Die Umkehr
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Unser Ziel: durch die zerklüftete Karstöde der radikalen Sprachskepsis in die grünende Auenlandschaft des schlichten Liedes gelangen.
Der Strom des Hexameters mäandert durch die heroische Landschaft des Epos; aufgrund des Wechsels von Daktylen und Spondäen, dank der unterschiedlichen Zäsuren im Vers bewirken seine Schlingen und Schleifen spielerische Variationen im Inneren einer erhabenen Monotonie.
Aus dem Kelch der Bitterkeit, den der Erwählte im Garten Gethsemane erblickte, tropfte ein Tropfen herab, und aus der erwachten Erde sproß die Wunderblume empor, deren Duft den Trauernden tröstet, deren Tau den Verwundeten heilt.
Wären Sätze nur sinnvoll, wenn sie entweder wahr oder falsch sind, wäre dieser Satz sinnlos.
Die Dimension des Sinns ist der Dimension der Wahrheit vorgeordnet.
Wir können uns nicht an den Methoden und Ergebnissen der Wissenschaft orientieren, wenn wir den Sinn unseres Daseins erfassen wollen.
Das Wasser des Musenquells auf dem Helikon der Gegen-Erde, das nicht wie das unsere aus H2O besteht, sondern aus XYZ, stillt den Durst des Gegen-Hesiod genauso wie das hiesige den Durst Hesiods.
Der wie besessen gegen die Türe hämmert, um am Ende entkräftet und ohnmächtig an ihr herabzusinken, hat nie bemerkt, daß sie nicht abgeschlossen war.
Die in der Nacht schreit, die verlassene Seele, kann die Erinnerung an den Gute-Nacht-Kuß der Mutter nicht trösten.
Der Spiegel der Sprache, der den Sinn seitenverkehrt abbildet.
Das Kind tritt vor Wut gegen das Tischbein, an dem es sich gestoßen hat; der Entgeisterte zerschlägt den Spiegel, der ihn in seiner Nacktheit und Erbärmlichkeit gezeigt hat.
„Die Substanz ist … (Wasser, Feuer, Atome, Leere, Geist)“ – Verführung des Verstands durch die Suggestionskraft der Grammatik.
Ich könnte sagen, die Sonne kreise um die Erde, ohne zum ptolemäischen Weltbild zurückkehren zu wollen.
Wie von der Palette des Malers könnten wir von der Farbpalette des dichterischen Stiles sprechen.
Wenn wir jemandem Sehvermögen attestieren, meinen wir damit schlicht, daß er nicht blind ist. Aber wenn wir von Denkvermögen sprechen, meinen wir damit nicht, einer könne 2 und 3 addieren, sondern er könne sehen, daß 2 + 3 dasselbe ist wie 3 + 2.
Die Zahlen von 1 bis 100 zu addieren ist einfach, wenn auch mühsam; aber zu sehen, daß 1 + 100 und 2 + 99 und 3 + 98 und so weiter dieselbe Summe ergeben und damit das Muster und die Gaußsche Formel der Addition, ist nicht ganz so einfach – aber auch eine Form des Sehens.
Jemandem Hörvermögen zuzusprechen heißt schlicht zu sagen, er sei nicht taub; und die Unterschiede von leise und laut, andante und allegro zu hören ist einfach. Nicht ganz so einfach ist es, den Krebsgang der Tonfolge in einer Bachschen Fuge oder am Tristanakkord zu hören, was wir sein Schweben, gleichsam seine lustvolle Unerlöstheit nennen können.
Die gedankliche Umkehr, die Umkehr des philosophischen Sinns hat eine Analogie in dem, was das Evangelium Metanoia nennt.
Die hohe Luft, in der die Erlösten atmen, nährt sie mit einer Unbekümmertheit und Heiterkeit, die sich vom Zeitlichen nicht mehr gänzlich aufzehren läßt („Laßt die Toten die Toten begraben.“ – „Seht die Vögel des Himmels …“).
Die Beruhigung, die uns zuteilwird, wenn wir vom unseligen Verlangen, das Geheimnis des Lebens zu ergründen, ablassen.
Sätze, die sich gleichsam selber tragen, wie die Verse großer Dichtung. – Von ihrer eigenen Aura ins Schweben gebrachte Ikone.
„Können Sie das beweisen (begründen, ableiten)?“ – so stürmt der Theoretiker alter Schule auf den von der Begründungsobsession kurierten Schüler Wittgensteins ein.
In der Sonntagspredigt für philosophische Konvertiten heißt es: Alles ist da, alles ist sichtbar, alles ist vernehmbar, für den, der Augen hat zu sehen, Ohren hat zu hören.
Nur der Stumpfsinn sieht sich genötigt, auf einen Fortschritt des Denkens zu setzen.
Nur Frauen gebären Kinder, nur Männer zeugen sie, keine Gender-Chimären. – Der Mißbrauch der Worte, der philosophische und der ideologische, schüttet Gift in die klare Quelle unserer sprachlichen Gewißheiten.
Der Zweifel am Sinn des alltäglichen Sprachgebrauchs, der sich von Descartes an wie eine Erbkrankheit bis zu den deutschen Idealisten und ihren zeitgenössischen Nachfolgern ausgebreitet hat, kann nur durch eine radikale gedankliche Umkehr gebrochen werden.
