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Die Wüste wächst

20.10.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Antisemitismus – keine glückliche Begriffsbildung, ist sie doch dem Dunstkreis der Sprachwissenschaften entlehnt. Besser man spricht klar und unzweideutig von feindlichen Einstellungen gegenüber den Juden als Vertretern einer Religionsgemeinschaft, als ethnisch geprägtem Volk und als Nation, nämlich der israelischen. Vorteil: Differenzierungen im Begriffsschema, die sich von der Antipathie über die Aversion bis zum Haß und dem fanatischen Wunsch nach Auslöschung erstrecken.

Der Haß Luthers, der doch den hebräischen Urtext zur Grundlage seiner genialen Übersetzung machte und die hebräischen Studien seines Mitstreiters Melanchthon förderte, die in einem für Deutschland einzigartigen theologischen Curriculum für die höheren Bildungsanstalten und theologischen Fakultäten der Universitäten mündeten – der Haß Luthers war jedenfalls, wie vielfach konstatiert, wohl finster, aber nicht exterminatorisch ausgerichtet, denn er ließ dem Juden den Ausweg der Taufe.

Das Kapitel „Linker Judenhaß“ ist noch nicht ausgeschrieben; zumindest nicht jener Teil, der von Marx und Engels ausstrahlte und einen Niederschlag auch bei jenen Faschisten und Nationalsozialisten gefunden hat, die unmittelbar aus der roten Strömung auftauchten wie Mussolini und Goebbels.

Der christliche Judenhaß hat eine Wurzel im Neid auf den religiösen Exzellenzanspruch des jüdischen Volkes, einzig von Gott auserwählt zu sein; der moderne säkulare Judenhaß im Sozialneid auf die jüdische Exzellenz hinsichtlich Begabung, Intelligenz, Weltklugheit, Reichtum und politisch-diplomatischen Einflusses.

Wie tief der Judenhaß in der radikalen Linken verwurzelt ist, belegen neben zahlreichen anderen Dokumenten die Anschlagspläne von Mitgliedern der RAF auf Synagogen oder das ruchlose Jubelpamphlet, das Ulrike Meinhof anläßlich der Ermordung der jüdischen Sportler durch ein palästinensisches Terrorkommando während der olympischen Spiele 1972 in München im Gefängnis von Stammheim verfaßt hat.

In demselben Maße, wie leidenschaftliches Begehren sein Objekt verklärt, verzerrt und dämonisiert leidenschaftlicher Haß das seine. – Töricht, mit idealistisch-weltfremden Philosophen der Vernunft eine diskursiv angesonnene mäßigende oder gar aufklärende Rolle zuweisen zu wollen, vor allem, wenn Leidenschaft und Fanatismus ganze Massen und Nationen heimsuchen.

Moral und gutes Gewissen sind oft Parasiten des leidenschaftlichen Wahns. – Das Judenmassaker als hygienische Maßnahme zur Reinerhaltung der eigenen Rasse oder als gerechte Vergeltung für das angeblich von Juden verursachte Elend von Massen, denen von ihren Brudervölkern eine Aufnahme in ihr Staatsgebiet verwehrt wird, um sie als Joker im diplomatischen Spiel zu mißbrauchen..

Der Judenhasser jüdischer Herkunft Marx war ein gelehriger Schüler Hegels; und in Hegels Lehren finden wir folgerichtig auch giftige Keime des spezifisch idealistisch geschönten Antisemitismus; ist nach Hegel die jüdische Religion doch eine Art lebender Leichnam und ein getünchtes Grab des Weltgeistes, der sie als starre, leblose Puppe seiner unaufhaltsamen Metamorphosen in Ritualgesetzen hinterlassen hat, die alles freie geistige Leben und den Fortschritt des Bewußtseins ersticken.

Die Verachtung des Ordo und der festen, gewachsenen Form, die Schmähung von tragenden Institutionen und den Umgang vereinfachenden und schlichtenden Sitten – Höflichkeit, Manieren, Galanterie und Ritterlichkeit – sind Zeichen jener fanatischen Gesinnung und perversen Hypermoral, die sich einzig für aufgeklärt hält.

Der Irrtum des Existentialismus, man müsse und könne die eigene Existenz frei entwerfen, ist der verlängerte Schatten der Absolutierung des sich setzenden Ichs bei Fichte. – Heute basteln sie aus den leeren Hülsen einer universalistisch aufgeblähten Ideologie Sprachmasken, Ideenlarven, Geschlechterkostümierungen.

Der totalitäre Geist zersetzt die Form und saugt alles sinnvoll Geformte, sittlich Bewährte, sprachlich gültig Geprägte in ein luftleeres Vakuum, in dem die Lebensgeister ersticken.

Schönheit, Anmut, Exzellenz – sie reizen die Vernichtungswut der egalitären und totalitären Moral.

Der germanische Genetiv wird verabscheut und scheint auszusterben; er gilt dem groben Sprachgefühl des demokratischen Vulgus wohl als Zeichen von geistiger Vornehmheit und aristokratischer Überfeinerung.

Ähnlich wie man keine private Sprache erfinden kann, muß auch jeder Versuch scheitern, eine tragfähige und ausdrucksstarke Lebensform in einem luftleeren Vakuum zu gründen, das von allen ethnisch, religiös und sprachlich geprägten kulturellen Traditionen abgeschnitten ist.

