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Die Gewalt des Eindrucks

12.10.2017

Sentenzen und Aphorismen zu einer ungeschriebenen philosophischen Ästhetik

Unsere wesentlichen Überzeugungen sind nicht das Ergebnis abgewogener, gereifter Erwägungen, sondern Spuren unabweislicher, ja gewaltsamer sinnlicher Eindrücke.

Die lebensentscheidenden Einsichten sind Narben von Wunden, dir wir uns beim Schlagen des Kopfs gegen imaginäre Wände zugezogen haben.

Imaginäre Wände können härter sein als reale; das trotzige oder trostlose oder masochistische Schweigen der Mutter war eine solche Wand.

Das Leben hat keine Richtung, hat keinen einhelligen Sinn. Wir gehen ein Stück, wechseln die Richtung, gehen wieder ein Stück, brechen ab. Nach dem Anstieg legen wir uns eratmend ins Gras und wollen mit dem weichen Wiesengrund verwachsen, in den Humus sinken, tiefer und tiefer, in ein warmes Grab, und nichts weiter als fern von unseren ins Vergessen sich reckenden, unwirkliche Halme rupfenden Händen im hohen eilenden Flug der Wolken unsere müßigen, unnützen Gedanken ins Unwirkliche schweifen sehen. Zwischen tausenderlei Reden ohne Hand und Fuß, aus dem trüben Tümpel des Radebrechens halb geträumter Sätze springt blitzend dann und wann ein zauberisches Silberfischlein auf, dessen echten Sinn wir selbst nicht einmal erahnen mögen.

In den meisten Büchern, geschweige denn ästhetischen, fehlt der Geruch, Duft oder Gestank, des Lebens.

Das Kind verbrennt sich die Finger. Unschätzbare Gewalt des Eindrucks, belehrt zu werden über das dem Menschen abgewandte Wesen der Dinge.

Das fremde Geschlecht, seine Dunkelheit, sein verwirrender Atem, seine pflanzlich-mineralischen Unterwasserhöhlen, das Labyrinth seines Fühlens und Wollens – berückend-bedrückende Lockungen ins Unheimliche.

Das Leben erteilt Schläge, ja, aber welche Torheit, sich und andere aus mißverstandener Humanität vor ihren Lehren, den tiefsinnigsten, mittels der Polster und Kissen verzärtelter Pädagogik oder lebensmüder Lebensweisheit bewahren zu wollen.

Wir wissen, daß wir alle Feriengäste auf einer Insel oder zufällig zusammengewürfelte Bewohner eines Hotels sind, die sich auf unbestimmte Zeit an ihrer Gegenwart erfreuen oder ärgern, hier Küsse und Blumen, dort Flüche und giftige Blicke tauschen, und wenn eines Morgens der Platz uns gegenüber am Frühstückstisch leer bleibt, so wissen wir auch, daß einer für immer gegangen ist – doch wollen wir es nicht wahrhaben, auch wenn der Schatten der Abwesenheit wie eine kleine Lache auf dem weißen Tischtuch schwimmt, die üppige Rose wirft ihn, die wir soeben von einer zarten Hand gereicht bekamen.

Die Bewohnbarkeit der Welt rührt von der Intimität der Dinge, in die wir unser Dasein einweben. So erfuhr es der Knabe, der erstmals in einem Weidenkorb Kartoffeln aus dem Keller holte und sie gemeinsam mit der Großmutter wusch und schälte, es galt mit dem kleinen Messer, zärtlich Küchenpeterchen genannt, möglichst lange Schalen vorsichtig wegzuschneiden, wobei man sich vor stirnrunzelnder Aufmerksamkeit auf die Unterlippe biß.

Die Schellackplatten hat man warm mit dem Atem behaucht und mit dem Unterarm des frischen Sonntagshemds abgewischt. Die intimste Seelenlampe war die aquariumtrübgelb leuchtende Scheibe des alten Radios in seinem Eichengehäuse, auf der die fremdländischen Namen für sich und eine Märchenhöhle standen, für die wir kein Sesam öffne dich fanden, Prag, Krakau, Moskau, Paris, London, Stockholm, und die wir auf Langwelle weiter und weiter drehten, und wie aus auf und nieder schwappender Meerestiefe quollen quakende Klänge und gläsern-pfeifende Geräusche hervor.

