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Die Pflicht zur Konvention

03.01.2014

Wenn du dich nach dem Befinden eines Menschen erkundigst, der dir nahesteht und der kürzlich einen kleinen Unfall erlitten hatte (nichts Dramatisches, aber schmerzhaft durchaus), handelst du aus dem Beweggrund echter Anteilnahme und Besorgnis, indem du deine Gefühle oder Gestimmtheiten hinsichtlich der Lage des Betroffenen mittels angemessen gefühlvoller sprachlicher Ausdrücke und Wendungen dieser Person in einer E-Mail mitteilst.

Zugleich erfüllst du mit dieser Handlung eine Konvention, die besagt: „Drücke einem dir nahestehenden Menschen, der von einem Missgeschick, Unfall oder Unglück betroffen ist, durch geeignete Mittel deine Anteilnahme aus.“

Wir nennen dies die Konvention A, kurz KA, und untersuchen die Bedingungen, die sie erfüllen muss, um erfolgreich angewandt zu werden oder schlicht zu gelingen.

KA besagt, du sollst in dem bewussten Falle deine Anteilnahme zum Ausdruck bringen, Intensität und Art und Weise der Anteilnahme werden nicht spezifiziert. Auch wenn du keine tief gefühlte, echte Anteilnahme und Besorgnis für die betroffene Person, die dir nahesteht, empfinden solltest (du magst dies abstreiten: wir prüfen dich auf Herz und Nieren oder scannen dein Gehirn und finden es heraus), vielleicht weil der Mensch dir neulich krumm kam oder du ihm zurzeit ein ungehöriges Verhalten und eine Missachtung deiner Person nicht nachsehen kannst, fühlst du dich dennoch gehalten und genötigt, ihm deine Anteilnahme zu bezeugen, indem du ihm eine E-Mail mit gefühlvollen Ausdrücken deiner Besorgnis zukommen lässt. Mit dieser Handlung erfüllst du die Pflicht zur Konvention.

Auch über die Art und Weise, wie du deine Anteilnahme für den Mitmenschen zum Ausdruck bringen magst, ist in der Definition zu KA nichts Bestimmtes ausgesagt. Die Auswahl obliegt deiner Urteilskraft, die das Nötige vom Überflüssigen, das Angemessene vom Übertriebenen oder Unzureichenden zu differenzieren wissen sollte. Manchmal genügt in minder schweren Fällen ein lieber Gruß, ein freundliches Winken, ein herzhaftes Anklopfen. Manchmal sind verbindlichere Maßnahmen erfordert, dann solltest du einen Krankenbesuch machen und nicht mit leeren Händen aufkreuzen. Und manchmal solltest du bei akuten Unfällen sogleich Erste Hilfe leisten oder den Notdienst verständigen. Eine subtile Art der Anteilnahme besteht in der Hilfe oder besser dem Anstoß zur Selbsthilfe, wenn der Betroffene den letzten Kick braucht, um aus seiner vielleicht selbstverschuldeten Lethargie und Lebensbetäubung aufzuwachen und die Sorge für das eigene Wohl und Wehe in die Hand zu nehmen.

Die Bedingung, die erfüllt sein muss, damit KA gelingt, umfasst nicht den spezifischen Inhalt der Gefühle oder Gestimmtheiten, die dich bewegen, KA zu vollziehen. Wenn dies nicht der Fall ist, kann es nicht richtig sein, dir in dem Falle, dass du gleichgültige oder gar feindselige Gefühle gegen die betroffene Person hegst, zu unterstellen, dein Verhalten sei geheuchelt oder verlogen. Dies träfe nur zu, wenn die Bedingung das schwer zu bestimmende und kaum zu ermessende Kriterium der Echtheit, Authentizität und Intensität deiner Gefühle mit umfasste. Dies ist laut Definition nicht der Fall. Es ist also nicht nur unsinnig, sondern geradezu unrichtig, demjenigen, der der Nötigung zur Höflichkeit nachgibt, auch wenn er die Person, der er Höflichkeit bezeigt, nicht mag, Heuchelei oder Verstellung vorzuwerfen. Denn gemäß Bedingung kannst du empfinden, was immer du willst, und dennoch regelrecht KA erfüllen.

