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Die Unsichtbarkeit des Nahen

03.12.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Für das Augenscheinliche sind wir blind.

Die Moderne im Rücken, die Vormoderne vor uns hinter der großen Schutthalde.

Sich selbst, nur weil man jetzt gerade einmal ein wenig über den Tellerrand geschaut hat, als modern zu etikettieren, ist ähnlich bizarr und ein klein wenig lächerlich, wie es selbstherrlich-arrogant von den großen Gelehrten der Renaissance gewesen war, das vorausliegende Säkulum ins Dunkel des Mittelalters zu verabschieden, und wie es dümmlich-arrogant von den biederen und geradlinigen Bourgeois des endlich illuminierten Zeitalters war, die barocken Labyrinthe und die Rokokoschnörkel der verhaßten und beneideten Adelsepoche als museumsreif zu diskreditieren.

Der Vergangenheit die Sinnrichtung auf den eigenen historischen Standort anzusinnen und anzudichten ist ähnlich aufgeblasen-dilettantisch wie zu glauben, der Sternenhimmel drehe sich um den Betrachter oder der liebe Gott habe die Hühner erschaffen, auf daß sie Hinz und Kunz zum Frühstück die Eier legen.

Nach den Modetorheiten des Marxismus, der Psychoanalyse, des Existentialismus, des Strukturalismus und des Poststrukturalismus kramen wir die altmodische, geflickte Joppe der Selbstbetrachtung aus dem Schrank oder gehen, eine graue Maus mit der Hochachtung vor der dort hinten lauernden schwarzen Katze unter der Heerschar der nichtsahnenden grauen Mäuse, inkognito.

Er kannte etliche Fremdsprachen, war geschult in Linguistik und Grammatik, ein Virtuose in der Semiologie akustischer und visueller Zeichen, doch was Sprache ist, war ihm völlig unbekannt.

Mit dem Gehörlosen, auch wenn er die genauesten physiologischen Studien über das Ohr und den auditorischen Cortex betrieben hat, kannst du dich nicht über Schuberts Streichtrio unterhalten.

Wir lernen nicht die Bedeutung von „sehen“, wenn wir, des Deutschen mächtig, die Bedeutung von „videre“, „voir“, „vedere“ oder „to see“ lernen.

Der Italiener kann die Bedeutung von „sehen“ lernen, weil er die Bedeutung von „vedere“ schon kennt, ebenso der Engländer die Bedeutung von „voir“, weil er weiß, was „to see“ bedeutet.

Wie lernen wir die Bedeutung von „sehen“? Jedenfalls nicht so, wie wir, von unserer deutschen Muttersprache ausgehend, die Bedeutung von „videre“, „voir“, „vedere“ oder „to see“ lernen.

Wie das Sehen ist auch zu sagen, daß man dies oder jenes sehe, ein NATÜRLICHER Vorgang, und der Ausdruck „NATÜRLICHE Sprache“ ist nicht nur aller Ehren wert, sondern enthält den tiefsten Gedanken.

Wir können weder etwas sehen noch sagen, daß wir etwas sehen, ohne die Tatsache zu würdigen, daß WIR etwas sehen, oder zu sagen, daß ICH oder DU etwas siehst.

Die NATÜRLICHE Sprache ist die unverlierbare Grundlage der NATIONALEN Kultur.

Die Angehörigen einer nationalen Kultur sind virtualiter all jene, die von derselben sprachlichen Mutter gesäugt worden sind; actualiter all jene, die das vierte Gebot nicht auf den Kehrichthaufen der als vormodern zu entsorgenden Traditionen geworfen haben.

Die nationale Kultur ist bedroht, wenn die sie begründende natürliche Sprache keine Sublimierung, Züchtung und Pflege im Garten der Künste erfährt.

Der Krieg geht ums Vaterland, der Kulturkampf um die Integrität der nationalen Kultur.

Der auf der nationalen Kultur und Sprache konstruktiv oder parasitär aufbauende Nationalstaat hat keine eindeutige Stellung zur heimischen Kultur, die sich bisweilen sogar unter unterschiedliche Souveränitäten teilen kann wie die preußische und österreichische. Der Staat kann sich mit einer positiven Auslese künstlerischer Begabungen dekorieren wie das perikleische Athen, das augusteische Rom oder der preußische Adels- und Hofstaat mit seinen Humboldts, Schinkels und Schlüters. Er kann dank fehlender oder negativer Auslese das geistige Vakuum mit dem hohlen Gips der Repräsentation zuzustopfen versuchen wie der geistlose Führer- und Tyrannenstaat oder wie die Massendemokratie mit der grellen Tünche und dem Schellengeklingel witzloser Zeitgeist-Schalke.

