Die Mandelblüten van Goghs
Die Bedeutung der Schmeichelei oder der Beleidigung, die der Liebhaber der Geliebten ins Ohr flüstert oder der gehörnte Mann der untreuen Frau ins Gesicht schreit, besteht nicht in dem, was sie dabei empfinden oder erleben, sondern setzt sich aus der Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke zusammen, aus denen die Sprechakte der Schmeichelei und der Beleidigung bestehen.
Wir können die Bedeutung oder den Sinn des künstlerischen Ausdrucks nicht aus der Empfindung und dem Erlebnis des Künstlers ableiten oder konstruieren. Es ist gleichgültig, ob van Gogh die Mandelblüten in euphorischer Stimmung oder melancholischer Niedergeschlagenheit gemalt hat.
Vielleicht schmeichelt der Liebhaber der Geliebten nicht, weil er sie begehrt oder bewundert, sondern weil er als armer Künstler ökonomisch von ihr, der reichen Kunstsammlerin, die ihn aushält, abhängig ist; vielleicht beleidigt der Gehörnte die untreue Frau nicht, weil er sich durch ihr Verhalten erniedrigt fühlt, sondern weil er, der reiche Unternehmer, es nicht verwindet, sein Dienstmädchen nicht länger am Gängelband führen zu können.
Auch wenn wir die soziologisch aufschlußreichen Hintergründe der Sprecher nicht kennen, verstehen wir doch, daß es sich bei dem einen Sprechakt um eine Schmeichelei, bei dem anderen um eine Beleidigung handelt.
Wir können die Bedeutung oder den Sinn des künstlerischen Ausdrucks nicht mittels soziologischer Untersuchungen erhellen, die uns über die soziale Stellung des Künstlers und seine ökonomische Situation hinsichtlich der ihn fördernden Mäzene oder des ihn tragenden oder verschmähenden Kunstmarktes belehren.
Wenn der Betrachter der Mandelblüten van Goghs in eine heitere Stimmung versetzt wird oder einen gewissen Trost angesichts seines grauen Alltags verspürt, sagt uns dies nichts über die Bedeutung und den Wert des Kunstwerks; denn ein Spaziergang an einem schönen Sonnentag unter echten blühenden Mandelbäumen verspräche dieselbe Wirkung, von einem guten Wein in freundschaftlicher Runde zu schweigen.
Die gängigen Klischees der Alltagspsychologie und die Schulbuchweisheiten der Wirkungsästhetik sagen uns nichts über die Bedeutung und den Wert eines Kunstwerks.
Wenn wir den Liebhaber als Don Juan auf der Bühne seine Schmeicheleien ins Ohr der Schönen flüstern hören, lösen wir unwillkürlich den uns ganz und gar verständlichen Sprechakt der Schmeichelrede des großen Verführers von jeder realen Situation ab: Wir wohnen einem Schauspiel bei.
Der Schauspieler, der den Don Juan spielt, hat die Schauspielerin, die seine Geliebte spielt, nicht wirklich umschmeichelt und verführt; zu behaupten, der Mann, der auf der Bühne agiert, habe die Frau verführt, wäre im Sinne trivialer Wahrheit nicht wahr, sondern falsch: Das Schauspiel setzt alle Sprechakte gleichsam in die Anführungszeichen des Imaginären, Irrealen, Fiktiven. Und deshalb sind die geschauspielerten Sprechakte, die wie ein Ei dem anderen echten und wirklichen Sprechakten gleichen, weder wahr noch falsch.
Die Mandelblüten van Goghs sind nicht nur keine echten Mandelblüten, sondern sind den echten in einem trivialen botanischen Sinne nicht einmal besonders ähnlich, sondern eher wie Traumbilder von Blüten: Sie hängen nicht an Zweigen, sondern schweben im Imaginären.
Verstehen wir die Bilder van Goghs mit dem Sujet der Mandelblüten besser, wenn wir als kunsthistorisch Informierte wissen, daß sich der Maler im Zuge der zeitgenössischen Mode des Japonismus von fernöstlicher Bildkunst anregen ließ? Nein; genausowenig wird unser Verständnis der Schmeichelrede des Verführers vertieft, wenn wir darin blumige Phrasen aus angestaubten Gedichtanthologien identifizieren oder philologisch beckmesserhaft belegen können.
Freilich, wenn der Verführer vergiftete Blüten streuen und seine Schmeicheleien mit satirisch entstellten Zitaten aus der Gedichtanthologie würzen sollte, verstünden wir wohl, daß hier etwas aus dem Ruder läuft: Die Absicht der Schmeichelrede, die Verführung, würde durch diesen Mißgriff in Frage gestellt. Es handelte sich also um einen inkonsistenten Sprechakt, bei dem die Äußerung ihre Absicht vereitelt.