Es ist geradezu ein Kennzeichen des Gelingens von KA, wenn du trotz deines Widerstrebens und deiner Unlust deine Anteilnahme ausdrückst. Du magst in diesem Falle die verbale Kost auf ein rhetorisches Minimum reduzieren oder statt Rosen Nelken versenden und deine geringe emotionale Beteiligung mag der feinsinnige und hellhörige Psychologe aus dem Papierdeutsch und der Blutleere deiner Diktion ablesen, der Pflicht zu KA hast du dennoch Genüge getan.

Welche Instanz vermittelt KA ein solches Gewicht, einen solchen Nachdruck, dass du in Verlegenheit, Unruhe und Missbehagen gerätst, wenn du dem Verunglückten deine Anteilnahme nicht ausdrückst? Welche Form der sekundären Intention hat die Kraft, die primäre Intention, die vielleicht das Gegenteil will, auszutricksen, zu korrigieren und parasitär zu überwachsen? Der Gedanke an die Person ist dir im Moment zuwider, und dennoch nötigt dich KA, dich in positiven Wendungen an sie zu richten.

Wir werden sehen, dass wir bei Gelegenheit dieser unscheinbar anmutenden Handlung, mittels schriftlicher Mitteilung Anteilnahme an einer vom Unglück betroffenen Person zu äußeren, an der Quelle der sozialen Ordnung stehen, aus der sich Kraft und Dauer des menschlichen Zusammenlebens speisen.

Eine Geste oder Handlung zu vollziehen, die du im Augenblick des Vollzugs gern oder ungern tust und die du mit Bestimmtheit und Akkuratesse gerade dann zu tun in der Lage bist, wenn dich Unlust und inneres Widerstreben davon abzuhalten suchen – eine Geste oder Handlung, die im allgemeinsten Sinn das Wohlbefinden des Adressaten zu steigern beabsichtigt, dies ist die formale Struktur und der soziale Inhalt von KA.

Du erblickst, wie eine gebrechliche Greisin unsicher mit ihrem Stock an der Ampel steht und offensichtlich solchermaßen sehbehindert ist, dass sie nicht mehr gewärtigen kann, ob die Fußgängerampel auf Grün umgeschaltet hat. Du bietest ihr selbstverständlich Hilfe an und nimmst sie galant, aber tatkräftig unter den Arm. Du tust dies, obwohl du damit riskierst, die nächste Bahn, die dich zur Arbeit oder ins Seminar bringen soll, zu verpassen, sodass du zu spät kommen und im Büro oder im Universitätsinstitut in eine kleine Verlegenheit geraten wirst. Du wirst auf das „Danke schön“ der alten Dame antworten „Nichts zu danken, gern geschehen!“ und diese Äußerung wird wahr sein, denn du hast die Konvention A gern erfüllt.

Wir sagen, sekundäre Intentionen oder Intentionen zweiten Grades überwachsen oder überwuchern primäre Intentionen oder Intentionen ersten Grades. Primäre Intentionen beziehen Kraft und Gehalt aus dem fischreichen Teich unserer primären biologischen Bedürfnisse und Wünsche. Wenn du durstig bist, entwickelst du spontan den Wunsch, etwas zu trinken. Dieser Wunsch ist der Beweggrund oder die Absicht, eine Handlung auszuführen, deren Zweck darin besteht, deinen Durst zu löschen, indem du etwa zum Kühlschrank gehst und dir ein Wasser holst oder falls der Kühlschrank leer ist in den Supermarkt zu eilen, um dich dort mit dem Nötigen einzudecken.

