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Diarium philosophicum I

23.12.2022


hilosophische Sentenzen und Aphorismen

Was versteht der Blindgeborene, der ein gutes Deutsch gelernt hat, wenn du sagst: „Ah, dort über dem bewaldeten Hügel steht der Vollmond.“?

Das Kleinkind hat schon die sprachliche Stufe erreicht, auf der es Komparative wie „wärmer“, „schwerer“ oder „schöner“ verstehen oder anwenden kann; dann sagt es aber statt „besser“ „guter“ – ein solcher und andere Fehler sind ein Indikator für die Tatsache, daß eine strukturelle Komponente der grammatischen Struktur aktiviert ist.

Unsere Fähigkeit, bestimmte Fehler zu machen, zum Bespiel Rechenfehler oder grammatische Patzer, dokumentiert bisweilen einen mehr oder weniger hohen Grad von Intelligenz.

Die Einwortsätze des Kleinkindes sind keine Interjektionen, sondern der Ausdruck eines Gedankens, wie der Einwortsatz „Mama“ die Bedeutung haben kann: „Hier ist sie ja, die Mama!“ oder „Es wäre schön, wenn Mama da wäre!“

Was wir Willensfreiheit nennen, zeigt sich in der grammatischen Möglichkeit zur Bildung von irrealen Bedingungssätzen: „Hätte ich nicht so lange getrödelt, wäre mir der Bus nicht vor der Nase weggefahren.“

Denken heißt nicht bloß, an etwas denken; wenn ich an den verreisten Freund denke, impliziert dies ja den Gedanken, daß er verreist ist.

Denken heißt ebensowenig, einen wahren Gedanken haben; denke ich an den verreisten Freund, könnte es sich herausstellen, daß er in diesem Moment schon wieder nach Hause zurückgekehrt ist.

Nehmen wir also an, denken heiße, an einen möglichen Sachverhalt denken, wie an den Freund, von dem ich annehme, er sei verreist, obwohl er schon wieder zurückgekehrt ist.

Könnte indes der verreiste Freund nicht gleichsam einen Doppelgänger losschicken, der „statt seiner“ die Heimreise angetreten hat.

Wir zweifeln, ob wir Freund Peter I, der noch in London weilt, in seinem Doppelgänger Peter II, der an unserer Tür geklingelt hat, ansprechen sollen und identifizieren können.

Im Unterschied zum Kleinkind vermischen wir nicht den realen mit dem fiktiven Namen, nicht den Wolf im Tiergehege mit seinem fiktiven Doppelgänger namens Isegrim aus dem Märchen.

Die Semantik des Namens „Gott“ ist noch nicht geschrieben.

Würde der von Geburt Blinde, der die Blindenschrift erlernt und die Gedichte Eichendorffs und Brentanos gelesen hat, wenn er durch ein Wunder in der Nacht seine Sehkraft erlangte und den Schein des Mondes im Fenster gewahrte, ausrufen können: „Ah, das ist also der von den Dichtern vielbesungene und von den Hunden vielbejaulte Mond!“?

Es ist eleganter Unsinn zu behaupten, „luna“ oder „la lune“ oder „the moon“ bedeute „der Mond“, während die schlichte, aber schwer zu fassende Wahrheit in der Aussage ausgedrückt wird: „luna“, „la lune“, „the moon“ und „der Mond“ bedeuten den Mond oder den einzigen planetarischen Trabanten der Erde.

Hermeneutische Frömmler und Sinnpietisten, die das Wort zwar nicht wie ehedem die Schriftgläubigen ins Kloster, aber dafür in die labyrinthischen Verliese der Texte und Texte über Texte, der Bücher und Bücher über Bücher stecken, aus dem es bei Strafe des Sinnverlustes kein Entrinnen geben könne.

Sie schwätzen nach, was der Herr Papa (der Lehrer, der Priester, der Doktorvater) schon immer gesagt hat, um sich als würdig zu erweisen, seinen Posten zu übernehmen. Oder sie widersprechen dem alten Herrn in einem fort auf schnoddrige und impertinente Weise, um sich pubertär aufzuspreizen und trotzig sich in jene Büsche zu schlagen, vor deren Dunkel der senile Angsthase stets gewarnt hat. – Aber im Dickicht wird ihnen nicht bange, denn hier warten schon jene Brüder der Horde, von der Doktor Freud nicht zu unrecht viel Aufhebens gemacht hat; der Horde, die die alte Elite um den realen oder symbolischen Kopf kürzer zu machen gedenkt.