Van Goghs Bildsprache in den Mandelblütenblättern ist indes von jedem Anflug von Ironie, Satire oder Parodie frei. Wenn er zitiert, dann, könnte man sagen, gläubig, kindlich, fromm.
Können Bildwerke wie sprachliche Handlungen überhaupt inkonsistent sein? Wenn dem offenkundig nicht so ist, können sie, wenn nicht falsch, so auch nicht wahr sein. Sie schlüpfen durch das allzu grobmaschige Netz der Wahrheitsspinne.
Wir können mit malerischen oder musikalischen Mitteln keine Verneinung ausdrücken; die Möglichkeit der Negation aber ist ein wesentliches Kriterium für den semantischen Begriff der Bedeutung oder Referenz und also für den Begriff der Wahrheit: Denn die verneinte falsche Aussage ist die wahre Aussage. Eine durchgestrichene oder geschwärzte Figur ist nicht die Negation der bildlichen Aussage, sondern ihre Erweiterung; so wie eine Modulation oder eine Umkehrung eine Modifikation und Durchführung der musikalischen Aussage darstellt.
Der Mangel an referentieller Zuordnung verbietet uns, von einer Semantik der Kunst zu sprechen: Die Zuordnungen, die wir hier finden, sind symbolischer oder ikonischer Natur und beruhen nicht auf dem Kriterium der Identität des Gemeinten, sondern auf der Ähnlichkeit des Angedeuteten. So meint oder repräsentiert das Blau van Goghs die Unendlichkeit, das Sonnenblumengelb die fruchtbare Erde unter dem Strahl der Sonne, das Weiß der Mandelblüten die ephemere, flüchtige und traumhafte Erscheinung des Vollkommenen. Die Symbolik oder Ikonik der Farben van Goghs ist nicht willkürlich wie die Semantik der lautlichen Artikulation, sondern wurzelt in der Natur des Menschen als eines sinnenhaften Lebewesens.
Wenn der Autor die Absicht hegt, sich in der Rolle des Don Juan zu spiegeln, besonders im lyrischen Timbre und dem Feuerwerk geistreicher und bewußtseinsheller Anspielungen seiner schmeichelnden Rede, damit ihr Erfolg in der erotischen Verführung sich als überwältigend erweist und die Umworbene ohne Gegenwehr und wie betäubt vor ihm hinsinkt, mag der gegenteilige Effekt eintreten: Das Stück wird ein Mißerfolg und die blendende Gestalt des Verführers in dem Maße verdunkelt und ausgehöhlt, in dem die Verführte wie weiches Wachs in der fahlen Glut seiner rhetorischen Ein- und Zweideutigkeiten hinschmilzt.
Leiht der Autor dagegen dem Verführer nicht SEINE Stimme, sondern beobachtet ihn gleichsam als einen Fremden, wird die Ambivalenz der Figur und ihr Schwanken zwischen Selbsterhöhung und erotischer Steigerung auf der einen sowie erotischer Hingabe und Selbstvergessenheit auf der anderen Seite mehr und mehr in der ihr selbst kaum bewußten Zweischneidigkeit und Doppelzüngigkeit ihrer Äußerungen ans Licht gelangen; ebenso wird die Frau mit einem dramatisch-erregten, selbstentzündeten Ton auf seine Ergebenheitsadressen und mit einem gedämpft-lyrischen auf seine selbstverliebte Virtuosität antworten können. Das Drama überzeugt durch Komplexität der Motive und Figuren, je mehr der Autor seine Stimmen nicht als Echo seiner psychologischen Innerlichkeit aufzeichnet, sondern gleichsam aus der Entfernung, angestrengt lauschend, durch den Schalldämpfer fremder Masken HÖRT.
Der frühe van Gogh verfolgte mit umdüsterten Elendsbildern die Absicht, seine religiösen Erweckungserregungen Bild werden zu lassen; doch hat er dadurch seine grundehrlichen, wahrhaftig gefühlten Intentionen in ein Zwielicht und einen malerischen Dunst getaucht, in dem die hochgespannte Wahrhaftigkeit an Sentimentalität erstickte. Das scharfe Licht des Südens und die grausame Sonne tödlicher Fruchtbarkeit, die befruchtende Elementargewalt des Midi und seine luziden Farbekstasen haben van Gogh vor der Gefahr sentimentaler Stimmungsmalerei gerettet.