Die Befriedung des Durstes lässt sich anders als andere Bedürfnisse nicht lange aufschieben, aber immerhin für die Zeitspanne, die nötig ist, die Mittelglieder des gesamten Handlungsbogens vom Durstgefühl über den Gang zum Supermarkt, die Auswahl des Getränks, den Bezahlvorgang mit EC-Karte oder Bargeld, den Heimweg und das Öffnen der Flasche und das erlösende Trinken Schritt für Schritt auszuführen und aneinanderzureihen. Wir nennen die in einer Kette kontinuierlich verschlungenen Einzelhandlungen, die eine auf der anderen sinnvoll aufbauen oder aufsitzen wie die Figuren in den russischen Puppen, Handlungskaskaden. Die zweckvolle Auswahl und Abstimmung der einzelnen Handlungsschritte aber nennen wir Handlungsrationalität oder vernünftiges Handeln. So ist es vernünftig, dich zu versichern, ob du dein Portemonnaie beziehungsweise deine EC-Karte einstecken hast, bevor du das Haus Richtung Supermarkt verlässt. Und es wäre unvernünftig, das Getränk auszuwählen und den Supermarkt zu verlassen, ohne die Ware an der Kasse zu bezahlen.

Darüber hinaus sind wir frei, zu überlegen und vernünftig abzuwägen, ob wir einen Zweck dem anderen vorziehen, ob wir demzufolge eine Handlung einer anderen zeitlich voranstellen. Wenn du ein wichtiges Gespräch mit einer Respektsperson zu absolvieren hast – vielleicht ein Vorstellungsgespräch –, wirst du dich erst waschen und etwas zu dir nehmen, bevor du pünktlich das Haus verlässt, statt ungewaschen und mit knurrendem Magen in das Gespräch zu gehen. Ja, wir sind sogar frei, abzuwägen, ob wir statt eines Zwecks A lieber einen anderen, höherwertigen Zweck B verfolgen, der uns längerfristig mehr Nutzen und Vorteil verschafft als A, wenn dieser auch kurzfristig befriedigender und lustvoller ist. Du verzichtest jetzt auf die angenehme Erfrischung im Schwimmbad, nach der es dich bei dieser Sommerhitze so sehr gelüstet, um dich für das morgige Examen vorzubereiten, dessen erfolgreiche Ablegung dir langfristige berufliche Chancen eröffnet.

Verhält es sich ebenso mit den Wünschen zweiten Grades, den sekundären Intentionen, die wir im Umkreis der Konvention A kennengelernt haben? Auch die zwecks Erfüllung der sekundären Handlungsabsicht oder Konvention A in Gang gesetzten Handlungsschritte sind kontinuierlich verkettet und sinnvoll ineinander verschlungen. Du wartest nicht viele Tage, bevor du deine Anteilnahme bekundende E-Mail verschickst, sondern lässt die angemessene Zeit verstreichen. Du vergegenwärtigst dir den persönlichen Abstand oder die persönliche Nähe, in der du zum Adressaten stehst, dazu können Verwandtschaftsgrad, emotionale Bindung, Titel und Rang, geschäftliche Beziehung oder institutionelle Abhängigkeit gehören. Gemäß diesen Kriterien wählst du aus den bereitstehenden rhetorischen Repertoires und Stilkonventionen die angemessene Ansprache aus. Es ist evident, dass auch Überlegungen und Gedankenschritte dieser Art zu den Handlungsgliedern des gesamten Handlungsbogens zur Erfüllung sekundärer Intentionen gehören.

Wenn du mir versprochen hast, das ausgeliehene Buch heute bei unserem Treffen im Café zurückzugeben, wirst du dies hoffentlich zuerst tun, bevor du mir gegenüber eine weitere Bitte äußerst, vielleicht dir noch ein Buch zu leihen oder dir mit einer Summe Geldes auszuhelfen. Ebenso könntest du einen Wunsch dem anderen, weniger auf den Nägeln brennenden Wunsch hintanstellen. Du brauchst dringend eine Summe Geldes, um mit deiner neuen Freundin ins Kino und anschließend ins Restaurant zu gehen, auch wenn du liebend gerne am kommenden Wochenende das neue Buch von Alice Munro verschlingen würdest, das ich dir natürlich gern ausgeliehen hätte. Doch du bittest mich um das Geld statt um das Buch. Was deine Präferenzen über dich aussagen, gibt Einblick in deine Persönlichkeit oder deinen Charakter.

