufhören, den Freund Freund zu nennen, ist die Freundschaft zu Ende.
Indes können wir auch gute Gründe anführen, eine Freundschaft aufzukündigen, wenn der Freund beispielsweise fortgesetzt seine gegebenen Versprechen in den Wind schlägt und sein Wort bricht: Wir sprechen mit Fug und Recht von Verrat und Treuebruch. Es wäre demgegenüber unvernünftig, weiterhin auf die Freundschaft eines Tunichtgut zu bauen, der uns an der Nase herumgeführt und verraten, der intime Geheimnisse, die wir ihm unter vorgehaltener Hand anvertraut haben, dem allgemeinen Gespött preisgegeben oder uns bestohlen hat.
Es zeigt sich demnach, daß institutionelle Begriffe wie Freundschaft eine vernünftige Anwendung von Regeln oder Vorschriften implizieren, wie die Regel, daß sich Freundschaft nicht mit leeren Worten begnügen darf, sondern sich durch Taten bewähren muß.
Wenn nun der Freund mit der schalen Ausrede für seine Nachlässigkeiten und Schlampigkeiten daherkommt, er müsse nicht all diese überkommenen, langweiligen und abgestandenen Regeln beherzigen, sondern er sei eben für den anderen da, wenn ihm danach ist, ansonsten führe er sein Leben unangefochtener Selbstverwirklichung, würden wir ihm nachweisen, daß er nicht wisse, was er sagt, und die Semantik des Begriffs Freundschaft nicht beherrsche.
Wir merken en passant an, daß wir nur metaphorisch von der Freundschaft zwischen Tier und Mensch reden können: Der treue Hund kann uns nicht versprechen, uns nicht im Stich zu lassen, wenn wir stürzen, sondern flugs nach Hilfe zu rennen. Der treue Hund vermag dies durchaus, uns in der Notlage nach seinen Kräften beizustehen; aber er tut dies nicht, weil er es uns versprochen hat, sondern weil er so ist, wie er ist, treu und gut, weil er so sein muß, wie er nun einmal ist, gut und treu. Aber dein Freund, der dir versprochen hat, dir in der Notlage beizustehen (er muß dies nicht expressis verbis getan haben, dies Versprechen ist eine Implikation der Semantik des Begriffs Freundschaft), tut dies, wenn er es tut, nicht weil er es tun muß, sondern weil er es will.
Die Zerbrechlichkeit der menschlichen Dinge zeigt sich in der Irrtumsanfälligkeit bei der Anwendung unserer institutionellen Begriffe: Wir dachten, er sei unser Freund, und nun kommen seine Unzuverlässigkeit, seine Launenhaftigkeit, sein Verrat zutage, wir haben den Begriff irrtümlich auf eine Person angewendet, die die Institution des kleinen Wir der Freundschaft nicht zu tragen und zu erfüllen in der Lage war. Diese Art des Irrtums ist epistemisch von ganz anderer Qualität als die irrtümliche Benennung eines Gegenstandes, dessen wahre Identitätsmerkmale uns entgangen sind, so wenn wir den Wal ein Säugetier nennen oder Karl mit Peter oder Clara mit Hanna verwechseln.
Die Semantik institutioneller Begriffe hat demnach andere Wahrheits- und Erfüllungsbedingungen als gewöhnliche Namen für Gegenstände, Einzeldinge oder Personen: Wir haben Karl nicht mit unserem Freund verwechselt, wenn sich herausstellt, daß er wenig freundschaftlich an uns gehandelt hat – wir haben uns bei der Anwendung des Begriffs geirrt. Institutionelle Begriffe haben andere Identitätsmerkmale als Begriffe für Farben oder Pflanzen oder Personen. Wir können uns ihrer nicht mit einem Blick, einem Vergleich mit einer Tabelle oder einer Recherche bei Dritten versichern. Wir müssen manchmal beherzt den Versuch machen, „wir“ zu sagen, auch wenn wir noch unsicher sind, wie weit dieses Wir trägt, wir müssen uns in Geduld üben und unsere Ansprüche an den anderen nicht überziehen, wir müssen uns fragen lassen, ob wir selbst die Erwartungen, die wir an andere stellen, erfüllen.
Am Ende stellt sich heraus, daß jener zurückhaltende Mensch, der zu schüchtern war, um sich bei dir in den Vordergrund zu spielen, und der von deiner finanziellen Notlage erfahren und dir das dringend benötigte Geld in einem anonymen Umschlag in den Briefkasten eingeworfen hat, eigentlich den Titel eines Freundes verdient hatte, ohne daß du es bemerkt hast.