Für Mutter war das intimste Ding die flackernde Kerze, denn sie flackerte wie ihre Seele, und der Wind, der sie flackern machte, war die Angst und die ins Unbestimmte gehende, ins Vage sich quälende Sehnsucht. Und jeden Augenblick konnte ein Windstoß sie löschen. Und jeden Augenblick konnte Windstille ihren Schein ins Überwirklich-Verzückte blähen und auflodern lassen.

Wir kennen das Leben mittels der Fühler unserer Sinne so, mit solcher Innigkeit und Nuanciertheit, wie ein Blinder all die Ecken und Kanten, die Unebenheiten und Risse, die er auf seinem tausendmal abgeschrittenen täglichen kleinen Weg mit der Spitze seines weißen Blindenstocks ertastet hat.

Das Reich der Sinne ist von den Dichtern, Malern und Musikern in seinen äußeren Provinzen umschritten worden, da und dort drangen sie wie Nomaden tiefer ein, doch haben sie das Zentrum, den Nabel der Welt, nicht durchquert, von den Philosophen aber wurde es nie vermessen.

Die geföhnte, gescheitelte, von der Gelatine der Eitelkeit schillernde Feuilletonsprache trägt ja nicht weit, was heißt schon „gewaltiger und tiefer Eindruck“, was da „melodisch, erhaben, rätselhaft, lebendig“? Nichts von alledem kann den sinnlichen Eindruck spiegeln, hervorrufen, beschwören.

In den verblaßten Metaphern der beschreibenden Gelehrsamkeit sinkt alles ins Triviale, in die öde Höhlung eines nicht mehr unterdrückbaren Gähnens zurück.

Die fühlenden Finger der Ästhetik bewahren sich nicht durch die Handschuhe eines begrifflichen oder ideologischen Systems vor dem wurmlöchrigen Schlamm und der eiwarmen Fäulnis der Erde, dem blubbernden Matsch der Vergänglichkeit, den scharfen, stechenden Eiszapfen des menschlichen Winters, entblößt und unmittelbar tunken sie in die Lache der Tränen, in das geschmolzene heiße Wachs der Wehmut, das kühle Wasser des immer fließenden Sinns, der an ihnen nur haftet wie rasch zergehende Blasen glitzernden Schaums.

Unsere Mitte bliebe matt und fahl, faul und stumm, würden wir nicht wie Baumgeäst plötzlich erregt vom Wind, uns zu schütteln, zu brausen, zu schwirren, daß einzelne schon blutlos gewordene Blätter und Schuppen abgerissen werden und zu Boden trudeln.

Gelobt seien Trauer, Verzagtheit und Verdruß, die falsche Blüten und hohle Sprossen, saftlos vor der Zeit geschwollen und gedunsen, mürbe machen und wie scheinschwanger geblähte Leiber in sich zusammensacken lassen.

Es ist mit der geschönten Sprache der anämischen Ästhetik und geschmackvoll-käuflichen Gelehrsamkeit wie mit der guten Stube, die wir als Besucher von Großvaters Kriegskameraden in einem kleinen Winzernest der Mosel (woher Großvater seine geliebten grünen Flaschen bezog) – alle Möbel waren wie Gespenster mit großen weißen Laken überkleidet, zum Schutz vor der Unbill des Alltags, und wurden nur zu hohem Besuch von der Hausfrau abgezogen, wie vorsichtig ließ man sich nieder! Doch die Metaphern und gespenstischen Bilder der geschönten Sprache verhängen die Dinge immerdar, werktags und feiertags.

Die tiefste Schicht des Lebens spricht aus den weit aufgerissenen, feuchten Augen der Menschen, dem abgerissenen Stöhnen, das aus der dunklen inneren Stummheit hervorbricht, wenn sie die Köpfe wie zur Monstranz, einer Epiphanie aus Wolken und Licht, zum Klang ihres Lieds, ihres Hymnus, der Parole ihres großen Kampfs um Sein oder Nichtsein erheben.

