Die übers Knie gelegte Muse
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Dum vitant stulti vitia, in contraria currunt. Horaz
Allzu Rührselige, die stets grämlich blicken.
Eitelkeit der moralisch Empörten, die ihre schwülstigen Phrasen jederzeit ins richtige Mikrophon kreischen.
Der buntfiedrige, krächzende Ara, der sich freiwillig in den Käfig der Vernunft einschließen ließ; freilich, der stets nachgefüllte Futternapf ist dem Sklaven lieber als das gefahrvolle Dasein des Freien in der Wildnis der Phantasie.
Der von gewalttätigen Impulsen Bedrängte, der schüchtern tut.
Die stinkende Seele, die sich mit Eau de Cologne besprengt.
Unglückliche, die andere auf tyrannische Weise zu ihrem Glück zwingen wollen.
Perverse, die das Reden über Normalität verbieten wollen.
Radikale Skepsis bürdet dem Packesel des Alltagsverstands eine solche Last an gewichtigen Kriterien sicheren Wissens auf, daß er darunter zusammenbricht.
Wir wissen, was wir fühlen, wünschen, hoffen oder befürchten, auch wenn der Gegenstand unseres Fühlens, Wünschens, Hoffens und Fürchtens manchmal vage, ja unbestimmt sein mag.
Können wir das Unmögliche wünschen, wie wir wider alle Hoffnung zu hoffen wagen?
In der unendlichen reflexiven Schleife verdunstet das Wissen des Wissens.
Allen das Recht auf ungehemmte Selbstverwirklichung zubilligen verunstaltet den Rest an Kultur zu einer abschreckenden Freakshow.
Bei der Gretchenfrage hüllt sich der anständige Philosoph in Schweigen.
Geistreich schreiben wie Horaz heißt einen ernsten Sinn in das leichtgeschürzte Gewand einer Sentenz stecken.
Gelehrt tuende Frauen vergällen den Eros, gebildete würzen ihn.
Sapere aude; aber der Angesprochene versteht kein Latein.
Kultur und Ethnos: dorische, ionische, korinthische Säule.
Was im Vers des Dandys wie eine glänzende Locke sich bauscht, ist nur ein künstliches Haarteil.
Die goldene Laute Apolls, die silberne Flöte des Pan; das Geheul der elektrischen Gitarre und das Quäken des Saxophons.
Die Haut der griechischen Schönheit ist Milch und Schnee, ihre wallende Locke vom Gold homerischer Sonne. Sie beliebt zu schweigen, auf daß sich die Lippe nicht kräuselt. Nur aufgeklärte Narren wollen mit ihr diskutieren.
Was einzig Atem hat und Leben, das Konkrete, wir sehen, wie es am Strick des Allgemeinen baumelt, wie es ans Kreuz des Abstrakten genagelt wird. – So hat schon Sokrates die Muse übers Knie gelegt, um aus ihr, mag sie winseln, mag sie schreien, eine allgemeingültige Definition des Schönen herauszuschinden.
Tourismus oder die Schändung und Entweihung alter Kulturdenkmäler durch stumpfe Blicke und blinde Linsen.
Der Niedergang der Malerei beginnt mit dem Bau des ersten Museums.
Erst die stählernen Muskeln des Krieges, dann der Schmerbauch des Kleinbürgers und schließlich die in einen grotesken Fummel gehüllte Schlaffheit des nonbinären Menschen.
An den löchrigen Krakelversen der Epigonen feiert man die neuen Ideale der Unentschlossenheit, Vagheit und Verzagtheit.
Die klassischen Meister wie Horaz, Vergil oder Goethe waren ihrer Sache sicher, weil sie das Boot der Sprache auch im hohen Wellengang trug.
Angesichts der fernen Schönheit der höfischen Dame hat der Verehrer seine Wildheit und Ungebärdigkeit gezähmt, das heißt, das wehende Gewand des Minnesangs in strenge Falten gehüllt.
Vulgarität will sich zeigen, zuerst maskiert oder geschminkt, dann, je häßlicher, verfallener, monströser sie im Lauf der Jahre wird, nackt.
