Die gefangene Nachtigall
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Der Name des Verstorbenen auf dem Grabstein ruft die Lebenden an. Doch wie einsam ist es nun um die Gräber.
Die gute Tat bleibt namenlos; je schrecklicher die Untat, je weiter gelangt der Name des Täters von Mund zu Mund, von Generation zu Generation.
Die scharfe Klinge des Sensenmannes wird oft von Mitmenschen geschliffen, die für nett und ehrenwert gelten.
Ohnmacht und Angst sind die würgendsten Knebel.
Die neueste Religion der Feigheit und Heuchelei fordert das Opfer auf, sich beim Täter zu entschuldigen.
Männer erwürgen Frauen mit hartem Griff in wenigen Minuten, Frauen ersticken Männer mit sanfter Hand über Jahre.
Wer, getroffen, geritzt, vergiftet von den Blicken, den Gesten, den Worten der anderen, stirbt schon eines natürlichen Todes?
Die gefangene und in den Käfig gesperrte Nachtigall singt nicht mehr.
Grausamer als die blutigen Träume der Macht sind die Rachephantasien der Ohnmacht.
Mehr als unter Schlamm und Frost, Regen und Schnee verwittert der Name der Inschrift durch die Gleichgültigkeit und Undankbarkeit der Kinder und Kindeskinder.
Gewiß, länger als die Tempel Roms und seine Kulte strahlte das erzene Bildnis des Horaz unter den Strahlen der hesperischen Sonne; doch die Esse des Stumpfsinns, in dem es eingeschmolzen wird, zischt und lodert schon.
Des Menschen Tat ist ein Blutstropfen auf dem grenzenlosen Vlies des Schnees.
Blut ist die geheime Währung der Kommunikation.
Augenförmig wächst die Rinde um die Wunde des Baums.
Auch die unter Seufzen eingedrückten Fußstapfen füllt bald ein frischer Schnee.
Wir haben kein Bild und keinen Begriff von den letzten Gründen und äußersten Dimensionen; so ist der Raum kein Behältnis, denn jede Kiste paßt in eine größere, so ist die Zeit kein Fluß, denn alles, was fließt, geschieht innerhalb eines Systems zeitlicher Erstreckung und Messung.
Wären die Bilder der Erinnerung gemalten Porträts ähnlich, wüßten wir nicht, woran wir uns erinnern, denn wir verfügen über kein Kriterium ihrer Ähnlichkeit mit den vergangenen Ereignissen.
Wurden wir wohl deshalb kein Teil der orientalischen Welt, weil Augustus, im Gegensatz zu Caesar und Marcus Antonius, die strenge Nase der Kleopatra mißfiel?
Dichter, Heilige, Narren, die ihr Leben verdunkeln, um die leuchtende Aura eines Bildes, eines Idols umso strahlender zu erblicken.
Wie einen Traumwandler lockt die zauberische Melodie des dunklen Geigers den Verführten an den Rand der Klippe – dann bricht sie ab.
Die Juden sind das geschichtliche Volk par excellence, sehen sie sich doch im Kontinuum von der Erschaffung der Welt bis zu ihrem Untergang als Mitte und Mittler allen Sinns, von der Verfluchung Adams bis zur Segnung Jakobs als Hörer des göttlichen Worts. – Indes, der einzige Geschichtsschreiber, den sie hervorgebracht haben, Flavius Josephus, gilt ihren Frommen als Verräter.
Man muß sich die Königsdramen Shakespeares durch die Annalen des Tacitus erschließen und umgekehrt; Lüge, Komplott und Intrige, Verfolgungswahn, Perversion und Blutschande, sie gedeihen in der stickigen Luft des Palastes und den dämmernden Fluren des Schlosses. Alb, Nachtmahr und gespenstische Flügel, sie lassen sich im Schein der goldenen Ampeln und beim süßen Klang der Laute auf samtenen Pfühlen nieder.
Segen können anders wir nicht verstehen und wahrnehmen als in der Frucht des Feldes und des Schoßes, anders nicht sehen als in wogenden Ähren und lächelnden Augen, anders nicht entbehren als in Dürre und Mißwuchs. – Der Segen, der auf dem dichterischen Wort ruht, hat seine eigene Frucht, der Fluch, der auf ihm lastet, seine eigene Dürre.
Gewiß, steckt man einen in den Käfig, und sei es der Geister edelsten, wird er bald die Zähne fletschen und fauchen, bald hündisch kriechen und jaulen.
Doch versetzt man einen bösartigen Schurken oder einen räudigen Hundsfott in ein noch so harmonisches Idyll, in ein noch so nobles Ambiente, wird er nicht anfangen, Laute zu spielen und Reime zu singen, oder dem Gast auf Augenhöhe begegnen.
Verzweifelt ist, wem das Leben zur Krankheit ward, ohne den Wunsch zu verspüren, an seinem Ende dem Äskulap zu opfern.
Der Sturm in Shakespeares König Lear ist das wahre Symbol für die Qual eines hohen Geistes, dessen Fetzen von den schwarzen Flügeln der Schmach und der Niedertracht in die sternlose Nacht gewirbelt werden.
Dem Schwermütigen werden die Gestirne der Nacht zu Gottes Tränen.
Der Mörder träumt paradiesische Träume, während unter seinem Bett die Leiche verfault.
Der Philosoph, der die Reinlichkeit lauteren Denkens pries und die goldenen Tropfen des Lichts in der Lagune der venezianischen Nacht, beschmierte die Wände der Irrenhauszelle mit dem eigenen Kot.
Wenn man das Geschwür der Phrase aufsticht, beginnt es zu stinken.
Der Irre führt den Blinden– so bezeichnet Shakespeare die Krankheit der Zeit – an den Rand der Klippe.
Der dem Menschlichen entfremdete Dichter hört zwischen all dem Gerede immer nur die Wogen des Meeres rauschen, sieht zwischen allen Zeilen den Sand der wachsenden Wüste rieseln.
Der alte Baum der Sprache, er mag noch so verkrüppelt sein, er mag keine Früchte mehr abwerfen, bietet dem müden Dichter noch einen schmalen Schatten dankbaren Verweilens.
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