Wir sahen, was Handlungsrationalität oder vernünftiges Handeln im Kontext der Erfüllung primärer Intentionen bedeutet: die Auswahl der dem Zweck angemessenen und der Zweckerreichung dienlichen Mittel und Methoden. Dies gilt ebenso für sekundäre Intentionen: Natürlich besinnst du dich darauf, welche Mittel angemessen sind, dein Ziel, Anteilnahme mit einem dir nahestehenden Menschen, der Pech hatte, zum Ausdruck zu bringen. Du könntest ihm Blumen oder Pralinen schicken, du könntest ihm eine Konzertkarte zukommen lassen für die Zeit, wenn er aus dem Gröbsten raus ist. Oder du sendest ihm eine E-Mail mit einer gefühlvollen Ansprache. Du wählst die elektronische Post, das verlangt den geringsten Aufwand und erzielt doch den gewünschten Effekt. Blumen oder Pralinen zu schicken wäre nicht nur aufwändiger, sondern suggerierte eine Nähe, die dir in diesem Stadium eurer Bekanntschaft vielleicht nicht erwünscht ist. Die Konzertkarte ist nicht gerade billig, der Preis steht in keinem realen Verhältnis zur Nähe eurer Beziehung. Also hast du mit der E-Mail die richtige, das heißt angemessene Wahl getroffen.

Wer sich als unfähig erweist, der Pflicht zur Konvention nachzukommen, ist kein fröhlicher Anarchist und kein steppenwölfischer Rousseauist, der sich im Alter in den kleinbürgerlichen Nudistenverein flüchtet – er definiert vielmehr einen Grenzbegriff des Humanen, wie er uns in Fällen von Persönlichkeits- und anderen psychiatrischen Störungen, aber auch bei der Demenz begegnet. Diese klinischen Fälle bezeugen den Abbau und die Zerstörung jener höherstufigen mentalen Funktionen, die uns in die Lage versetzen, sekundäre Intentionen und Wünsche zweiten Grades allererst aufzubauen und in kohärente Kontexte untereinander und in kohärente Vernetzungen mit den primären Intentionen und Wünschen ersten Grades einzubetten.

Die Tatsache, dass wir uns nahestehende Menschen auf der Straße grüßen, ist ebenso eine Konvention, wie die Arte und Weise, wie wir es tun. Wobei anzumerken ist, dass praktische oder Verhaltenskonventionen nicht in dem Maße kontingent und willkürlich sind wie sprachliche Konventionen. Dass „Bon soir!“ „Guten Abend!“ bedeutet, hat keine innere Notwendigkeit. Doch alle Formen des Grüßens und Begrüßens haben in der Geste wehrloser Annäherung ein gemeinsames Charakteristikum, das letztlich in der biologischen Natur der Spezies Homo sapiens wurzelt.

Die Grußformen sind offensichtlich kultureller Varianz und geschichtlichem Wandel mehr oder weniger stark ausgesetzt. Die Leute in Paris tauschen gern förmliche Küsse zur Begrüßung aus. Eskimos reiben sich die Nasen aneinander. Und wir sagen „Guten Tag!“, „Guten Morgen!“ und „Guten Abend!“ und geben uns gern die Hand, wenn wir uns treffen. Gestern lüpften die Herren den Hut und die Damen hoben den Schleier.