Wir bedürfen keiner wissenschaftlichen Bestätigung und Rechtfertigung unseres alltäglichen Sprachgebrauchs. – Mag die Erde um die Sonne kreisen, unsere Rede vom Sonnenuntergang wird dadurch nicht angefochten. Die poetische Imagination von unserer Herkunft aus dem Garten Eden wird durch erdgeschichtliche und evolutionsbiologische Forschung nicht widerlegt.
Der Sinn der Worte wird dunstig, verschwommen, leer, wenn wir sie vom Nährboden ablösen, aus dem sie ihre Lebensstoffe saugen, ähnlich der in fremde Erde verpflanzten Blume; der Sinn des Begriffs „Liebe“ wird pervertiert, wenn wir ihn vom Nährboden mütterlicher Hingabe und väterlicher Fürsorge ablösen.
Aus welcher Angst erwächst die zwanghafte Suche des Philosophen nach Sätzen, die eine absolute Gewißheit ausdrücken sollen? – Angst des Kindes, das sich in einem hohen Baumwipfel verstiegen hat und am letzten Zweig sich festklammernd erstarrt.
„Dies ist meine Hand!“, ein Satz, den der Philosoph Moore als Ausdruck absoluter Gewißheit verkündete. Aber im Gewühl des Spiels, bei dem Kinder ihre Hände aufeinanderklatschen, kann eines zurecht ausrufen. „Das ist nicht meine Hand!“
Fichte wähnte die Bedeutung von „Ich“, aus allen alltäglichen Umgebungen abgetrennt, als absoluten Nullpunkt philosophischer Gewißheit fixieren zu können; aber was ist fluider, fließender, gleitender als der Gebrauch des Pronomens der ersten Person: „Hab ich das gesagt? Da war ich noch ein anderer Mensch.“ – „Ich kann meinen Gefühlen nicht mehr trauen.“ – „Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,/Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:/Daß alles gleitet und vorüberrinnt./Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,/Herüberglitt aus einem kleinen Kind/Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.“
Der Zuckerstein der absoluten Gewißheit des Fichteschen Ich löst sich im Tee der Alltagsrede auf, den er versüßen mag, aber den Kenner ungesüßt zu sich zu nehmen pflegen.
All die abgetrennten, anämischen, atemlosen Worte, von denen die Phrase des Ideologen zeugt: „Gerechtigkeit“, „Gleichheit“, „Freiheit“, „Fortschritt“, „Zukunft“.
Die Lebensmächte, die jene köstlichen Früchte reifen lassen, nach denen wir langen, entziehen sich unserer Verfügungsmacht.
Der Liebesscheue dichtet die große Liebe der Dido, der Stammler die große Rede der Gottheit.
Wir suchen Antworten auf Fragen, die keine Antwort zulassen oder keiner Antwort bedürfen.
Die Suche aufgeben heißt anzukommen.
Die Welt, das Leben sind, wie sie sind. Dies ist ein ebenso profaner wie esoterischer, ein ebenso trivialer wie mystischer Satz.
Die Scheibe der Bedeutung war infolge metaphysischen Nebels beschlagen; wir rätselten über die Dinge, die sich dahinter nur undeutlich und verschwommen zeigten. Dann wird sie von der Hand einer nüchternen Reinigungskraft abgewischt, und wir sehen klar.
Einer geht scheinbar zielgerichtet und schnurstracks vorwärts. Dann reißt ihn etwas um und zurück, ein Gedanke, eine Erinnerung. Er dreht sich um und setzt den Gang in umgekehrter Richtung fort, in der Richtung, aus der er gekommen ist.
Die Umwendung mutet wie eine Verwirrung an; in der Rede wie ein plötzliches Stottern oder Verstummen.
Hat einer vergessen, was er tun wollte, tut er etwas anderes; ohne etwas zu vermissen.
Das Verschwinden der Neurose ist wie die Umkehr des gedanklichen Systems. Als würde es um seine Achse gedreht.
Der von seiner Verwirrung Geheilte sieht, was er sieht, fühlt, was er fühlt, sagt, was er sagt, ohne es wie zuvor im Zustand gnadenloser Anfechtung prinzipiell in Frage zu stellen. – Natürlich wird er zugeben, daß er sich irrte, als er vermeinte. eine Fichte zu sehen, obwohl es sich um eine Tanne handelte. Doch er wird seiner Wahrnehmungsfähigkeit nicht mehr grundsätzlich mißtrauen, gleichgültig, ob es sich um eine reale oder photographierte Fichte oder Tanne handelt.
Es geht nicht darum, seine Meinung im Lichte dieser oder jener Theorie (oder Ideologie) zu bilden oder zu ändern; es geht darum, ohne vorgefaßte Meinungen und Theorien auszukommen.
Die therapeutische Wahrheit der pyrrhonischen Skepsis. Nicht ihre metaphysische Wahrheit.
Wir können nicht sagen, der Zufall sei uns Notwendigkeit oder Schicksal genug – nicht sagen, wir hätten einen anderen Mann zum Vater, eine andere Frau zur Mutter haben können; denn in diesem Falle wären wir nicht, der wir sind.
Die Umkehr der Denkrichtung befreit uns von allzu hohen, übertriebenen Erwartungen, sie ernüchtert, doch zu einer Nüchternheit, die der Dichter heilig nennt.
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