Abertausende in abertausend Generationen müssen den Mond gesehen und gesagt haben „Dort geht der Mond auf“, damit endlich der Astronom mit der Feststellung aufwarten kann: „Der Mond ist der einzige planetarische Trabant der Erde.“

Daraus folgt: Die Subjektivität des Wahrnehmungsurteils, die durch den deiktischen Ausdruck „dort“ angezeigt wird, ist die Voraussetzung der objektiven kosmologisch-physikalischen Aussage.

Nur Organismen mit spezifischen sensorischen Fähigkeiten kommen zu Aussagen wie „Das fühlt sich rauh an“, „Der Ton ist schrill“, „Das Bier schmeckt fade“, „Da geht der Mond auf“. Das verhindert nicht, nein, ist sogar die Voraussetzung dafür, daß dieselben Organismen Wissenschaft treiben, womit sie ihren subjektiven Wahrnehmungen einen objektiven Gehalt verschaffen.

Aber verschafft uns der objektive Gehalt von Begriffen wie Mond, Stern, H2O und Aussagen wie der Pythagoräische Lehrsatz den Ruhm, den Horaz beanspruchte, weil seine Stirn das Funkeln der ewigen Sternbilder gestreift habe?

„Dem halb Ertaubten klingt der Ton, der dir schrill vorkommt, aber weniger schrill, ja sanft.“ – Nun gut; doch hat er noch eine auditive Wahrnehmung, die er entsprechend qualifizieren mag.

Die Rose duftet, „Rose“ nicht.

Seine Musik hat sich auf den Klang des Namens Mozart wie durch einen seltsamen magischen Zauber übertragen.

Herr Grieskram könnte sich eine solche magische Aufladung seines Namens durch noch so große Liebenswürdigkeit und Zuvorkommenheit wohl kaum erwerben.

Das Muster der Tapete, das man im Katalog besieht, sieht der Tapete zum Verwechseln ähnlich. Ja, es ist öfters ein Stück derselben Tapete, die man schließlich käuflich erwirbt und zu Hause an die Wand klebt. Wir werden aufgefordert, einen Probeschluck des delikaten Weins zu wagen, und was wir schmecken, unterscheidet sich in keiner Weise von dem uns kredenzenten vollen Becher, Das Musterhaus ist so, wie das Haus, das man erwerben kann, nur daß hier keiner wohnt.

Das Schema der Sonate, der Fuge, des Sonetts, der Terzine ist keine Sonate, keine Fuge, kein Sonett und keine Terzine. Freilich ähnelt das Schema der Sonate der echten von Schubert im Aspekt einer spezifischen Projektion ihres formalen Aufbaus.

Der Name Berlin bedeutet nichts, es sei denn wir verwenden ihn in Sätzen wie „Berlin liegt an der Spree.“ Und nur ein solcher Satz beglückt uns mit einem sinnvollen Gedanken.

Daraus folgt die semantische Sigularität unserer Art, sprachlich in der Welt zu hausen: Nur mittels grammatisch korrekt geformter Sätze öffnet die Aussage ihr Negligé, zumindest soweit, um das Schimmern ihres köstlichen Inkarnats zu erhaschen.

Der deutsche Idealismus ist eine hybride Scheinfrucht aus der Vermischung der echten und trivialen Verwendung von Begriffen wie „Ich“, „Bewußtsein“ und „Geist“ und ihrer mystifikatorischen in Schein-Aussagen wie „ich ist Ich“ oder „Im menschlichen Bewußtsein kommt der Weltgeist zu sich selbst.“

Man kann nicht alles nach derselben Methode behandeln, wie der Quacksalber Hegel meinte.

Man kann natürlich ein Grafikprogramm entwerfen, mit dem sich eine topographische Karte erzeugen läßt, auf der der Name „Berlin“ neben einem Symbol für Großstadt und der Name „Spree“ neben einem Symbol für Fluß steht; aber für das Programm hat der Satz „Berlin liegt an der Spree“ keine Bedeutung.

