Die Taube des Heraklit
Sie ist so schmal,
sie schlüpft durch den Spalt
zwischen Rose und Wahn,
ihr Herz schlägt so vag,
ein Kuss –
sie entfliegt,
ein Flaum weist die Bahn.
*
Ruhig hockt die Taube auf dem hohen Kamin –
seelenruhig könntest du sagen,
wärst du nur Dichter und kein Philosoph.
Hier unten auf der Straße fällt ein Tor
bei der WM in Brasilien,
die FAN-Meute beim Public Viewing schraubt
wie aus einer Kehle die Stimme
in hyperbolischer Kurve hoch und heult auf.
Die Taube da oben auf dem Kaminsims
über dem vierten Stock bleibt ruhig:
Sie hört und sie hört nicht,
sie hört den Lärm der Stimmen,
aber sie hört keine Stimmen,
sie hört den Lärm der Hupen,
aber sie hört keine Hupen,
sie sieht das Wehen von Flaggen,
aber sie sieht keine Flaggen,
sie blickt auf das Wehen von Haaren,
aber sie erblickt keine Menschen.
Sie hört und sie hört nicht.
Der Entsetzensschrei der Meute,
der auf dem Gipfel rückwärts in ein Mauseloch
der Enttäuschung hinabgurgelt,
ist ihr dem monotonen Schaben gleich,
das in ein sprühendes Schrillen umschlägt,
wenn der Schreiner den Balken unter die Kreissäge schiebt,
oder gleich dem Schluchzen ihrer Schwester,
der Nachtigall,
mit dem sie den Mondstrahl erstickt.
Nur wenn das Gurren trostlosen Turtelns sie umfängt,
weiß sie sich am weg- und heimatlosen Ort ihres Daseins.
Die Taube da oben auf dem Kamin
dreht sich und schmiegt ihren Kopf unter den Flügel,
als versänke sie in eine Welt, verborgener, ferner
als was uns den Tag trennt vom Traum.
Sie weiß nicht um die Welt des Fußballs,
die Welt der Spiele unter Menschen kennt sie nicht,
sie weiß nicht, was Siegen heißt und Verlieren,
ohne dass einem ein Nest vom Himmel fiele
oder eines ein Federchen ließe –
sie weiß so wenig vom Spiel mit dem Ball oder dem Würfel,
dass zu sagen, sie wisse nicht, was ein Tor ist oder ein Pasch,
gleichzeitig zu viel und zu wenig gesagt wäre:
Und dies gilt für alles, was wir sehen und benennen,
wir sehen und sagen „Menschen“, „Bierflaschen“, „Rosen“ und „Tauben“,
sie sieht weder Menschen noch Bierflaschen oder Rosen –
geschweige denn Tauben.
Sie schwebt über den Dächern und Häusern
und weiß nichts von Dächern und Häusern
und von denen, die darin wohnen.
Sie fliegt über Dörfer, Gärten, Länder, Kontinente
und weiß nichts von Sprachen, Nationen und Grenzen.
Wäre sie ein Wesen, frei zu benennen, was es sieht,
und frei zu tun, was es will,
wäre sie weggeflogen oder auch nicht,
wenn ein Sturm oder ein Warnschrei sie gehindert hätte.
Diesseits von Absicht, Wille und Freiheit,
flatternd in der Welt schieren Scheins,
wäre es von ihr zu viel oder zu wenig zu sagen,
sie könne nicht einmal daran gehindert werden,
zu tun, was sie will,
oder zu lassen, was sie nicht will.
Ein vollkommenes Tier lebt die Taube
in einer Welt ohne Bedeutung,
ohne Absicht, ohne Glück oder Unglück,
ohne Erwartung oder Reue:
Kommt ihr Täuberich, flattert sie auf,
ohne die Freude der nicht eingetretenen Befürchtung,
ohne die Freude der erfüllten Erwartung,
er ist einfach wieder da, ohne weiteres:
Das bestätigt nichts,
daraus folgt nichts.
Sie kann nichts erwarten, nichts erhoffen,
nichts beneiden, nichts bereuen.
Sie kann nicht erwarten, dass ihr Täuberich
gleich mit einem Zweig im Schnabel zurückkehrt,
das Nest auszubauen.
Sie kann nicht erhoffen, zwei Eier zu legen
oder ihre Brut in zwei Wochen aus dem Kropf zu tränken.
Sie kann nicht die Nachbarin beneiden,
die zwei Eier im Gelege hat, sie aber nur eines.
Sie kann nicht bereuen,
das falsche Männchen ausgesucht zu haben,
eine Taube oder überhaupt ein Tier und kein Mensch zu sein.
Hier unten im Bistro vor dem LED-Schirm ist es ruhig,
es ist eine gebannte Ruhe,
als wäre die Luft schwanger
von gieriger, heißer, feuchter Aufmerksamkeit,
die sich bei jedem Flackern auf dem Screen in ein Zischen,
ein Kreischen, ein Muhen entladen kann –
auch dort oben ist es ruhig,
aber dieser Ruhe fehlen die Ufer der Hybris und der Angst,
zwischen denen sie auf- und niederschwappen könnte –
es ist die Ruhe der verfallenen Gärten entstiegenen Luft,
die manchmal wie ein Seufzer
den weichen Flaum der Vogelseele bauscht.
Jetzt ist sie weggeflogen.
Aber ist sie weggeflogen?
Es ist mit ihr weggeflogen,
könntest du überschwänglich sagen,
wärst du nur Dichter und kein Philosoph.
Vom Teich kennt sie nur die Tiefe des eingetunkten Schnabels,
von der Sonne die trockene Feder,
vom Schnee die Flocken des Schlafs.
Von der Haut und dem Flügel der sichtbaren Dinge
kennt sie nur den flüchtigen Schimmer,
die blendende Helle
und das plötzlich flügelnde Dunkel.
Die Taube flog übers Dach,
sie lebt nicht in unserer Welt,
sie lebt in keiner Welt,
in niemandes Welt lebt sie.