Es ist evident, dass wir auf der Straße nicht Hinz und Kunz, nicht wildfremden Leuten „Guten Tag!“ sagen, sondern unseren Gruß durch Exklusivität wertvoll machen, dadurch, dass wir die Anzahl seiner Adressaten beschränken. Wir sagen: Wir wenden die Konvention des Grüßens selektiv und exklusiv an. Man kann geradezu definieren: Wen wir grüßen, steht uns irgendwie nahe, und die uns Nahestehenden grüßen wir. Die Gruppe derjenigen Menschen, die wir zu grüßen geruhen und die uns mit ihrem Gruß in den Kreis der Auserwählten einschließen, ist ein exklusiver Club, der Intensität, Dichte und Häufigkeit unserer sozialen Kontakte repräsentiert. Die Kreise derjenigen, die einander grüßen, sind natürlich nicht kongruent und deckungsgleich, sondern überschneiden sich: Nur in den Schnittmengen befinden sich alle diejenigen, die einander und sich gegenseitig grüßen, während dein Freund gewiss Leute grüßt, die du nicht einmal kennst.

Indes, nicht nur die Anwendung der Konvention ist bedeutsam, auch ihre Nichtanwendung und die Beendigung ihrer Anwendung, der Bruch mit der schönen Gewohnheit, sind hochsignifikant: Gestern noch hast du mich auf der Straße gegrüßt, heute schaust du betreten unter dich, wenn du mich auf der anderen Seite erblickt hast. Was ist geschehen? Was habe ich dir getan? Womit habe ich dir vor den Kopf gestoßen, sodass du mich keines Blickes und keines Grußes mehr würdigst, sodass du mich aus dem exklusiven Club deiner Gruß-Freunde und Duz-Freunde hinauskomplimentiert hast?

Hier kann es sich freilich erweisen, dass die Verweigerung des Grußes doppeldeutig ist: Dein ehemaliger Gruß- und Duz-Freund ignoriert dich mit einem Mal auf der Straße, weil er dich nicht mehr für wert und würdig befindet, dem exklusiven Club seiner Auserwählten anzugehören. Gewiss hast du dann etwas sehr Dummes angestellt. Oder jener grüßt dich nicht mehr und schaut betreten unter sich, wenn er deiner auf der anderen Straßenseite ansichtig wird, weil er sich selbst nicht mehr für wert und würdig befindet, dem exklusiven Club deiner Auserwählten anzugehören. Gewiss hat dann er etwas sehr Dummes angestellt.

Auch die Bedingung zur Erfüllung der KA hat ein ausschließendes Kriterium: Der Adressat, dem du deine Anteilnahme im Falle des Unfalls oder eines anderen Unglücks zum Ausdruck bringst, sei ein Mensch, der die nahesteht. Es können ja unmöglich alle Menschen oder anders gesagt: es kann ja unmöglich jeder beliebige Mensch sein, dem du, weil er Pech hatte, deine Anteilnahme zum Ausdruck bringen solltest. Diese absurde oder utopische Bedingung könnte schon aufgrund physischer Grenzen nicht erfüllt werden, denn weder weißt du um jedermanns Schicksal noch könntest du eine unbegrenzte Zahl von Handlungen der Anteilnahme gleichzeitig vollziehen.

Die Anzahl der Adressaten für die von dir zu erfüllende Konvention A ist demgemäß sinnvoll zu begrenzen. Ein eindeutiges Kriterium womöglich quantifizierbaren Grades zur Bestimmung der Anzahl der Mitglieder der Gruppe, die dir nahestehen, gibt es allerdings nicht. Dennoch ist diese Anzahl nicht unbestimmt, denn der Begriff der sozialen Nähe kann den Umständen entsprechend gut mit Inhalt gefüllt werden.

