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Die verrenkte Charis

25.06.2015

Es gibt die Phasen stillen Wachstums und die Epochen ruhiger Bildung, in denen gesunde Köpfe und starke Herzen schönen Gestalten ihre kokette Reverenz machen, und es gibt die Phasen der Unruhe und Verwirrung, in denen kranke Köpfe und schwache Herzen vor monströsen Götzen knien.

Nach Horazens Empfehlung solle der Poet seinen ersten Entwurf neun Jahre in der Schublade liegen lassen. Wenn er dann einer erneuten Prüfung auf dem Hintergrund gewachsener Erfahrung standhalte, könne er daran denken, ihn zu veröffentlichen. Das wirft ein Licht auf den global mit der Fieberkurve willkürlicher und ungeprüfter Einfälle anwachsenden digitalen Müll mentaler Zuchtlosigkeit.

„Dekonstruktion“: der Charis ein Gliedmaß verrenken oder ausrenken.

Wenn draußen der Wind heult und im Nebel wie Irrlichter zweifelhaftes Diebsgesindel herumstreunt, bist du heilfroh, deine Tür hinter dir verrammeln zu können. – Der gedungene Verräter pflegte heimlich nachts das Stadttor dem Feind zu öffnen und wurde er ertappt, so war sein Leben rechtens verwirkt. – Anders im ganz Großen: Wenn die bestallten Wächter des Staats am hellichten Tage alle Tore öffnen und alle Grenzen niederreißen, wenn sie dulden, dass das eigene Territorium für das Eindringen fremder Völker und Mächte vogelfrei wird, werden sie nicht nur nicht zur Verantwortung gezogen, sondern von den sklavischen Seelen aller Medien und Kirchen bejubelt.

Der Landesverräter der Dichtung ist der Sprachschänder, der die Mutter zur Unzucht zwingt mit den Götzen fremden Bluts.

Die Kreolisierung der Rassen wird noch übertroffen von der Kreolisierung der Sprachen.

Hunderte Jahre Aufbau und schöpferisches Tun – zwanzig, dreißig Jahre, um die Dome zu schleifen und das Wissen um die großen Bauformen in Dichtung und Kunst dem Vergessen oder zumindest der Verachtung preiszugeben.

Die wohlgebaute und formschöne Geige klingt schon, wenn du vorsichtig mit dem Fingerspitzen ihr auf den Bauch klopfst. So bedürfen lyrische Gedichte eines wohlgebauten Körpers und einer formschönen Bauart, in welche die neugeborene Seele des Gedichts einziehen mag oder auf der ihr aufs Freizügigste zu spielen und sich zu leben vergönnt ist. Ohne diese wäre sie verdammt, im Unbehausten zu schweifen und im wüsten Brachland zu nächtigen. Nackte Schnecke ohne Haus, sie kommt nicht weit.

Schwaden Nebels oder Fahnen beißenden Rauchs – wer mag sie beseelen?

Entreiße dem Körper der Charis ein Glied, schon ist sie entstellt und antwortet nicht mehr dem Ruf des Dichters, sondern jammert bloß vor sich hin.

Den aus dem unversehrten Bau des Gedichts herausgehauenen Teil, wie will man, dass er atme oder sich anmutig bewege? Die versehrte Form ist zum Schweigen verdammt, auch wenn unaufhörliches Jammern und Klagen von ihr ausgeht.

Der Bau des lyrischen Gedichts verleiht seiner Seele einen Körper. Ohne die gute Fügung und die rhythmische Gestalt dieses Baus wäre sie weniger als ein Gespenst.

Es ist überhaupt ein Kennzeichen der klassischen Kunst, dass ihre Werke nicht gespenstisch und körperlos an uns vorüberschwanken und vorüberschweben, sondern mit gutem Stand- und freiem Spielbein unserer Neugier und Zudringlichkeit standhalten, mit eigenen Augen uns anblicken und ihre Seele nicht bedenkenlos jedermann hingeben, sondern nur dem, der sie frei und unbefangen anschaut, nur dem, dem ihre Seele in den feinen Bewegungen der Glieder, in der Kühle der Oberfläche oder in der Wärme des Inkarnats spürbar wird.