Das Lied, das mit dem Rauch des Bluts der Märtyrer und Heroen aufsteigt, Volkes Blut, von dem der Dichter getrunken, der es nicht aus Buchstaben, sondern aus lebenden atmenden Zellen gebaut hat, nur aufzuwiegen mit der Zahl gefrorener Tränen, die es zu schmelzen Feuer und Kraft hat.

Ja, mystisch ist die bloße, nackte, ungeschönte Erscheinung des Daseins und Lebens, aufgehende und sich verschließende Blüte, Tropfen, die wie Trommeln des Todes, des Kriegs, der Apokalypse auf das Blattwerk klatschen, das Glimmen der Augenschlitze einer Katze, die vorbeischleicht, und du weißt nicht, sah sie dich oder schaute sie durch dich, eine Nichtexistenz für das erdgeistdurchschauerte Tier, hindurch, die liebkosende Hand, die Hand der Geliebten oder die Hand des Winds, die dir durch das Haar streicht und dich deiner selbst enthebt zur Freiheit der Genüge, fraglos zu atmen, fraglos dich abzuwenden in das Reich der Schatten.

Die Tiere, die Eingang finden in das Reich der Dichtung, nicht in die Falle der Jagd oder den Käfig der Domestikation.

Begegnung und Abschied, Warten und Bewillkommnen, festlich-tänzerische Spannung und verödete Ausdruckserschlaffung, Rebenranken der Umarmung und Drahtverhaue der Einsamkeit, all solche und andere wesentliche Haltungen fließen aus der Quelle unseres leibhaftigen, sterblichen Daseins; wir hauchen ihnen Fülle, glänzend oder erblassend, Lebendigkeit und Dringlichkeit, glühend oder ermattend, ein mit dem Treib- und Triebstoff all der Affekte und Gestimmtheiten wie Hoffnung und Verzweiflung, Langen und Bangen, Lust und Trauer – den ewigen Topoi und Motiven der Dichtung.

Kein Herz tönt dichterisch ohne die Gewalt der Einströmung aus der mythischen Imago einer Pupurfalte des fernen, versinkenden Horizonts, sei sie betautes Rosenblatt wie sapphischer Mund oder dämonisch zerkratzt und blutig wie die Schläfe Trakls.

Heiterkeit, das seltene Glück des Genius, webt in der gelichteten Sprache, gelichtet von innen, dem aus dem Labyrinth der Seele aufsteigenden Mond, und wie dieser glüht sie voll nur in den leise wogenden Schilfen einer einzigen Nacht.

Das Äußerste zart sagen, leise, Lippe an Lippe, nah, ohne noch anzurühren, Hauch, unter dem der Tropfen vom Blütenblatt gleitet.

Zuletzt bleibt nur das die Grenze zum Sagbaren überschritten hat, weiches wächsernes Glühen von Augen, die uns näher als wir selbst aus dem Dunkel flehen.

Ah, träumend blickten wir in den Spiegel!

Wer vermöchte denn die kaum bewußten Seufzer, die Interjektionen des Traums, die vokalen Schnipsel des Ächzens und Lechzens, die konsonantischen Krümel des Murrens und Schnurrens mit gleitend-sehenden Griffen und feensicher süß und voll gestrichenem Bogen auf der Geige unseres Gemütes zu einer großen Melodie zu verwinden, doppelgriffig zu paaren und in weiten Linien obertönig resonierenden Sinns zu verwinden, verdichten?

Denn nur wenn nichts verlorengeht von der Wahrheit der Seele, auch wenn sie wie Blut dunkel sickert an unsichtbaren Wurzeln, rinnt uns ihr Lied wie der Wein aus gnädig geneigten Krügen.

Wer füllte die Krüge? Wer gießt freudig lächelnd sie aus? Das Lied ist der Wein, Freude und Lächeln aber was uns zur Feier feierlich stimmt, der Dank.

Dank ist Antwort auf die Gnade, die als Schnee der hellen Nacht den Hirten unter den traumsicheren Schritten knirschte, deren Wehen die Osterglocken zittern machte, die hinsank im scheuen Erröten der Wolken in das ersterbenden Blau.

Heliotropismus der Liebe, der einzig die verschlossene unscheinbare Blume sich öffnet zum strahlenden oder weinenden Bekenntnis eigenen Daseins, eigener Schöne.

 

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