Nahe stehen dir solche Menschen, die kraft Verwandtschaft (genetisch starker Ähnlichkeit) und Freundschaft (Liebe sei hier eingeschlossen) oder kultureller Ähnlichkeit und institutioneller Abhängigkeit die sozialen Räume deiner Kommunikation öffnen und schließen: Die Geburt deines Kindes öffnet den sozialen Raum verwandtschaftlicher Kommunikation hin zu mannigfaltigen Erlebnisweisen und schiebt die zeitliche Achse dieser Kommunikation im besten Falle auf Jahrzehnte aus. Einzig dein Tod oder der frühzeitige Tod des Kindes schließt diesen kommunikativ weitgestaffelten Raum. Liebe scheint, wenn sich die Liebenden in einem informellen Bündnis zusammenschließen, gleichsam eine pseudogenetische Verwandtschaft zu beschwören oder zu suggerieren, die bis in die Gestik und Haltung eindringt, wenn sich die beiden geschwisterlich bei der Hand nehmen und wie ein Fleisch und Blut, „Bein von meinem Bein“, ansehen. Hier eröffnet der Kuss oder der Austausch von Liebesgaben die Liebeskommunikation, die entweder durch das Erkalten und Absterben der Passion, das Eindringen eines Dritten oder den Tod eines Partners geschlossen wird; sie kann auch durch den Übergang in eine formale Institution wie die Ehe transformiert werden, in der andere Regeln und Regelungen der Kommunikation wie die Fürsorge für die Kinder oder die Vorsorge für das Alter vorwalten.

Durch kulturelle Ähnlichkeit fühlst du dich Menschen nahe, die deine Sprache sprechen oder deine Einstellungen und Grundüberzeugungen teilen. Du kannst zwar kein Japanisch, aber etliche Einstellungen, die sich dir aufgrund deines Umgangs mit Japanern oder deiner Beschäftigung mit dem Shinotoismus und dem Zen aufgedrängt haben, führen zu einem gewissen Gefühl der Nähe, wenn es auch stets an den Rändern von Fremdheiten beschattet bleibt. Du kannst zwar Italienisch, aber die Einstellungen und Überzeugungen, die in der Mafia kursieren, teilst du nicht, und ein Gefühl der Nähe will sich zu diesem Menschenkreis partout nicht einschleichen.

Natürlich wächst du von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr in eine gewisse Nähe zu deinen Kollegen oder Kommilitonen im Büro und im Seminar. Man arbeitet, studiert, feiert zusammen. Aber nach Büroschluss heißt es meist: aus den Augen, aus dem Sinn. Dann musst du dich verdientermaßen vom Stress der Arbeit und gerade auch von der allzu dichten menschlichen Nähe mit deinen Kollegen erholen.

Wir beobachten demnach eine absteigende Linie der Dichte und Intensität des Naheseins und des Nahefühlens von der genetischen Verwandtschaft über Liebe und Freundschaft bis zu den rein institutionell geprägten Verhältnissen. Je mehr sich die Relation verdünnt und an moralischer Intensität einbüßt, umso mehr vermischen sich Konventionen und Normen: Dem Chef permanent krumm kommen und ihn respektlos behandeln zeitigt ebenso normativ geregelte Sanktionen wie die verächtliche Behandlung oder die Belästigung der Arbeitskollegen, die mit harschen Abmahnungen oder dem abrupten Ende des Arbeitsverhältnisses sanktioniert werden können.

Die Pflicht zur Konvention A erlischt, wenn jemand, der dir nahezustehen schien, die Gruppe, die wie die Gruß-Gruppe oder die Duz-Gruppe eine solche soziale Nähe definiert, verlässt und in eine andere Gruppe wechselt oder als Mitglied einer solchen Gruppe enttarnt wird, die deiner Gruß- und Duz-Gruppe feindlich gegenübersteht. Sollte sich herausstellen, dass jener nette Bursche, den du vor einiger Zeit im Sprachkurs für Englisch an der Volkshochschule kennengelernt hast, mit dem du schon öfter ausgegangen bist, mit dem du angeregte Gespräche hattest und dem du auf seine freundlichen Bitten sogar Geld geliehen hast, damit er, wie er vorgab, seiner kleinen Schwester rechtzeitig ein schönes Geschenk zum Geburtstag kaufen könne – sollte sich also herausstellen, dass dieser nette Bursche einer verschworenen Gruppe angehört, die sich zum erklärten Ziel gesetzt hat, dich und deine Familie des Eigentums zu berauben oder deine Ethnie und Kultur, deine Lebensform, auszulöschen,  bist du ohne weiteres von der Pflicht zur Erfüllung von Konvention A diesem Schurken und Feind gegenüber dispensiert. Solltet ihr ein Treffen in einem Café vereinbart haben, bei dem der Halunke dir das ausgeliehene Geld zurückerstatten soll, wirst du dort in Begleitung der Polizei erscheinen.

