Die Trinität der Evidenzen
Ein Gedicht ohne leise Ironie ist wie ein Handschlag ohne Lächeln.
Die Ironie schwebt über dem Gedicht wie ein letzter Lampion, der über dem verlassenen Festsaal glimmt.
Die Mitteilung, die uns im und mit einem Gedicht erreicht, ist nicht nur der Inhalt des Gedichts, sondern auch die Tatsache, daß es sich um ein Gedicht handelt. Dies können wir die Selbstmitteilung des Gedichts nennen.
Wenn in einer Übersetzung der ersten Ode im vierten Buch der Carmina des Horaz, in dem das Ich des Gedichts oder das gedichtete Ich die Göttin Venus bittet, es mit weiteren Liebesaffären und Liebesqualen zu verschonen, die Aufforderung „schleich dich“ oder der Name „Maxim Paule“ auftauchen, spätestens dann, oder wenn das Dichter-Ich die Göttin der Liebe auffordert, es bei eben jenem Maxim Paule (der in Wahrheit Maximus Paullus hieß und ein angesehener römischer Konsul im Kreis des Augustus war) zu versuchen, aber allerspätestens, wenn das gedichtete Ich Venus vor Augen stellt, daß dieser heißblütige Verehrer ihrer Gottheit ihr das Bildnis ihres Hintern in einem Hain am Albanersee aufstellen lassen und daselbst kultisch verehren wird, spätestens dann geht dem Leser ein Licht auf, daß es sich bei dieser scheinbaren Übersetzung in Wirklichkeit um eine Parodie handelt. Die Parodie partizipiert demnach wohl an der Evidenz der Selbstmitteilung des Gedichts, ihr spezifisches Sprachspiel ist allerdings nicht unmittelbar evident.
Wer durch Versanordnung suggeriert, hier handele es sich um ein Gedicht, dann aber Tagebuchnotizen gedichtförmig umbricht, hintergeht die Selbstmitteilung des Gedichts.
Wenn du mich fragst, ob wir uns morgen im Park treffen, geht mich nicht nur der Inhalt der Frage an, sondern in erster Linie die Tatsache, daß es sich um eine Frage handelt. Du mußt mich, auch wenn ich ein wenig begriffsstutzig bin, nicht mit der expliziten Frageform langweilen, indem du sagst: „Ich frage dich, ob wir uns morgen im Park treffen“, denn ich habe am Tonfall und der grammatischen Form deiner Aussage den Sprechakt der Frage erkannt.
Wir sagen: Sprechakte sind Formen der Selbstmitteilung der Rede.
Wer sich oder andere etwas fragt, muß ein wenig über dem Rasen der bereits gegebenen Antworten schweben.
Du mußt allererst erkunden, inwiefern der Rasen aus dem Boden epistemischer Voraussetzungen sprießt.
Überflüssige Antworten auf müßige Fragen erkennst du daran, daß sie in der Rede das sind, was Füllwörter im Satz.
Letzte epistemische Voraussetzungen sind unverzichtbare oder notwendig zu postulierende Evidenzen. Nennen wir sie sedimentäre oder primordiale Evidenzen. Sie tauchen im Meer der Ungewißheiten wie Bojen auf – zwar werden auch sie vom Rhythmus der Wellen bewegt, doch sind sie festgezurrt und in der Tiefe verankert und verbleiben ungefähr an Ort und Stelle (freilich können sie manchmal von einem Sturm fortgerissen werden).
Eine erste primordiale Evidenz ist gleichsam die Hohlform deiner Rede: du selbst.
Du kannst mir nicht versprechen, dich morgen mit mir im Park zu treffen, wenn du nicht meinst, daß der, der das Versprechen äußert, mit dem identisch ist, von dem es handelt.
Der Sprechakt des Versprechens setzt wie alle Sprechakte die primordiale Evidenz der Person oder des Selbst dessen voraus, der ihn äußert.