Einsamkeit, ist sie ein Stigma der elenden, der abstoßenden Kreatur, verachten sie; mehr noch die Einsamkeit des Erwählten, der den blauen Enzian des Gipfelschnees dem Tulpenheer der Niederungen vorzieht.
Welch ein Verlust, kündet mit geschwollener Brust die Dummheit, hätte Max Brod den letzten Willen seines Freundes Kafka, seinen Nachlaß zu vernichten, nicht mißachtet. – Aber an dem, was nie ans Licht gekommen, was nie ins Bewußtsein gedrungen ist, läßt kein Verlust sich ermessen.
Man kann sagen: Wäre Mozart nicht so früh gestorben, welche erstaunlichen Werke hätte er noch hervorbringen können. Nicht aber: Wäre Mozart im Säuglingsalter gestorben, welchen Verlust an heiter-tiefsinnigen Werken hätte die Menschheit zu beklagen.
Kafka hielt die Werke, die er verbrannt wissen wollte, für unvollendet. Doch daß Vollendung ein ästhetisch-ethisches Kriterium gelungener Kunstwerke sei, gilt jenen, die das Gekritzel des Schmierenjournalisten und die Ode Hölderlins unter den Oberbegriff des Textes rubrizieren, für abwegig, skandalös, anstößig.
Das Genie wird bald von den Pädagogen und amtlich bestallten Sittenwächtern, die Hochbegabung für einen Angriff auf die Gemütlichkeit halten, wie jene monströsen Kreaturen der Kolonien in Sonderausstellungen vorgeführt, wo man sich an ihren unziemlichen Gebärden und unverständlichen Lautäußerungen delektiert hat.
Der Verfall der lyrischen Diktion: Man dünkt sich erhaben über die rhythmische Ordnung des Verses, die an den natürlichen Puls des menschlichen Herzens gebunden ist. Und jedwede Rede von Bindung, und Poesie ist im Gegensatz zur Prosa gebundene Sprache, wird von der Menge der Dilettanten, der schüchtern tuenden Zerstörer und der Wegelagerer der hastigen Impression als Maulkorb und Korsett perhorresziert.
Alle verachten den Reim; doch Eros ist es, der ihn erfand, der ihn behaucht.
Die Vorstellung, nicht geboren zu sein oder daß die Welt nicht existiere, ist absurd.
Vulgärsoziologie oder das Ende der Interpretation literarischer Werke.
Wie es philosophische Scheinprobleme gibt, so auch poetologische; ja, sie scheinen miteinander verwandt.
Die Grammatik des Wortes „schreiben“ ist nur scheinbar analog, in Wahrheit gänzlich verschieden, je nachdem, ob wir vom Schreiben eines Gedichts und Romans oder vom Schreiben eines Briefes und einer Bewerbung reden.
Der Sinn des Gedichts ist nicht die Absicht, die sein Verfasser damit verband. – Der Sinn der Bucolica des Vergil ist nur indirekt verknüpft mit der Absicht des Lateiners, den Griechen Theokrit nachzuahmen und zu übertreffen.
Der imaginäre Duft der imaginären Himmelsrose Dantes.
Wir können fragen, wie lange jemand auf den verspäteten Zug gewartet hat; nicht aber, wie lange Wladimir und Estragon auf Godot gewartet haben.
Wanderers Nachtlied ist kurz, aber hallt lange nach.
Wir sind besorgt, bekümmert, erschüttert, wenn ein Angehöriger, ein Freund, ein geliebter Mensch durch schwere Zeiten geht; aber nicht, wenn wir in Kafkas Roman lesen, daß die Familie des Boten Barnabas aufgrund der Abweisung des schamlosen Antrags des Schloßbeamten durch seine Schwester Amalia in Bedrängnis geraten ist. Nicht, weil uns das Schicksal der Figuren gleichgültig wäre, sondern weil sie keine realen in unseren Lebenskreis verwobene Personen sind, sondern gleichsam losgelöste Schatten im Schattenspiel der literarischen Zeichen.
Die immer mehr sich verdüsternden elegischen Briefe des Freundes haben uns bewogen, ihn aufzusuchen und nach dem rechten zu sehen. Die fiktiven Briefe Werthers oder Hyperions bewirken nichts dergleichen, auch wenn sie uns keineswegs gleichgültig lassen.
