Die jähe Wendung
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Kann man das noch sagen: „Schwarze Romantik“, „Schwarze Madonna“, „Schwarze Anthropologie“, oder muß sich auch hier der alte weiße Mann die fahle Asche des Sünders aufs Haupt schütten?
Soweit er Tier ist, ist der Mensch mehr als Tier: Über-Tier, ein Monstrum.
Die Gewalttat, die Übeltat, der Mord – Kehrseiten der Fähigkeit zur Güte.
Und umgekehrt, nicht die gelähmte, die zurückgehaltene Hand rechnen wir dem Jähzornigen als Verdienst zu.
Tiere morden nicht, kennen kein Gesetz, bedürfen keiner mosaischen Tafeln.
Vom Guten, Wahren, Rechten wissen wir nur im Licht unserer Disposition und Fähigkeit zur Übeltat, zur Lüge und Gesetzesübertretung.
Vom Sinn reden wir wie Bewohner einer Insel, die rings von der Meeresbrandung des Unsinns umtost wird.
Das Tier gehorcht dem Instinkt, der Mensch dem Befehl; aber Instinkte sind anders als Befehle kein Teil eines Sprachspiels. – Die Redeweise vom Instinkt, dem das Tier gehorcht, zählt zu den unausrottbaren Anthropomorphismen in der Beschreibung tierischen Verhaltens.
Wer nicht hätte lügen können, hat nicht die Wahrheit gesagt.
Wer nichts hätte zerstören können, hat nichts erschaffen.
Insekten wie Bienen und Termiten errichten ihre erstaunlichen Bauwerke nach raffinierten genetischen Programmen; nicht anders Vögel ihre Nester. Der griechische Tempel und die römische Villa aber sind nicht nur Behausungen für Götter und Menschen, sondern anders als die Bauten der Insekten und die Nester der Vögel Teil einer symbolischen Ordnung.
Die Illusion des Traumwandlers, auf sicherem Boden zu gehen, läßt ihn nicht abstürzen.
Der Vers lichtet den Wald der Sprache, ein fremder Odem fällt aus den dunklen Wipfeln, die Halme der Zeichen erzittern.
Der Klebstoff der unwillkürlichen Assoziationen, mehr noch der konditionierten Bildverknüpfungen, läßt das Denken, wie die träge auf den Schiffsplanken schleifenden Riesenfittiche des Baudelaireschen Albatros, am Boden der Trivialität haften.
„Sie war schön und unglücklich.“ – Die Konjunktion „und“ kann eine Brücke sein, aber auch eine gefährliche Abzweigung.
„Sie war unglücklich, aber lächelte.“ – Die Konjunktion „aber“ kann wie eine unübersteigliche Hürde auftauchen, aber auch wie ein Wegweiser in unbetretenes Gelände.
„Aber. Ein Wegzeichen Hölderlins“ – diese sprachphilosophische Abhandlung ist noch ungeschrieben.
Pseudo-Dichter, die durch ungewöhnliche Wendungen, bizarre Metaphern-Tattoos, semantisch unauflösbare Knoten oder syntaktische Holzwege auffallen, Aufmerksamkeit erregen, provozieren wollen.
Die jähe Wendung hat ihren Ernst nur, wenn sie keine Willkür, kein eitler Exhibitionismus zur Schau stellt.
Die jähe Wendung, der schneegetränkte Föhnwind, der das semantische Rankenwerk erschauern läßt oder zerreißt, ein dumpfes Gurren, das den Frühnebel noch trüber scheinen läßt, der Schlag an die Pforte, wenn kein Gast, kein Bote mehr erwartet wird.
Erst wenn das Ticken der Uhr in der Dämmerung, das leise Tröpfeln des Wasserhahns jäh verstummt, nehmen wir es allererst wahr.
Erreichte er auch endlich die Schwelle, klopfte er an und beträte der Bote das dämmerige Zimmer mit der stickigen Luft, er beugte sich wohl nieder, wüßte aber dem Sterbenden nur eine Banalität ins Ohr zu flüstern, zu der sich die erhabene Botschaft im öden Brausen des Winds auf seinen langen Wanderungen entleert hat.
Der Dichter, der sich zum heilig-nüchternen Wasser der Bandusischen Quelle gebeugt, sich in einen Schwan verwandelt hat, um über die Grenzen der Länder und Völker zu fliegen, der glaubte, sich ein Denkmal, dauernder als Erz, errichtet zu haben, wird nicht einmal mehr, wie er befürchtete, von knöchernen Pädagogen müde feixenden Pennälern zur Schullektüre aufgenötigt.