Die natürliche Sprache und die Sprache einer gebildeten Nation wie der französischen sind keine wertneutralen Instrumente beliebig dienstbaren Ausdrucks, sondern Organismen ähnelnde Strukturen und kollektive Musterbildungen, die sich ausgehend von elementaren Metaphern und Redewendungen aus allen Lebensbereiche vom Alltag bis zu den Sphären von Recht, Religion und Kunst mit einem Wust an Mythologien und Symbolismen angereichert haben. Einen Baudelaire nichtfranzösischer Zunge kann es darum nicht geben, weil sich im Idiom dieses Dichters Jahrhunderte metaphorischer, symbolischer und rhetorischer Schichten überlagern, durchqueren, verschlingen, die man in einem anderen geschweige denn nichtromanischen Idiom in dieser sublimen Form zumeist vergeblich sucht und die bei der Übersetzung gern der Auflösung, Verwischung und Verdunstung anheimfallen.

Am Allgemeinbegriff von Gesellschaft oder gar Weltgesellschaft orientierte Soziologen verkennen von Haus aus oder als Folge einer déformation professionelle die Kohabitation von natürlicher Sprache und nationaler Kultur.

Regionale nationale Kulturen wie die irische, provenzalische, alemannische oder österreichisch-bajuwarische blieben lange unabhängig von einer staatlich-nationalen Einordnung fruchtbar und lebendig.

Wie öde und trostlos, wenn alle dieselbe Joppe tragen und alle dasselbe Kauderwelsch radebrechen, wenn endlich die Monokultur der Phrase, der Zeitung und der Curricula der Einheitsschule die Idiolekte und Dialekte des Volkes, des Dichters und der Seele der Sense der Modernisierung oder dem Unkrautvernichtungsmittel namens Fortschritt zum Opfer gebracht haben wird.

Das Wort „sehen“ ist ein abstraktes Lemma, und unter dieser lexikalischen Rubrik finden wir eine lange Sequenz artverwandter Begriffe wie: blicken, beobachten, betrachten, in Augenschein nehmen, mustern, lugen, erspähen, aus dem Augenwinkel belauern, sichten, die Umrisse mit Blicken abtasten, glotzen, gaffen, anhimmeln, die Augen verdrehen, mit den Augen verschlingen, die Augen vor etwas verschließen, für etwas blind sein, blinzeln, den Blick verlegen oder hochmütig abwenden, aus der Sicht verlieren und viele andere mehr.

Wir konstruieren solche artgemäßen Varianten des Lemmas „sehen“ durch Hinzufügen adverbialer Bestimmungen, wenn wir etwa sagen: „mustern“ heißt, etwas unter einem gewissen Blickwinkel und einem gewissen Interesse genau besehen; „nach etwas spähen“ heißt, einen Gegenstand oder eine Person wie ein Detektiv, ein Geheimpolizist oder ein Voyeur in großer Anspannung beobachten; „betrachten“ kann heißen, etwas genießerisch-langsam mit Blicken abweiden.

Wenn Kinder Detektiv spielen, lernen sie die Bedeutungsnuance „spähen“ und „ausspähen“ am Begriff „sehen“. Auch wenn sie das Wort „spähen“ nicht verwenden, gebrauchen sie das Grundwort „sehen“ im Sinne dieser Bedeutungsvariante.

Das Erlernen der natürlichen Sprache hat eine strukturelle Verwandtschaft mit dem Erleben und immer lebhafteren, tieferen, reicheren Erleben der natürlichen Gefühle wie Furcht, Freude, Ekel, Liebe und Scham.

Kann man Liebe oder Scham lernen? Nicht so wie rechnen oder eine Fremdsprache. Denn ihnen eignet unaustilgbar das Moment des Widerfahrnisses und der Ergriffenheit.

Sein Leben ohne Hingabe, ohne Bündnis, ohne Liebe zu verbringen und zu vertändeln, erscheint uns unnatürlich, auf allen Bühnen nacktärschig oder mit erigiertem Eigendünkel herumzulaufen und aufzustampfen oder den Intimbereich der Mitlebenden höhnisch und zynisch abzutragen, dünkt uns geradezu widernatürlich.

Man kann die natürlichen Gefühle wie Liebe oder Scham vortäuschen, entstellen, mißbrauchen, wie man die Sprache zur Täuschung, Irreführung, Lüge mißbrauchen oder entstellen kann.

Wie die Krankheit sich nur von der Gesundheit her verstehen läßt, kann auch die Perversion von Liebe oder Scham ihre Herkunft nicht gänzlich verdunkeln.

Der Masochist quält sich mit dem erwählten Gegenstand seiner Hingabe, doch fehlt er, leidet er nicht minder. Der neurotisch Schamhafte, der dermaleinst vor der nackten Venus errötete, wußte mehr von der Macht des Eros als der Enthemmte, der achtlos den marmornen Hintern betätschelt.

Liebe mag stumm sein, aber sie ist niemals ausdruckslos. Sie verrät sich im verirrten Blick, in der schüchternen oder zitternden Geste, in der Freigebigkeit oder Torheit des Schenkens.

Sprache ist uns Heimat als immer auch bedrohte Landnahme im Unbekannten, die gegen die Fluten unwahrhaftigen Geschwätzes und die Epidemien intellektueller Idiome uns Deiche und Dämme zu bauen nötigt.

