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Die neue Prüderie der Schamlosen

28.08.2024

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Erst sahst du ihn mit dem Fahrrad, dann zu Fuß mit der Tüte von REWE, schließlich sich an die Hauswände drückend nach Hause schleichen. Jetzt siehst du ihn nicht mehr.

Es ist ein Unterschied ums Ganze, sich unterwegs zu fragen: „Gehe ich noch kurz in den Park und danach einkaufen?“ oder auf der Schwelle zaudernd: „Soll ich nach draußen gehen oder noch eine Weile die Sicherheit der Behausung vorziehen?“

Der Tor weiß das Ziel nicht zu finden; der Verlorene hat keins.

Der Tor weiß nicht zu erlangen, was er will; der Verlorene weiß nicht, was er will.

Die Grazie hob sich tänzerisch von der Plumpheit ab; in den Ausdünstungen der Vulgarität ward sie allmählich unsichtbar. Oder sie liegt an ihnen erstickt zu Füßen der Zechenden.

Die reinsten Begriffe beginnen im Mund der Journaille zu faulen und zu stinken.

Wenn der Teufel von Engeln spricht, und das tut er gern, schnalzt er mit der Zunge.

Scheinpropheten wie Nietzsche hüllen ihre mageren Visionen in das knisternd-halbseidene Kleid eines atemlos zusammengenähten dichterisch-religiösen Idioms. Im Gegensatz zu echten gründen sie keine Riten, Sakramente, Liturgien, die dauerhafte Traditionen ausbilden. Wir singen noch die Hymnen des Ambrosius, jene des angemaßten Zarathustra sind verstummt.

Die dialektisch verknoteten Begriffsgirlanden eines Hegel wehten noch als grelle Fetzen ihrer revolutionären Umkehrungen über den Gräben und Barrikaden der Bürgerkriege; nun wickelt der saturierte Philosophieprofessor mit den ganz verblaßten Resten nostalgisch die Schatulle ein, worin er neben den Urkunden seiner Berufungen die alten Geheimbundsiegel, die Mao- oder Sowjetsterne, all die Sektendiplome und Parteiabzeichen heimlich verwahrt. Auch der kleine Revolver liegt zuunterst, wenn auch ungeladen. Es ist eben jener, von dem Breton forderte, man muß ihn laden und damit in den Straßen wahllos auf Passanten schießen, dies sei die herausragende surrealistische Tat.

In Blut getränkte Parolen wie die der Französischen Revolution haben ihr Faszinosum bewahrt; sie kitzeln noch immer die dumpfen Neuronen des Politikers und des Zeitungssklaven.

Der Lorbeerkranz hellster geistiger Entrückung und das blutverschmierte Messer dunkelster sittlicher Entartung liegen beide im Wandschrank des Mannes.

Der Machthaber, der das Gemetzel an den Ohnmächtigen zu verantworten hat, erscheint in der Trauerkleidung verbrämter Hypokrisie am Grab und überreicht den Hinterbliebenen weiße Rosen, die sie mit Tränen in den Augen gerührt entgegennehmen.

Die Moralwächter des Sprachgebrauchs reden selbst ein verkommenes Kauderwelsch.

Die neue Prüderie der Schamlosen.

Eine Frau, die geboren hat, wird nicht mehr Mutter, sondern Person mit Uterus und Eierstöcken genannt. – Biologistische Brutalismen, die der Entstellung und Herabwürdigung der Mutterschaft dienen.

Eine Mutter, die sich hingebungsvoll der Aufzucht ihrer Nachkommen widmet, wird hinter dem Wandschirm des Tabus verborgen, ein Mann, der vorgibt, eine Frau zu sein, ins Rampenlicht der Lüge gestellt.

Die neue Prüderie der Schamlosen läßt der Sprache gleichsam ein Geschlechtsteil implantieren und anschwellen, als ein Kriterium, womit sie die abtrünnigen Puristen von den obszönen Gesinnungsgenossen zu diskriminieren willens und in der Lage ist. Die Diskriminierten werden über kurz oder lang aus der als herrschaftsfrei gelobhudelten Diskursgemeinschaft ausgeschlossen.

Die metaphorische Verhüllung der alten Prüderie wird durch den semantischen Dildo der neuen ersetzt.

Der Gebrauch obszöner Begriffe gilt als Ausweis des avantgardistischen Rangs eines Schriftstellers; die Verwendung von Blumennamen und metaphorischen Ranken aus den Auen und Gärten stillen Wachstums als Symptom von Rückständigkeit und neurotischer Hemmung.