Kehren wir zur Eingangsfrage nach der Herkunft der institutionellen Binde- und Ordnungskraft zurück, die sekundäre Intentionen und Wünsche zweiten Grades mit einem Gewicht begabt, das dem von Wünschen ersten Grades nicht nur gleichkommt, indem sekundäre Intentionen auf primäre Intentionen aufsitzen und sie übermächtigen. Ja, die sozialen Bindungskräfte vermögen sogar den biologischen Grund aller Wünsche und Wünschbarkeiten, die nackte Existenz des Wünschenden, aufs Spiel zu setzen und in die Waagschale zu werfen. Dies geschieht in der Tat in den seltenen Fällen, wenn einer sich für den anderen, dem er nahesteht und dem er sich aufs Innigste verbunden und verpflichtet weiß, opfert und sein Leben für ihn hingibt.

Man könnte meinen, sozialer Druck sei das eigentliche soziale Bindungsmittel und der feste Leim, mit dem dich sekundäre Intentionen zu Handlungen verpflichten, die nicht zuvörderst deinen primären Bedürfnissen zugutekommen. Aber du kannst an der gebrechlichen Greisin, die hilflos an der Ampel steht, achtlos vorübergehen und in der Menge untertauchen: Keiner hat dein moralisches Versagen beobachtet, keiner straft dich deswegen mit verachtungsvollen Blicken. Und dennoch verspürst du Scham, wenn du dich feige davongeschlichen und die Hilfsbedürftige im Stich gelassen hast.

Du hast mir das Buch trotz klarer Absprachen zum ausbedungenen Zeitpunkt und am verabredeten Ort nicht wiedergebracht. Du bist einfach nicht erschienen. Vielleicht gab ich dir in der Zwischenzeit Gelegenheit, dich innerlich und äußerlich von mir abzuwenden. So hast du mit deinem Nichterscheinen und dem Bruch des Versprechens einen scharfen Schnitt gemacht und klare Kante gezeigt. Dennoch wirst du in Zukunft das Buch, das ich dir einst ausgeliehen hatte und das du trotz deines Versprechens mir nicht wieder ausgehändigt hast, nicht anders als mit Unbehagen zur Hand nehmen. In diesem Unbehagen aber verbirgt sich die institutionelle Kraft, die in der Erfüllung der Bedingung von KA positiv zu Tage tritt.

Hier stoßen wir auf einen wichtigen Unterschied in der sozialen Welt, die eine Welt institutioneller Ordnung ist: den Unterschied von Normen und Konventionen. Normen wie Konventionen sind soziale Einrichtungen; Normen sind allerdings formal ausgeführt, zum Beispiel in der Form von Gesetzen, Geboten und Verboten, Vorschriften und Verordnungen (denke an die Straßenverkehrsordnung), und die Normverletzung wird durch ebenfalls formal geregelte Sanktionen geahndet. Wer volltrunken am Steuer erwischt wird, bekommt den Führerschein auf längere Frist entzogen.