Würdest du während deiner Rede wie eine Boje vom Sturm aus dem Sinnkontinuum weggerissen, ginge das von dir Gesagte gleichsam augenblicks unter und deine Äußerung verlöre jegliche Bedeutung.
Die zweite primordiale oder notwendige Evidenz ist das, was du mit deiner Rede meinst. Das experimentum crucis der Wahrheit dieser Behauptung ist der zum Scheitern verurteilte Versuch, etwas zu sagen, was du nicht meinst – es sei denn, du sprichst ironisch, aber dann meinst du genau das, nämlich etwas zu sagen, was du nicht (wörtlich) meinst.
Wenn du versprichst, mich morgen im Park zu treffen, meinst damit aber nicht, daß du dich morgen mit mir treffen willst, würdest du bekunden, daß dir die Fähigkeit, dich sprachlich mitzuteilen, abhanden gekommen ist. Die Evidenz der sprachlichen Bedeutung ist nichts anderes als das offenbare Geheimnis, das wir durch das Erlernen der natürlichen Sprache erkunden. Diese Form der Evidenz ist demnach das Ergebnis einer Technik oder eines Könnens, nämlich zu sprechen.
Die dritte notwendige Evidenz ist all das, was du mit deiner Aussage, wie deinem Versprechen, unausgesprochen mitsagst oder implizierst: nach hinten gleichsam all das, was deine Rede logisch, epistemisch und ontologisch voraussetzt, nach vorn gleichsam all das, was aus deiner Rede logisch, epistemisch und ontologisch folgt.
Wenn du mir versprichst, mich morgen im Park zu treffen, setzt dies voraus, daß du weißt, was ein Versprechen im Gegensatz zu einer Frage, einer Behauptung oder Aufforderung darstellt. Du wirst aus deinem Versprechen die logisch und epistemisch korrekte Konsequenz ableiten, dich morgen nicht um dieselbe Zeit mit deiner Mutter verabreden zu können, denn tätest du dies, würdest du damit deine Unkenntnis über die epistemischen und ontologischen Voraussetzungen der Existenz von Gegenständen in der Raum-Zeit offenbaren. Die Annahme der Kontinuität und Identität von Gegenständen in der Raum-Zeit ist eine der evidenten epistemischen und ontologischen Implikationen unserer Rede.
Unsere Rede oder die Summe all unserer Sprechakte wie Behaupten, Fragen und Auffordern fußt demnach auf einer Trinität von Evidenzen: der Existenz und dem Selbstbewußtsein der Person, die spricht, dem Sinn des Gesagten oder dem Sprachsinn und den logischen, epistemische und ontologischen Implikationen unserer Äußerungen.
Natürlich sind wir durch das meist unterschwellige Wirken dieser Evidenzen nicht und nicht dauerhaft vor Irrtümern gefeit. Relativ irrtumsresistent sind die Evidenzen des Bewußtseins und des Sprachsinns, es sei denn, krankhafte Bewußtseinstrübungen und Erkrankungen des Sprachvermögens wie beim Ausbruch einer Psychose suchen uns heim. Dagegen ist das Netz unserer Implikationen an den Rändern oft dünnfaserig, allzu weitmaschig oder zerrissen, weshalb wir nur die logisch korrekt analysierbaren Implikationen als echte Evidenzen auffassen können. Der Rest verliert sich im Vagen oder Obskuren.
Wenn du glaubst, aus der Tatsache, daß ich dein Versprechen, uns morgen im Park zu treffen, bereitwillig angenommen habe, folgern zu können, daß wir zukünftig in unverbrüchlicher Freundschaft verbunden sein werden, steht deine Schlußfolgerung auf wackligen Beinen. Wenn du aus der ontologisch evidenten Implikation, daß der Park, in dem du mich morgen zu treffen versprochen hast, an Ort und Stelle auffindbar sein wird, folgerst, dies werde auch in hundert Jahren noch der Fall sein, ist deine Schlußfolgerung von einem Irrtum wahrscheinlich nicht weit entfernt.