Reimtechnisch und formal komplexe lyrische Formen der östlichen Überlieferung wie das Ghasel, die auf Goethes Spuren Dichter wie Rückert verwendet haben, sucht man vergeblich im „West-östlichen Divan“ – denn er ist eben keine Anverwandlung deutscher Poesie an die alt-persische, sondern ihre Wiedergeburt im Wechselgespräch mit Hafis.

Große Dichtung zeigt das Antlitz ihrer Herkunft, lenkt die Wasser und Ströme ihrer Rhythmen in die Klüfte und Furchen der heimischen Erde, pflanzt ihre Bilder auf ihren Auen und Matten. – Doch hat sie sich unter den Baggern und Maschinen, dem Asphalt und Beton der Weltzivilisation in eine Karstlandschaft verödet, mischt sich in die dichterische Stimme die monotone Klage des Nomaden, der sein Zelt unter dem blitzenden Dolch des Wüstenmonds aufgeschlagen hat.

Die Hütte, das Haus, der Tempel, sie gehorchen in ihrem statischen Aufbau und Gefüge dem universellen Gesetz der Schwerkraft, doch in ihrer Anlage, ihren Proportionen, ihrem ornamentalen Schmuck sind sie einem historisch-kulturellen Ausdruckswillen verpflichtet, wenn wir sein Wirken auch nur in individuellen Abschattungen wahrnehmen können.

Keine ästhetische Form, kein künstlerischer Ausdruck und keine Sangesweise, wie es Hölderlin nennt, sind reine Erfindungen eines monadischen Genies, sondern wurzeln in der Atmosphäre der je spezifischen kulturellen Lebensart. – Die Psalmen sind die Oasen der orientalischen Wüste, das deutsche Lied bildet die Lichtung im Hochwald magischer Dunkelheiten.

In der Blechbaracke und im kollektivistischen Silo kann man hausen, aber nicht wohnen.

Die Pluderhose des persischen Imams steht dem Hohepriester des jüdischen Tempels nicht wohl an.

Kein epischer Hexameter ohne den gleichwiegenden Rhythmus des weinfarbenen Meers.

Ökologie der künstlerischen Stilformen.

Die schlichte Erhabenheit der alten lateinischen Liturgie und das uferlose Wogen der orthodoxen Gesänge.

Der Hirte Arkadiens singt anders, naiver, kraftvoller, beschwörender als der Virtuose des schillernden Ausdrucks und gemischten Gefühls im Fin de Siècle – und doch sind beide Triebe eines tief in die Erde reichenden Wurzelstocks.

Die dünne Luft unter dem kühlen Azur der Verse Mallarmés läßt keine üppigen Päonien schwelgen, aber ist bisweilen durchweht vom betörenden Hauch des Enzians, des Eremiten unterm Gipfelschnee.

Die herbe Melancholie Lorcas durchklirrt das schlüpfrige Rasseln der Armreife, durchschluchzt das Girren und Schnalzen der andalusischen Zigeunerinnen.

Das schillernde Stigma des ambrosianischen Reims auf der Stirn der abendländischen Dichtung.

Die Wehmut in den frühen Versen Hugos von Hofmannsthal ist wie das verklingende Rauschen der Kaskaden und Fontänen in den verwilderten Gärten des Ancien Régime.

In die Stille der Rokokogärten der Fêtes galantes, in die das Kreischen der Säge des Fortschritts einbrach.

Die verhaltene Ekstase des Pas de deux, die vom ausdruckslosen spastischen Zappeln und Zucken des expressionistischen Tanzes abgelöst wurde.

Die Wüste der globalen Indifferenz, die als bunte Vielfalt verkauft wird.

Eine radikale neue Art der Differenzierung des Fühlens, Denkens, Redens und des sozialen und religiös-rituellen Lebens beginnt historisch mit der Bewässerung unfruchtbarer Wüstenregionen oder dem Entstehen der Agrikultur, spirituell mit der Offenbarung auf dem Sinai.

Die Gliederung der Sphären, fruchtbar und steril, hoch und niedrig, heilig und profan, ist das kulturelle Apriori des Homo sapiens.

Die sich abzeichnende Entdifferenzierung im luftleeren Vakuum der globalen Zivilisation erfolgt scheinbar paradox auf dem avanciertesten Niveau von Industrie und Technik. – Doch wird die Wissenschaft als führende Macht resignieren, wenn wie absehbar der zersetzende Geist der Ideologie mehr und mehr in sie einsickert. – Die wissenschaftliche Biologie der Sexualität weicht dem Aberglauben der Gender-Ideologie.

Einige Windmühlen drehen noch ihre Flügel, doch in einem gespenstischen Leerlauf langsamer und langsamer.

„Die Wüste wächst“ – mögen auch Saaten noch schwellen.

Die Polyphonie der Sprachen und Sprechweisen verkümmert zur Monotonie der durch KI generierten Einheitsphraseologie.

„Die Wüste wächst“ – das Gesetz verliert den Glanz seiner göttlichen Herkunft und wird theologisch zerredet. Aber nur der Glaube an seine offenbarte Macht kann gegen die immer gegenwärtigen Gefahren der Wüste, der Verwüstung der Sinne und des Sinns, feien.

Wie die Sprache ist auch das Gesetz keine willkürliche Erfindung menschlicher Schläue und Gewitztheit, sondern ein Gegebenes, in religiöser Sprache ein Geschenk, eine Gabe, eine Offenbarung.

„Die Wüste wächst“ – auch wenn die Quellen noch sprudeln, die Wasser rauschen; aber ihr Rauschen ist wie ein sinnloses Lallen, ihr Sprudeln ein Tau auf glühenden Steinen.

 

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