Liebe, die sich opfert, Hingabe, die verzichtet, gilt der Prüderie der Schamlosen als Vergehen an der ungehemmten Selbstverwirklichung dumpfen Lebens.

Das erigierte Wort verdunkelt das stille Licht der Gnade.

Gesang die Woge, Stille das Land.

Der aufgeblähte Sinn zerplatzt am Dorn der Wahrheit.

Mit dem Namen des Vaters wird auch der von ihm erhöhte Sohn verworfen (Philipperhymnus).

Theseus hat Ariadne erniedrigt, Dionysos wird sie erhöhen.

Der Cosima schrieb „Ich bin dein Labyrinth“, hat sie wohl in Ariadne verwandelt, doch den Faden ihr abgeschnitten.

Erektionen des Worts im Geschrei der Mänaden, der mythischen, die Tiere zerrissen, der zeitgenössischen, die Embryonen zerstückeln.

δόξα θεού, Hoheit, vor der sich die rachitischen Knie des Zeitgeistes nicht mehr beugen.

Hölderlin kehrt, als das Rattern und Surren der Ego-Maschinen von fern schon vernehmbar war, zur hochherzigen Demut hymnischen Singens zurück.

Imago Dei – wird sie unterm dämonischen Grinsen ein Engel des Gerichts freilegen?

Volk, dem man die Zunge des heimatlichen Idioms abgeschnitten hat.

Ideologische Wirrköpfe feiern den rationalen Diskurs, Besessene die Herrschaft der Vernunft.

Der Reim ist verpönt, weil er den Eros der Sprache offenbart.

Aus mancher Sackgasse, wie der atonalen Musik, kann man nur gelangen, indem man den Rückwärtsgang einlegt.

Die Messer, die hier blitzen und schlitzen, tragen das Gütesiegel „Made in Germany“.

Das Licht des dichterischen Samens keimt nur in der Dunkelheit.

Am offenen Fenster der Sommernacht gelehnt vernahm er im dunklen Flüstern des Blattwerks das Seufzen einer unerlösten Seele.

Die Augen, dunkel glänzend vom Wasser der Schwermut, die Seele: nulla lux.

Die Alten nannten symbolisch das Zusammenfügen zerbrochener Ringe; wir legten die Ringe auf den Amboß der Selbstauslöschung.

Getünchte Gräber, die noch lange vor sich hin siechen, wenn die Seele längst erloschen ist.

Glück des Lieds, als Welle einer unendlichen Melodie in den Schilfen Thules zu verebben.

Phallus des Sonnengesangs, verlöschend im Schoß der Nacht.

Der freie Geist flieht nicht vor dem Gott, der sich aus den Fragmenten seiner Selbstzerreißung neu zusammensetzt.

Die Zeilen der Handschrift – aufgefädelte Perlen kostbarer Chiffren, die Züge des Gesichts – Ruinen und verschüttete Gräben einer eschatologischen Schlacht.

Wittgenstein: Je präziser die Begriffe, umso rätselhafter der Sinn.

Stufen des Verstehens, ähnlich den klimatischen Zonen – in den unteren zittert das heimatliche Veilchen, auf den verschneiten Gipfellagen blaut der wunderliche Fremdling Enzian.

Für den Platoniker sind die mythischen Götter fliehende Wolken vor der unendlichen Bläue.

Die Vorlieben dichterischer Landschaftsbilder konvergieren mit den Altersstufen – die tropischen Wucherungen der Jugend, die beschnittenen Reben der Reifezeit, die Wolken spiegelnden Wattlandschaften des Alters.

„Zieh deine Schuhe aus!“ – Jüdisch ist die Furcht vor der Nähe der unsichtbaren Gottheit, die sich im brennenden Dornbusch offenbart. – Aber bei Hölderlin finden wir sie wieder, transponiert in mythisch-elegisches Moll.

Hölderlin rettet sich aus der pietistischen Selbstzerknirschung, indem er mit Diotima durch die Dämmerung der Rosenhaine wandelt, mit Empedokles sich in die Flammen der Wiedergeburt stürzt.

In Blei, in Kalk, in Asche verwandelt sich jeder Gegenstand, den die taube Hand des Gottverlassenen antastet.

Ich bin mir auf dem schmalen Pfad begegnet, der aus dem Buchenwald hinaufführt zu den Rebenhügeln; wir haben uns schweigend zugelächelt; ich ging dort auf die Höhe, um den heimatlichen Strom einmal noch unter mir glänzen zu sehen; du gingst den Weg zurück in die Dämmerung des leise rauschenden Blattwerks.

 

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