Jede Rede ist ein Teil einer Wechselrede, auch der Vortrag, denn er richtet sich an reale Hörer, oder der innere Monolog, denn er richtet sich an imaginäre Hörer. Wenn wir sprechen, gleiten wir gleichsam wie Skifahrer den Hang unseres Gesprächs hinab: Wenn alles gutgeht, laufen wir streckenweise parallel zusammen und erlauben uns sogar den Spaß, unsere Bahnen elegant zu kreuzen; wenn es schiefläuft, stürze ich über einen vom Neuschnee verdeckten Holzscheit oder wir prallen unglücklich zusammen.
Wenn wir uns sprachlich verständigen, spielen wir uns gegenseitig die Existenz und Wirksamkeit der unsere Wechselrede tragenden Evidenzen zu und gleiten über das Netzwerk unserer logischen, epistemischen und ontologischen Implikationen. Es ist mir evident, daß du von dir sprichst, wenn du mir versprichst, mich morgen im Park zu treffen, wie dir evident ist, daß ich von mir rede, wenn ich dein Versprechen annehme. Wir müssen uns nicht umständlich darüber verständigen, was wir mit „Park“ oder „uns treffen“ meinen, denn die Bedeutung dieser Ausdrücke ist uns dank unseres Sprachvermögens und unseres hellen Sprachsinns evident.
In der gleichen Weise ist dir evident, daß mit mir behaglich zu plaudern oder uns Witze zu erzählen, ein anderes Sprachspiel darstellt als das, was du spielst, wenn du mir zusagst, mich morgen im Park zu treffen. Denn plaudern ist unverbindlich und etwas versprechen verbindlich. Hier handelt es sich, wie gesagt, um die Evidenz der Selbstmitteilung unserer Sprechakte, die ein Teil der Evidenzen darstellt, mit denen uns unser sprachliches Können ausstattet.
Wenn dir der Name unseres gemeinsamen Bekannten, den wir bei unserem letzten Ausflug im Park getroffen haben, nicht einfällt, und mir geht es ebenso, können wir uns so behelfen, daß du auf die Person mit dem Hinweis anspielst: „derjenige, den wir bei unserem letzten Spaziergang im Park getroffen haben“. Wenn wir beide wissen, daß diese Person mit Helga verheiratet ist, können wir unsere Bezugnahme auf den Mann dadurch absichern, daß wir sagen: „der Mann von Helga“.
Wenn wir wissen, daß Person A in einer (hierzulande immerhin noch) singulären Relation R zu Person B steht, weil beide miteinander verheiratet sind, können wir statt A jeweils einsetzen: „derjenige, der in Relation R zu B steht“ und für B, „diejenige, die in Relation R zu A steht“.
Wir gebrauchen ein logisches Muster, um mittels wechselseitiger oder symmetrischer Implikation unsere epistemische Lücke zu schließen, nämlich unser Unvermögen, uns mittels Eigennamen auf eine reale Person zu beziehen. Dabei setzen wir die Wirklichkeit und Existenz der Person, über die wir reden und auf deren eindeutige Bezugnahme wir uns verständigen konnten, voraus. Das ist unsere ontologische Implikation.
Du könntest natürlich zweifeln, ob unser Mann tatsächlich mit Helga verheiratet ist. Dann wären wir aufgeschmissen, denn ob wir von derselben Person sprechen, die dir und mir vorschwebt, wenn wir uns darauf besinnen, sie bei unserem letzten Spaziergang im Park getroffen zu haben, können wir in diesem Fall mit letzter Gewißheit nicht feststellen.
Wir sehen, inwiefern die Bezugnahme auf einen Gegenstand nicht in jedem Fall mittels Aufweis von evidenten Wahrheiten hergestellt werden kann. Doch wenn wir uns darauf festlegen, daß Herr X mit Helga verheiratet ist, gewinnen wir gleichsam ein Axiom, aus dem wir neue Evidenzen ableiten können, denn dann wissen wir auch, daß Helga mit Herrn X verheiratet ist, und daß die Aussage, Herr X sei mit Olga verheiratet, falsch ist.
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