Anders bei Konventionen: Sie sind formal nicht ausdrücklich formuliert. Die gegebene Definition zu KA könnte auch anders formuliert werden. Wir wissen zwar, wie viele Paragraphen die Straßenverkehrsordnung hat. Aber die genaue Anzahl an Konventionen, die unser soziales Leben mit Gehalt, Tiefgang und Esprit erfüllen, wüssten wir nicht anzugeben, weil ihre Anzahl beständig schwankt und sie den Wellen und dem historisch mehr oder weniger schweren Seegang des sozialen Wandels und des Absterbens und neuen Wachstums sozialer Gepflogenheiten ausgesetzt sind.

Konventionen nennen wir deshalb informelle Institutionen der sozialen Ordnung. Wer die hilflose Oma nicht über die Straße geleitet oder dem Schwerbehinderten in der U-Bahn nicht seinen Platz anbietet, dem geschieht nichts, der bleibt straffrei. Und dennoch bleiben Konventionen dieser Art in Geltung und setzen sich in vielfacher Gestalt durch, ohne dass ihre Nichtbeachtung unter Kuratel gestellt wäre.

Die verpflichtende Macht der Konvention rührt nicht von äußerem sozialem Druck her, sondern von der inneren Instanz des sozialen Ich. Wenn du in deinem Leben dich einigermaßen anständig verhalten und deine Vergehen und groben Versäumnisse wiedergutzumachen versucht hast, kannst du wie man sagt dir im Spiegel unbefangen in die Augen schauen. Wer sich dort anschaut, ist nicht das biologische Ich erster Stufe, das die animalische Vernunft der körperlichen Triebe und Bedürfnisse repräsentiert, sondern das soziale Ich zweiter Stufe, das die soziale Vernunft der sekundären Intentionen und Konvention verkörpert. Das soziale Ich ist anders als das animalische Augenblicks-Ich ein in der biographischen Zeit ausgedehntes mentales Gefüge, das sich seiner Lebensgeschichte für und für ansichtig bleibt, sie sich bis in Phantasien und Träume hinein vergegenwärtigt und wieder und wieder in vielfältigen Abwandlungen und Umdeutungen sich selbst und natürlich in Form von Anekdoten, kleinen Novellen, Märchen oder Legenden den Um- und Nahestehenden erzählt. Knotenpunkte solcher Erzählungen sind natürlich die Gelegenheiten, bei denen der Erzähler in der Erfüllung von KA und aller anderen Konventionen sich bewährt oder versagt hat.

Die Erfüllung der Bedingung für KA stabilisiert das soziale Ich und erhöht seine Zufriedenheit. Denn die Pflicht zur Konvention zu erfüllen wird dem sozialen Ich Quelle einer höherstufigen Form der Befriedigung und kann die primäre Form der animalischen Befriedigung teilweise und zeitweise ersetzen. Man darf gewiss diese kulturelle Leistung nicht idealisieren: Werden die biologischen Grundlagen erschüttert, wie in Unglücks- und Notfällen oder im Krieg, bei Hungersnöten und Katastrophen, kann auch das Fundament zur Erfüllung von KA Risse bekommen: Wenn du oder deine Familie nichts mehr zu beißen haben, kann niemand von dir verlangen, dir in erster Linie mein leibliches Wohl angelegen sein zu lassen.

Und dennoch sind die fesselndsten Erzählungen die von heroischen Taten und außerordentlichen Leistungen, gerade in Zeiten äußerer Bedrückung und Not, wenn sich die Mutter in Kriegszeiten das Letzte vom Munde für den Erwerb von Wolle, Seide und Pappe abspart, um ihrem kleinen Mädchen eine schöne Puppe zum Geburtstag basteln zu können, oder wenn der Vater in das von Brandbomben getroffene Haus zurückeilt, um den hilflos schreienden Buben aus dem obersten Stock unter Einsatz des eigenen Lebens zu retten. Auch das, was die alten Völker dem Ruhm an motivierender Kraft zusprachen, hat bei der Erfüllung der Konvention seinen Anteil: Die Mutter hofft, der Vater hofft, dass sie einmal den Enkeln davon erzählen werden können, und das erfüllt sie mit innerer Genugtuung.

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