Die so unterschiedlichen Bauarten der Dichtung untergraben den revolutionären Glauben an die Gleichheit der von Gott oder der Natur erschaffenen Seelen: Denn jede Bauart ist für eine andere Seele, einen anderen Typus, eine andere Fühlweise geschaffen, die Ode für die große, das Wiegenlied für die kindliche, das Epigramm für die trockene, das Liebeslied für die wässrige, die Elegie für die ätherische, die Satire für die feurige Seele …

Das Erdreich, in dem der Samen fruchten soll, muss auf die Aussaat gut vorbereitet werden, du musst es aufgraben und Steine und Steinchen entfernen, du musst das Unkraut jäten, den Humus auflockern, die Erde gut und reichlich wässern … Wie nun mit dem menschlichen Geist, der den Samen eines großen inspirierten Worts oder eines großen Gedichts von Pindar, Horaz oder Goethe aufnehmen soll, auf dass er Frucht bringe, muss er nicht von Unkraut gereinigt, gründlich durchlockert und zuvor mit dem köstlichen Wasser der Geduld und der heiligen Ernüchterung besprengt werden?

„Alles ist voller Götter.“ Auch diese Linie kann man von Thales aus ziehen, sie gipfelt nicht in der Weltvernunft oder dem Weltstaat, sondern in der Weltseele.

Man kann ein Kontinuum der Beseeltheit bilden von den psychischen Spurenelementen der anorganischen Formen über die Seelen der Pflanzen und Tiere bis zur Seele des Menschen, der sich der Gabe rühmen – aber dabei auch einer Gefahr, seiner Gefahr, innewerden – kann, am seelischen Leben aller anderen Formen teilnehmen zu können.

Die lyrischen Grundelemente der Maße wie Jambus und Trochäus, Daktylus und Anapäst verkörpern psychische Spurenelemente, denn sie übertragen sich in rhythmische Gefühle und dynamische Werte des Steigens und Fallens, Wogens und Drängens. Auch die Enttäuschung einer Erwartung, wenn das Metrum unausgefüllt bleibt oder der Reim fehlt oder statt eines vollen Klangs eine Pause der Stille eintritt, auch dies gehört zu den wesentlichen Spuren der Seele, die von Erwartungen lebt und auf Wechsel und Umbrüche gestimmt ist.

Wenn wir Seele oder Anima definieren als in sich geschlossenes, aber osmotisch mit dem Umwelt interagierendes Dasein, das aus sich selber Kraft zu schöpfen weiß und seiner in mehr oder weniger intensivem Maße bewusst ist, können wir verstehen, was es bedeutet, den Darwinismus umzukehren und die Bauformen der Organismen, die er im Kontinuum der Evolution analysiert, als sekundäre Erscheinungen oder Manifestationen des Lebens der Weltseele zu betrachten.

Der Hexameter und seine Bauformen wie das epische Gedicht schließen alle anderen rhythmisch-metrischen Grundelemente der Dichtung außer den Variationen des Daktylus aus. Die seelische Realität, die das Epos manifestiert, muss sich demnach aus dem Verständnis dieser rhythmischen Einheit erschließen lassen.

Wie Rhythmus und poetische Bauform sich zur seelischen Realität fügen, hat kein geringerer Gelehrter als der größte deutsche Gelehrte des 18. Jahrhunderts am Beispiel des Epigramms erhellt. Lessing bestimmt das Wesen des Epigramms in der durch das daktylische Metrum des Hexameters aufgespannten Erwartung des ersten Verses des Distichons und in dem durch das daktylisch-anapästisch gemischte Metrum des zweiten Verses ausgedrückten Aufschluss, das heißt der Erfüllung der vorangestellten Erwartung. Das Wechselspiel von Erwartung und Erfüllung, Anspielung und Entlarvung, Frage und Antwort oder Erregung und Befriedigung umschreibt die seelische Realität, die durch den geistreichen, spielerischen, witzigen und polemischen Pointenstil des Epigramms zum Ausdruck kommt.

Wir weichen mit Schauder und Ekel vor dem leprös entstellten Angesicht zurück und bedauern das elende Geschöpf, dem einen Nase fehlt oder ein Auge oder dem der Mund nerv- und geistlos herabhängt. In diesem Sinne scheuen wir auch vor dem mutwillig durch geistlose oder böswillige Formzertrümmerer zerbrochenen Bau des Gedichts zurück – und werden bedenklich angesichts der Form des hochgepriesenen Fragments, wenn es nichts anderes als ein Zeugnis poetischer Ohnmacht ist.

Wenn wir die Bauformen der Dichtung in Hinsicht auf den Ausdruck ihrer seelischen Realitäten verstehen wollen, müssen wir uns der süßen Täuschung hingeben, uns in Polytheisten und Gläubige von Mythen zurückverwandeln zu können, in denen es von allerlei Quell-, Wiesen-, Wald- und Flussgeistern wimmelt und in denen Blumen und Tiere sich jederzeit als von Göttern verwandelte Menschen offenbaren können – denn es gibt ebenso viele wesensähnliche Bauformen und Ausdruckswerte der Dichtung wie Geister und Fabelwesen des antiken Mythos.

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