Er sagte irgendetwas Beiläufiges, Marginales, aber mit einem vipernhaften Züngeln, das sie bewog, mit ihm das Bett nicht mehr zu teilen.
Das graue Haar, du magst es tönen, aber das ergraute Herz …
Das wieder und wieder aufgeblüht, das Bild der Rose ist alt, aber ihre Flamme scheint heute wie für einmal und immer entzündet.
Wenn die Kette der Verse reißt, rollen die Perlen hierhin und dorthin. – Ein Fremder findet noch eine, die im dämmernden Grase schimmert, im nächtlichen Moos, im Dung.
Unglücklich im Paradies.
Kurz nach der Geburt werden dem Säugling Aufzeichnungschips und Impulsgeber ins Gehirn implantiert, die jede Regung festhalten, erwünschte Motive und Handlungen durch Serotoninzufuhr belohnen und alle unerwünschten mittels Stressverstärkern und Depressiva bestrafen.
Ins Sprachzentrum werden semantische und syntaktische Katalysatoren eingepflanzt, die ungewöhnliche oder vom Normgebrauch abweichende Wendungen blockieren, erlaubte metaphorische und metonymische Verbindungen verstärken und zur Bildung von Klischees anregen.
Die digitale Weltherrschaft der Phrase.
Glücklich, wer redet, wie alle reden, denkt, wie alle denken.
Wer in entscheidenden Momenten und an gefahrvollen Wegscheiden, statt in den Singsang der Medien einzustimmen, schweigt, gilt als verdächtig und wird einer verschärfter Beobachtung unterzogen.
Das Gesetz gilt für überflüssig, der Abweichler bestraft sich selbst.
Die Polizeiwache ist ins Rückenmark gesunken.
Wie soll man, um mit Max Weber zu sprechen, die Verwaltung der allzu Vielen rationalisieren, ohne ihre Nervensysteme zu vernetzen?
Wer das Netz verläßt, begeht Suizid.
Schachfiguren, die spontan und willentlich zu handeln glauben, wenn die Spieler ihre Züge machen.
Zunächst werden noch Nachkommen aufgrund eugenischer Selektion der Gameten im Labor gezüchtet; dann ersetzt man auch die darwinistisch zufällige Mutation bei der Befruchtung der Eizelle durch eine algorithmisch zweckgerichtete.
Zunächst fördert man noch mittels weltanschaulicher Propaganda und pädagogischer Indoktrination die physiognomische und psychologische Verflachung und Einebnung der Geschlechterdifferenz; schließlich kann auf die Weitergabe der DNS in geschlechtlich definierten Körpern ganz verzichtet werden: Das nachgeschichtliche Zeitalter der miteinander vernetzten Neuromaschinen hat begonnen, in dem die biologische Zeugung durch eine Art algorithmisch gesteuerter Nervensprossung ersetzt wird.
Genetische Auslese und Säuberung durch konkurrierende Auswahlsysteme, Kriege und Genozide erweisen sich als Anachronismus, wenn sie durch die gezielte, aber automatisierte Abschaltung von Nervenzentren abgelöst werden.
Gott nennt man, was in den Nervenbahnen über alle Grenzen hinweg von Netz zu Netz als nervöser Strom fließt. – Wer mit sich selber spricht, gilt als blasphemischer Netzverräter.
Es ist sinnlos, von Entfremdung zu reden, wenn mit der Eigenheit des je eigenen Denkens, Fühlens und Sprechens der Begriff des Eigenen aus der Sprache verschwunden ist.
Das Eigene, was wir einmal Seele nannten, ist die Beimischung der spezifischen Empfindung des Atmenden in den Atemstrom, den er, unwissend, wohin er entweicht, redend, schweigend, träumend der Welt wie einen urtümlichen Tribut entrichtet.
Der Widerstand gegen die Enteignung kann sich in jähen Wendungen kundtun, etwa sich der peinlichen Frage zu entziehen und zu schweigen oder wie der Dichter Preislieder anzustimmen, wo rings die Flüche und Verwünschungen, die Klagen und Selbstanklagen wie Nesseln und Melde ins Kraut schießen und das Rankenwerk der Phrase den edlen Knospen das Licht nimmt.
Die jähe Wendung ist kein dialektisches Umschlagen, vom Begriff zum Gegen-Begriff, vom Wort zum Widerwort. Die Welle zieht sich zurück, das Watt dehnt sich vor uns aus und gibt den Blick auf die zurückgelassenen Bewohner der Tiefe frei, ferner und ferner verebbt das Rauschen. Doch hier ist kein Mond, dessen Wanderung uns die Rückkehr der Welle in Aussicht stellte.
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