Die Mandelblüten van Goghs sind nicht die Verwirklichung der Absicht, metaphysische Ideen zu malen und mit schönen Motiven Trost aus dem blauen Abgrund des Transzendenten zu schöpfen; sie sind ihm gleichsam wie von selbst aus der Leere des Absichtslosen aufgesprossen.
Wir sprechen von Reife, wenn ein Künstler nicht nur aufgrund wachsender technischer Perfektion, sondern thematischer Durchdringung und Sublimierung seiner malerischen Mittel wie der Verteilung von Licht und Schatten oder der symbolischen Verwendung und Kontrastierung von Farbvaleurs eine letzte Höhe seiner Gestaltungskraft erklommen hat.
Doch wie jeder Augenblick durch Kontemplation oder Rausch über die kontinuierliche Reihe der Zeitmomente herausragen kann, so jedes Kunstwerk. Zu behaupten, mit jenem Werk antizipiere dieser Künstler schon diese und jene kommende Malweise, van Gogh den Expressionismus, er sei gleichsam eine Schaumkrone auf der heranbrausenden Welle der Avantgarde, sagt nichts über die Bedeutung und den Rang der von ihm geschaffenen Werke; ja es schläfert den an der Betrachtung erwachten Geist im sauerstoffarmen Dunst welker Feuilleton-Flora und disteltrockener Seminaristenprosa ein.
Keiner erlangt künstlerischen Adel, weil er als Bürgerschreck, Rebell oder Revolutionär wichtigtat und den Spießern eine lange Nase drehte; kein Rubens oder Vermeer zieht den Schatten eines Verdachts auf seine Werke, weil er als reicher Bürger reüssierte oder als Stiller im Lande sein bescheidenes Dasein fristete.
Kein Künstler erlangt die Höhe vollkommenen Ausdrucks einzig aufgrund der Verletzungen und Leiden seines Erdenwallens, wenn er die vergossenen Blutstropfen nicht in leuchtende Früchte an imaginären Zweigen und die Tränen nicht in gefrorene Perlen am Hals der imaginären Geliebten verwandelt.
Die Mandelblütenbilder van Goghs sind sowohl von hohem spirituellen Reiz als auch Zeugnisse einer sublimen Kunst des Dekors, die an antike Wandmalereien wie die in Pompei gemahnt. Daß neuerer Kunst jedwede schmückende und ornamentale Funktion abgesprochen wird, scheint ein sarkastischer Kommentar auf die Verödung des Alltagslebens in den Betonwüsten der großen Städte.
Wenn die Kunst anders als im antiken Tempel oder der römischen Villa ihren Ort alltäglicher Ausstrahlung verliert und gleichsam ort- und funktionslos wird, denn Galerien und Museen sind keine originären Stätten künstlerischer Wirkung, sucht man bisweilen ihrem Verlust an Lebensverwurzelung mittels ihrer Auratisierung und Sakralisierung beizukommen. So überfrachtet man sie mit religiösen und pseudoreligiösen Surrogaten; doch wie das heilige Mahl von Brot und Wein nur in Gemeinschaft oder rituell vollzogen werden kann, so bleibt jede Beschwörung einer Transzendenz, die in die Nacht der zivilisierten, aus jeder rituellen Fassung gelaufenen Einsamkeit aus dem reinen Schnee der Mandelblüten van Goghs hineinleuchten soll, ein leeres Versprechen und eine hohle Vertröstung.
Die Mandelblüten van Goghs wollen das Leben, das gewöhnliche, mühsame, dem Verfall preisgegebene Leben, erhöhen, erleuchten, und, dürfen wir schlicht sagen, verschönen. Doch van Gogh hat seine imaginären Blüten schon ins Vage, in die Abenddämmerung und die Menschenödnis hineingehalten. Das mußte ihn betrüben, in Selbstzweifel und Schwermut stürzen, nicht die Abhängigkeit von seinem Bruder Theo, der gleichsam nur der Zwischenhändler dieser allgemeinen Verödung durch den Markt und den Kunstbetrieb war.
Die Mandelblüten van Goghs ragen und schweben auf einem zartblauen Hintergrund, dem Himmel, dem Ozean, dem Geist des Unendlichen. Es ist, als habe dies Ungestalte, diese Leere sie geträumt, als seien wir ein Teil dieses aus der Tiefe des grenzenlosen Blaus emporgeschäumten Traums, als verspürten wir das leise, lautlose Wehen, in dem sich die weißen Blüten kaum merklich wiegen, als gäben wir uns mit ihnen diesem Wehen ohne Bangen und Widerstreben hin, als seien unsere Wünsche und Erinnerungen nichts als der feine Duft, den sie verströmen, Überfluß an Leben, der gleich Pollensamen hinwirbelt in die helle Nacht der blauen Unendlichkeit.
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