Kinder lernen die Bedeutung des Wortes „Blume“, wenn sie Primeln und Butterblumen auf der Wiese gepflückt, Sonnenblumen gemalt oder Blüten in ihr Poesiealbum gepreßt haben. Als Erwachsene lesen sie vielleicht die Rosengedichte von Rilke; und wissen dann, was gemeint ist, auch wenn imaginäre Blumen nicht blühen, duften oder welken.
Der Glaube an die schattenhafte Weiterexistenz eines Menschen nach dem Tod rührt auch daher, daß wir die vage Gestalt des Verstorbenen gleichsam unter Anrufung seines Namens in der Erinnerung heraufbeschwören.
Erst erscheint uns die Erinnerung wie ein Schatten der vergangenen Ereignisse; dann der Name wie der Schatten seines Trägers; schließlich, wie Wittgenstein in den subtilen grammatischen Analysen im Blauen Buch aufgezeigt hat, das Wort als Schatten des Gegenstandes und der Satz als Schatten der Tatsache. Indes können wir uns von Verirrungen dieser Art lösen, wenn wir, wie Wittgenstein ebenfalls klarmacht, einsehen, daß die Tiefengrammatik der hier relevanten psychologischen Prädikate nur scheinbar analog ist: „sich an etwas erinnern“ hat nicht die Struktur von „etwas wahrnehmen“, „etwas meinen“ nicht die Struktur von „etwas sagen“.
Ein auf seinem Fachgebiet ausgezeichneter Latinist bekennt sich coram publico zum Anflug eines peinlichen Schamgefühls bei der Lektüre der 2. Satire, in der sich Horaz unter vielen anderen Fehlhaltungen auch über effeminiertes Gebaren von Männern mokiert, die ihre Toga länger übers Knie wallen lassen, als es nach römischer Sitte den Frauen anstand. Wir diagnostizieren die Symptome einer Ansteckung mit dem Zeitgeist-Virus, der selbst Männer von überdurchschnittlicher sprachlicher Begabung – wie es scheint: wider ihren Willen – befällt.
Der Vorgang des Denkens und der Niederschrift des Gedachten gibt uns kein Kriterium zur Beurteilung des literarischen Werts und der Gültigkeit des Geschriebenen an die Hand. – Die meisten Dokumente der Ècriture automatique der Surrealisten sind gedankliche Nebel, in die dann und wann ein poetischer Blitz einschlägt, doch die rauschhafte Niederschrift der Erzählung Das Urteil durch Kafka oder (zumindest des als Eingebung erfahrenen Anfangs) der ersten Duineser Elegie durch Rilke besticht durch gedankliche Klarheit.
Eine farblose Welt, eine Schwarz-Weiß-Welt, können sich die Bewohner der Farbwelt leicht vorstellen; indes, umgekehrt könnten sich die Bewohner einer Schwarz-Weiß-Welt eine farbige niemals ausdenken. – Ersetzen wir nun den Sinn von „Schwarz-Weiß-Welt“ durch den Sinn von „nichtverbalen Gesten“ und den Sinn von „Farbwelt“ durch den Sinn von „Sprache“.
Wie es keinen Übergang gibt zwischen der Grisaille-Malerei zum farbigen Gemälde, so keinen Übergang von der nichtverbalen Verständigung mittels Gesten zur sprachlichen Verständigung.
Wenn wir die Entstehung der verbalen Sprache als einen Teil der natürlichen Evolution betrachten, müßten wir folgerichtig den Satz „Natura non facit saltus“ bestreiten.
Wer überlegene literarische Vorbilder nachzuahmen, angesichts ihrer originell zu sein versucht, gleitet bald ins Abstruse, Übertriebene, Verrenkte und Monströse ab.
Der Götze der Gleichheit und Vernunft trieft vom Blut des hingerichteten letzten französischen Königs.
Die Hinrichtung Ludwigs XVI. war der Abbruch einer sakralen Linie, die in der Taufe Chlodwigs anhebt.
Der sakrale Leib des Königs war ein exterritorialer Körper, der Nullpunkt in der Gaußschen Ebene komplexer symbolischer Zeichen.
Comments are closed.