Sprache und Vernunft, Selbstheit und Besonnenheit sind konzentrische Kreise um die uns unbekannte Mitte, das sich uns bei jeder Näherung entziehende Geheimnis unserer Existenz.

Die Vernunft geht der Sprache auf, wenn wir genötigt sind, das heute Gesagte auf seine Konsistenz, seine inferentielle Stimmigkeit oder Unstimmigkeit, mit dem gestern Gesagten abzuwägen. Die Besonnenheit geht uns auf, wenn wir genötigt sind, unser gestriges Urteil im Lichte des neuen Tages zu korrigieren oder zu vertiefen, als schief und dumm zu verwerfen oder mit angemessenerem Decorum zu verschönen.

Was uns die Sprache verschlägt, die Ohnmacht der Liebe, die Vergänglichkeit des Schönen, müssen wir schweigend in unsere Einsamkeit, als unsere Einsamkeit verinnerlichen.

Gesegnet, wer im Gebet nicht gänzlich verstummend das Verlorene als Opfergabe auf den mit Blumen und Lichtern geschmückten Altar legen kann.

Erst ging er zu Fuß von seinem Dorf in die Stadt und sah den Fluß, und ob er Niedrigwasser führte oder von der Schneeschmelze angeschwollen war, ob Blätter darauf schwammen, Äste, Eisschollen, er sah die Gärten, und ob die Apfelbäume blühten, die Kirschen und Mirabellen glänzten, die Zweige kahl hingen, er sah das Leben der Tiere, der Vögel, der Insekten, der Eichhörnchen, er hörte das Rauschen des Wassers, das Ächzen der brüchigen Wipfel, das Geschrei der Vögel, den Lärm der Kinder, das Quietschen der Straßenbahn, roch die betäubenden Düfte des Sommers, den Dunst des verrottenden Lebens im Brackwasser der Lachen.

Dann fuhr er mit dem Fahrrad von seinem Dorf in die Stadt und sah den Fluß, die Gärten, die Tiere, doch um die Falter und Hummeln und Igel zu sehen, war er zu schnell, das Flüstern der Blätter und das Zwitschern der Vögel verwischte im Keuchen des eigenen Atems, der Geruch des Sommers schmeckte nach dem eigenen Schweiß, der Lärm der Kinder ging allmählich im Hupen der Autos und im Heulen der Motoren unter.

Schließlich fuhr er mit der U-Bahn und sah und hörte von alledem nichts mehr.

Die mit dem akademischen Steißbein denken, sich die Welt als System von Zettelkästen ertüfteln oder hinter der Planierraupe den künstlichen Rasen ausrollen, die Soziologen und Ökonomen und die wohlmeinenden und gutgläubigen Humanisten nennen dies Fortschritt und Modernisierung.

Wir sagen schlicht und ein wenig trotzig, Worthülsen wie „Fortschritt“ und „Modernisierung“ seien Scheuklappen vor dem Augenscheinlichen.

Daß wir Dinge sehen und nicht in einem chaotischen Wahrnehmungs- oder Bewußtseinsstrom untergehen ist genauso wenig erklärbar wie die Tatsache, daß wir „ich“ und „du“ und „wir“ sagen, uns grüßen oder uns daran erinnern, vorgestern unseren Freund Peter im Park getroffen zu haben.

Wenn wir diese wesentlichen Vorgänge mithilfe objektiver Sachverhalte wie der neurophysiologischen Basis des Sehens, Sprechens und Erinnerns erklären wollen, müssen wir schon wissen, was „sehen“, „sprechen“ und „erinnern“ bedeutet.

Wir wissen, was dies heißt: „Die Zeit vergeht“ oder „Es wird Abend“ oder „Ich bin spät dran“, aber wir können die Bedeutung der Zeit nicht anhand einer Uhr erlernen. Wir haben gesehen, wie der Schatten des Baumes wanderte, sich verjüngte, unter dem Zenit des Mittags schwand und wieder anwuchs bis zum Abend hin. Wir haben den Ablauf der Tage und Nächte erlebt, den Wechsel der Jahreszeiten. Doch nur wenn wir am Abend auf UNSEREN Tag, im Winter auf UNSERE Sommertage zurückblicken, verstehen wir, was dies heißt, daß der Tag vergangen, der Sommer lange vorüber ist.

„Ich spreche“ – dieser kurze Sprechakt enthält die ganze Philosophie und Weisheitslehre in nuce, denn er impliziert die Begriffe der Evidenz der natürlichen Sprache, der fragenden und Antworten vorschlagenden Vernunft und der die Maßstäbe des Gesagten abwägenden und prüfenden Suche nach Wahrheit, der Wahrhaftigkeit und Besonnenheit des Sagens, des fragilen, von Unvernunft und Unbesonnenheit, von Eigendünkel und Maßlosigkeit und am Ende vom Verstummen bedrohten Selbstseins.

 

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