Welchen Reichtum an Typologien des weiblichen Geschlechts enthüllt uns der antike Mythos: Nymphe, Dryade, Sirene, Megäre, Mänade, Moira, Muse, Bacchantin, Sylphe, um nur diese zu nennen, oder welchen Reichtum an weiblichen Charakteren die Epen und Dramen, Penelope und Helena, Antigone und Klytämnestra, Elektra, Andromache, Ariadne … Das Ergebnis der urbanen Zivilisierung und Emanzipation des weiblichen Geschlechts ist seine Verflachung, Banalisierung, Entzauberung.

Zu den letzten Kennern der archaischen und mythischen Dimension des weiblichen Geschlechts zählen Baudelaire, Hugo von Hofmannsthal, Knut Hamsun und Friedrich Georg Jünger.

Der gelehrte Mann, das Idol der Aufklärung, ist kurzsichtig, rachitisch, ohne feineren Geschmack für Nuancen, abgedichtet im Verlies der Bibliotheken sowohl vom Blumenhauch wie vom Sturmwind des Lebens. Was soll man über gelehrte Frauen sagen …

Die Katze Baudelaires, die Sylphe Mallarmés und die fade Sinnlichkeit einer Madame Bovary.

Dummheit muß man sich erst leisten können, als Studienrat oder Feuilletonchef beispielsweise, denn sie zeugt vom Mangel und einer Verkümmerung des Instinkts, der in der Wildform des Daseins den stumpfen, vom Knäckebrot der Moral genährten Magersinn, der die Gefahr nicht erkennt, schon vor dem Schatten eines Schattens zurückschrecken läßt, angesichts der Herrscher der Straße, den neuen Nomaden und ihrem keifenden Anhang mit devoten Verbeugungen scharwenzelt und zurückweicht, um in den nächstbesten Gully zu stürzen.

Nicht einmal das jeden scharfen männlichen Syllogismus schlagende Argumentum ad hominem der Frauen, Tränen, lassen sie mehr gelten.

Die Liebesgedichte, die nach der großen Zeitenwende durch die Entdeckung der Alterität und Willkür der sexuellen Zuschreibungen geschrieben werden, wissen sich keinen Reim mehr auf das zu machen, was die großen Dichter der Vergangenheit als Passion und Verhängnis, Treue und Verrat, Faszination und Steigerung aus dem bipolaren Dunkel ans Licht ihrer Sonette und Elegien gehoben haben.

Der elegante Unsinn, dem ganze Generationen zum Opfer gefallen sind, drückt sich in Scheinsätzen aus wie: „Alles ist Interpretation.“ Wie wäre aber dieser Satz zu interpretieren? Nun, er müßte eine Wahrheit zutage fördern, die selbst keiner Interpretation mehr unterläge – und auf diese Weise sich selbst ad absurdum führen.

„Achtung!“, „Vorsicht!“, „Geh zurück!“ sind Ausrufe, die in der entsprechenden Situation von Bedrohung und Gefahr geäußert unmittelbar verständlich sind. Natürlich deuten sie wiederum auf eine propositionale Wahrheit, die sich in Sätzen darstellen läßt wie: „Von links rast ein Auto heran“, „Hier ist eine steile Stufe“ oder „Das ist kein Weg, sondern ein Holzweg.“

Daß objektive Wahrheiten wie die Wahrheit, daß Berlin an der Spree liegt, ihre Relevanz allererst gewinnen, wenn sie in subjektiven Kontexten Verwendung finden, mindert ihre Objektivität nicht im geringsten.

Als Titanenrufe gehandelte Sätze der Philosophie wie „Alles fließt“, „Alle Menschen streben nach Glück“, „Homo homini lupus“ „Gott ist tot“ – wie verflacht, ausgehöhlt und schäbig werden sie alle infolge ihrer Verramschung auf dem Markt der Meinungen.

Widerlegt mittels Zitierung. – Am gründlichsten widerlegt scheint, was am häufigsten zitiert wird.

Der Hase rettet sich vor dem Rachen des Wolfs, indem er einen großen Hymnus auf seinen Erzfeind anstimmt, sich in immer phantastischere Beschwörungen seiner Schönheit, Weisheit und Güte steigert, sodaß Isegrim zunächst aufs höchste geschmeichelt die Pfoten kreuzt und in seiner Eitelkeit gekitzelt den Schweif behaglich hin- und herwiegt, dann aber von der unversieglichen Lobpreisung seiner Tugenden zwar bis zu Tränen gerührt, aber auch gelangweilt und ermüdet wird, schließlich zu gähnen beginnt und träumerisch-versonnen das Haupt senkt und einschläft.

 

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